Gedenken am 9. November: Wo wir Deutschen herkommen
Die Deutschen sind Weltmeister im Gedenken. Das ist gut so, denn die Vergangenheit ist aktueller denn je. Eine Betrachtung.
Sage mir, woher du kommst, und ich sage dir, wer du bist. Die Deutschen schauen gerne zurück. Sie haben es lange nicht getan, zu lange, der Nationalsozialismus, die Schuld, die Scham hielten sie davon ab. Aber längst sind das Schweigen und die Verdrängung einer äußerst lebendigen Geschichtspolitik gewichen. Viele Länder beneiden uns um unsere Erinnerungskultur, um all die Historiker-, Holocaust- und Ost-West-Debatten. Die Verantwortung für die Vergangenheit ist selbstverständlich geworden. Sie ist Teil der deutschen Identität im 21. Jahrhundert, Teil auch der Identität als Einwanderungsland: Auch die Migranten sollen wissen, welchen historischen Boden sie unter den Füßen haben.
Zunächst liegt es an der Wachheit dieses Gedenkens, dass der Dreifach-Geburtstag an diesem 9. November – 100 Jahre Revolution plus Weltkriegsende, 80 Jahre Reichspogromnacht, 29 Jahre Mauerfall – den Terminkalender bestimmt. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier wird binnen weniger Stunden gleich dreimal öffentlich über 1938 und die brennenden Synagogen sprechen, den Vorschein der Shoah. Mehr als 250 Veranstaltungen sind alleine in Berlin wiederum zum Weltkriegs- und Republik-Jubiläum annonciert. Am Sonntag treffen sich zum Friedensgipfel in Paris 60 Staats- und Regierungschefs. Wahnsinn, möchte man rufen.
Geschichte ist nicht vergangen
Wir Deutschen sind Weltmeister im Gedenken, das weckt auch Unbehagen. Wir übertreiben es manchmal mit der Geschichtsversessenheit. Aus gutem Grund: um nicht nur die NS-Verbrechen zu sühnen, sondern auch das Schweigen darüber. Das Mahnen ist eine Pflichtveranstaltung, ein Ritual. Neue Erkenntnisse werden sich wohl kaum noch einstellen.
Mal ehrlich, nervt das nicht manchmal? Ja, und eben das ist gut. Wenn AfD-Rechtsaußen Björn Höcke das Holocaust-Mahnmal als „Denkmal der Schande im Herzen der Hauptstadt“ bezeichnet, wenn Alexander Gauland die NS-Zeit zum „Vogelschiss“ verharmlost, irren sie. Denn die Geschichte ist nicht vergangen, weniger denn je. Sie ist kein Ruhekissen, deshalb nervt sie, es geht gar nicht anders.
1918, 1938, 1989 – die Jahreszahlen enthalten erstaunlich viel Gegenwart. Die Mauer ist schon länger gefallen, als sie je stand, trotzdem ist die Ost-West-Spannung nicht passé. Aktuell wird über den Rechtsruck im Osten diskutiert. Darüber, wie künftig mit den Akten der Stasi-Behörde verfahren werden soll. Und wie viele Mauertote gab es denn nun genau? Zahlen, Fakten, wenigstens darauf wollen wir uns verlassen können.
100 Jahre Demokratie
Auch den Antisemitismus, der die Reichspogromnacht erst möglich machte, gibt es immer wieder neu. Bei gewählten deutschen Politikern, auf deutschen Schulhöfen, in Pittsburgh.
Und die Demokratie, die nun 100 Jahre alt wird? Sie mag zwar über viele Friedensjahrzehnte gefestigt sein, aber sie erodiert. In den Nachbarländern, überall in der Welt, auch in Deutschland steigt die Zahl der Demokratie-Verdrossenen. Die Lehre der Weimarer Republik ist eine doppelte. Demokratie kann von den Bürgern erstritten werden, aber sie ist nie gesichert, sie will verteidigt sein. Wobei die Vergleicheritis Gefahren birgt, wenn sie nicht auch die Unterschiede im Blick behält. „Der Teufel geht nicht zweimal durch dieselbe Tür“, sagt der ehemalige Bundesverfassungsrichter Udo Di Fabio, der ein Buch über die Weimarer Verfassung geschrieben hat.
Ängste als Antrieb
Die Zukunft weckt Ängste, vom Klima über die Globalisierung bis zum internationalen Terror. Spätestens seit der Wald zu sterben drohte, ist die westliche Gesellschaft nicht mehr uneingeschränkt fortschrittsgläubig – auch wenn es dem Wald längst wieder gut geht. Wegen der Ängste vergewissern wir uns gerne der Vergangenheit. Auf festem Boden nach vorne schreiten, es ist ein schönes Sehnsuchtsbild. Deshalb die Liebe zur Altstadt, deshalb bauen wir das Schloss im Zentrum Berlins wieder auf, deshalb verteidigen wir die Nachkriegsarchitektur. Bitte nichts abreißen.
Gerade hat die Weimarer Republik Konjunktur, von „Babylon Berlin“ bis zu den Künstlerinnen und Künstlern der Novembergruppe. Was auch daran liegt, dass die Weimarer Zeit die Gegenwart weit mehr prägt als nur in politischer Hinsicht. 100 Jahre Frauenwahlrecht, 100 Jahre Bauhaus, die Erfindung der modernen Infrastruktur vom öffentlichen Nahverkehr bis zur Autobahn, die moderne Kunst, die Urbanisierung der Gesellschaft, damals fing das alles irgendwie an. Dass Frauen Hosen tragen, dass die U-Bahn im Minutentakt fährt, dass wir klare Linien als schön empfinden. Demokratie ist machbar – und sie ist wunderbar konkret.
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