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Schwarze Macht: Der „Islamische Staat“ verbreitet nach wie vor Angst und Schrecken.
© REUTERS

Islamistischer Terror in Nahost: Wo ist der IS noch stark?

Im irakischen Mossul besiegt, im syrischen Rakka kurz vor der Niederlage – der „Islamische Staat“ ist in seinem Kerngebiet auf dem Rückzug. Aber die Terrormiliz ist in anderen Ländern erstarkt.

Es ist gerade mal drei Jahre her, da brüstete sich die Terrormiliz IS damit, einen „Islamischen Staat“ geschaffen zu haben. Ein Gebiet, in dem für Muslime angeblich das Paradies auf Erden herrsche. Aber die „Gotteskrieger“ gründeten ihre Kontrolle über Millionen Menschen auf brutaler Unterdrückung und Ausbeutung. Erst als sich mehrere Gegner des IS zusammenschlossen, gerieten die Dschihadisten militärisch in Bedrängnis. Mittlerweile mag das ausgerufene „Kalifat“ als zusammenhängendes Territorium gescheitert sein. Dennoch ist der „Islamische Staat“ noch lange nicht Geschichte. Von einem Ende des Terrors kann keine Rede sein. Längst haben sich die Fundamentalisten in anderen Ländern des Nahen und Mittleren Ostens eingenistet. Afghanistan, Jemen, Iran – immer wieder gibt es verheerende Anschläge gegen „Ungläubige“.

Zwar gerät die Terrormiliz „Islamischer Staat“ gerät nicht nur in ihrem Kerngebiet in Syrien und Irak unter Druck. Nach Recherchen des Tagesspiegels hat sie auch in Libyen, Tunesien, Algerien und Mali an Boden verloren – erstarkt dafür aber andernorts, vor allem in Nigeria und dem afghanisch-pakistanischen Grenzgebiet.

In der von einer Allianz unter Führung kurdischer Einheiten attackierten nordsyrischen Stadt Rakka halten noch etwa 2.000 IS-Kämpfer aus. Unter ihnen befinden sich Dschihadisten aus Deutschland. In Syrien und Irak zusammen verfügt der IS noch über ungefähr 10.000 Kämpfer. Etwa 40 Prozent sind Ausländer, darunter schätzungsweise 300 Salafisten aus der Bundesrepublik. Eine größere Rückreisewelle in Richtung Deutschland gibt es bislang nicht.

In Libyen zählt der IS 500 bis 1.000 Kämpfer. Etwa 30 sind in Tunesien aktiv, in Algerien sind es um die 50 und in Mali 50 bis 80. Wesentlicher Grund für die Schwäche sind die Schläge von Sicherheitskräften, aber auch die Attacken islamistischer Rivalen wie der Vereinigung „Al Qaida im islamischen Maghreb“.

Die stärkste Bastion des IS jenseits von Syrien und Irak ist nunmehr eine Gruppierung mit 3.000 bis 4.000 Kämpfern im Norden Nigerias. Die Dschihadisten hatten sich von der Terrororganisation Boko Haram getrennt. In Ägypten, vor allem auf der Halbinsel Sinai, sind ungefähr 500 bis 1.000 Anhänger des IS aktiv.

Die zweitgrößte Filiale der Terrormiliz befindet sich nun im Grenzgebiet von Afghanistan zu Pakistan. Etwa 1.500 Kämpfer bekennen sich dort zum IS. Ein Teil der Dschihadisten war ursprünglich bei den pakistanischen Taliban aktiv. Die afghanischen Taliban setzen den IS allerdings massiv unter Druck. Dennoch haben IS-Terroristen auch außerhalb ihres Kerngebiets im Osten Afghanistans spektakuläre Anschläge verübt. Ein Überblick:

NIGERIA

In dem afrikanischen Land hat der IS jenseits von Syrien und Irak seine stärkste Truppe. Etwa 3000 bis 4000 Kämpfer bekennen sich dort zur Terrormiliz. Die Dschihadisten zählten vorher zu Boko Haram, einer als besonders grausam bekannten Organisation militanter Islamisten. Die IS-Filiale agiert in einem Gebiet südwestlich vom Tschadsee, verfügt allerdings nicht über schwere Waffen. Grund für die Abspaltung von Boko Haram waren heftige Konflikte mit dessen Anführer Abubakar Shekau.

LIBYEN

Vor knapp einem Jahr verkündete Martin Kobler eine erfreuliche Nachricht. Der IS werde in Libyen bald über kein zusammenhängendes Territorium mehr verfügen, sagte der damalige UNSondergesandte. Libysche Einheiten hätten im Kampf gegen die Terrorbande beeindruckende Fortschritte gemacht. Kobler sollte recht behalten. Kurze Zeit später verloren die „Gotteskrieger“ die Kontrolle über die Küstenstadt Sirte, ihre wichtigste Hochburg in Nordafrika. Gut anderthalb Jahre zuvor hatten sie dort ein brutales Regime errichtet. Am Mittelmeerstrand wurden Menschen enthauptet, in PropagandaVideos drohten Kämpfer in martialischer Pose, sie würden Europa erobern. Mit der Niederlage von Sirte hat der IS viel Einfluss verloren. Er hat noch 500 bis 1000 Kämpfer in Libyen, verstreut über das ganze Land.

ÄGYPTEN/SINAI

Auch wenn es Staatschef Abdel Fattah al Sisi nicht gerne hört: Ägypten hat ein massives Terrorproblem. Das zeigt sich vor allem auf dem Sinai. Die Halbinsel ist militärisches Sperrgebiet, der Ausnahmezustand wird immer wieder verlängert. Die Armee bekommt den dortigen IS-Ableger, der 500 bis 1000 Kämpfer zählt, nur schwer in den Griff. Die Islamisten stehen allerdings auch unter Druck, weil sie sich mit den regionalen Stämmen angelegt haben. Seit dem Sturz von Diktator Hosni Mubarak ist der Sinai eine Unruheregion. Anschläge auf Polizeistationen und Armeeeinheiten sind keine Seltenheit. Die Extremisten versuchen darüber hinaus, ihren Radius auszuweiten. So werden auch Touristen und insbesondere koptische Christen zu Opfern des Terrors. Der verheerende Anschlag auf einen russischen Ferienflieger Ende 2015 geht wohl ebenfalls auf das Konto des IS-Ablegers. Dennoch gelingt es der Terrorgruppe bisher nicht, im ägyptischen Kernland Strukturen aufzubauen.

SYRIEN

Rakka, von den Fanatikern zur „Hauptstadt“ ihres Reichs erklärt, dürfte in einigen Monaten befreit sein. Ein von kurdischen Einheiten geführtes Bündnis hat einen Teil der nordsyrischen Stadt zurückerobert. Nach Schätzungen des USBeauftragten für die Anti-IS-Koalition, Brett McGurk, harren 2000 Mitglieder der Miliz dort aus, darunter Fanatiker aus Deutschland mit ihren Ehefrauen. Die Dschihadisten kämpfen ums Überleben. So geht es ihnen in ganz Syrien, wo wohl noch bis zu 8000 Kämpfer aktiv sind. Doch auch wenn von der einstigen Schlagkraft nicht mehr viel geblieben ist: Der IS ist längst nicht aus dem Land vertrieben. Das Gouvernement Deir ez Zor etwa, an der Grenze zum Irak, ist weitgehend in der Hand der Islamisten. Sie verfügen über genug Ressourcen, um Anschläge zu verüben.

IRAK

Der Verlust seiner Bastion Mossul ist für den IS ein herber Rückschlag. Die Millionenstadt war nicht nur Einnahmequelle und militärische Basis, dort wurde auch als Machtdemonstration Ende Juni 2014 das „Kalifat“ ausgerufen. Doch Teile des Iraks sind nach wie vor in der Hand der sunnitischen Fundamentalisten. Vor allem in der Wüstenprovinz Anbar, an der Grenze zu Syrien, ist der IS noch präsent, trotz des Verlusts der Städte Ramadi und Falludscha. Außerdem gibt es im ganzen Land Terrorzellen. Nahezu jeden Tag sprengen sich Selbstmordattentäter in die Luft, oft sind Schiiten das Ziel der Gewalt. Der IS versucht, sich die Spannungen zwischen den muslimischen Glaubensrichtungen zunutze zu machen.

JEMEN

Krieg, Not und Verzweiflung: Davon gibt es im Jemen reichlich. Und auf diesem Nährboden gedeiht Terrorismus. Das Armenhaus der arabischen Welt versinkt durch einen blutigen Bürgerkrieg – in dem mittlerweile regionale Großmächte wie der Iran und Saudi-Arabien mitmischen – mehr und mehr in Anarchie. Dieses Machtvakuum haben sich die militanten Eiferer längst zunutze gemacht. „Al Qaida auf der Arabischen Halbinsel“ gehört zu diesen Profiteuren. Seit Jahren haben sich die Islamisten im Land festgesetzt und kontrollieren ein größeres Territorium. Außerdem gilt die Gruppe als eine der gefährlichsten Filialen des Terrornetzwerkes. Viele Anschläge gehen auf ihr Konto. Doch der IS hat sich ebenfalls in Stellung gebracht und macht mit Attentaten auf sich aufmerksam. Die Rivalität zwischen den sunnitischen Extremisten könnte für die Jemeniten schreckliche Folgen haben: Al Qaida und der IS werden womöglich versuchen, sich in ihrer Brutalität zu überbieten.

IRAN

Ein Terroranschlag mitten in Teheran – das war immer eine Horrorvorstellung für das Mullah-Regime. Anfang Juni wurde sie Realität. Bei koordinierten Angriffen auf das Parlamentsgebäude und das Mausoleum von Staatsoberhaupt Ajatollah Chomeini kam ein Dutzend Menschen ums Leben. Es war aus Sicht der sunnitischen Kämpfer ein erfolgreicher Anschlag im Herzen des Feindeslandes – und für den Iran als schiitischer Schutzmacht ein Schock. Organisatorische Strukturen des IS sind im Iran jedoch nicht erkennbar.

AFGHANISTAN

Die Regierung in Kabul ist alarmiert. Die Zahl ausländischer Kämpfer steige, sagte jüngst ein Sprecher des Verteidigungsministeriums. Gemeint ist nicht nur die Unterstützung für die radikal-islamischen Taliban. Sondern auch der Zulauf für die in Afghanistan sowie Pakistan aktiven Einheiten des IS. In der Region verfügen die Terroristen schätzungsweise über 1500 Kämpfer. Schwerpunkt sind die ostafghanischen Provinzen Nangarhar, Kunar und Nuristan. Aber auch in anderen Gegenden werden Anschläge verübt. Im vergangenen Jahr waren es ungefähr 20, dieses Jahr bereits ein Dutzend. Der „Islamische Staat“ wird allerdings von den Taliban bekämpft, heftiger noch als von den oft überforderten afghanischen Sicherheitskräften.

Christian Böhme, Frank Jansen

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