Ruprecht Polenz über Angela Merkel: „Wir werden diese Frau noch sehr vermissen“
Soll die CDU den Bruch mit Merkels Politik wagen, wenn sie den Parteichef wählt? Oder ist Kontinuität wichtig? Ein Gespräch mit Polenz über die Kandidaten.
Ruprecht Polenz (73) war im Jahr 2000 unter CDU-Chefin Angela Merkel kurzzeitig CDU-Generalsekretär. Dem Bundestag gehörte er als Abgeordneter fast 20 Jahre lange an (1994 bis 2013). Der Jurist aus Münster machte sich im Parlament als Außenpolitiker einen Namen, er war Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses.
Herr Polenz, gibt es in der CDU einen glühenderen Merkelianer als Sie es sind?
Ich weiß nicht, ob ich mich als „glühenden Merkelianer“ bezeichnen würde. Aber richtig ist, dass ich Frau Merkel für ihre Leistung als Kanzlerin und Parteivorsitzende sehr schätze. Das gilt auch für ihre Entscheidung im Jahr 2015, die Grenzen vor den Flüchtlingen nicht zuzumachen. Der Fehler, das hat sie ja selbst eingeräumt, war vorher gemacht worden. Die Bundesregierung hätte sich viel früher für eine europäische Asylpolitik einsetzen müssen.
Sie sind im Ruhestand. Was treibt Sie dazu, auf Twitter unentwegt für Merkel Partei zu ergreifen?
Politische Willensbildung findet auch in den sozialen Medien statt. Da will ich für die richtige Politik werben. Und mich ärgert die unfaire, im Ton teilweise unerträgliche Kritik an Merkel, die gelegentlich auch aus unserer eigenen Partei kommt.
An wen denken Sie da in der CDU?
Schauen Sie sich einmal an, was die so genannte Werteunion im Netz verbreitet: Merkel muss weg! Das sind Botschaften, die man sonst vor allem bei Pegida-Demonstrationen hört.
Was wird von der Kanzlerin in den Geschichtsbüchern bleiben?
Vor allem, dass sie für eine lange Phase des wirtschaftlichen Wachstums gesorgt hat…
Hat für die gute Lage der deutschen Wirtschaft nicht vor allem die Agenda-Politik des SPD-Kanzlers Gerhard Schröder gesorgt?
Richtig. Aber die SPD hat sich von ihrer eigenen Politik längst verabschiedet. Nur weil die Union dieses Erbe gegen die Sozialdemokraten verteidigt hat, konnte es weiter seine segensreiche Wirkung entfalten.
Hintergrund zum Kampf um die CDU-Spitze:
- Die Frage zum Rechtsradikalismus: Ein Wort, das Friedrich Merz alles kosten kann
- Polit-Chaos in Thüringen: Die Dekonstruktion der CDU hat begonnen
- Kampf um den CDU-Parteivorsitz: Wie gut sind die Chancen der Kandidaten?
Und was wird einmal über die Entscheidung Merkels im Jahr 2015 in den Geschichtsbüchern stehen?
Mit größerem Abstand wird immer deutlicher werden, dass die Erfolge überwiegen und Deutschland profitiert. Die Integration der Flüchtlinge in den Arbeitsmarkt funktioniert immer besser. Und weil viele der Flüchtlinge aus Syrien sehr jung sind, bremst das die Überalterung unserer Gesellschaft.
Eine Folge ist aber auch der Einzug der AfD in den Bundestag und ihr Erfolg vor allem in den neuen Bundesländern…
Als ehemaliger Außenpolitiker plädiere ich dafür, in der Analyse der völkisch-nationalen Bewegung auch in andere Ländern zu schauen. In Frankreich etwa war sie schon vorher stark, während die Erfahrung des Nationalsozialismus in Deutschland lange für ihre Stigmatisierung sorgte. Das ist dann immer mehr verblasst, so dass auch wieder Gedanken und Begriffe sagbar wurden, die wegen des „Dritten Reiches“ verpönt waren.
Und deshalb ist eine klare Grenze zur AfD so wichtig?
Die AfD widerspricht allem, was wir für richtig halten. Unsere Wählerinnen und Wähler wollen absolut sicher sein, dass eine Stimme für die CDU eine Stimme gegen die AfD ist. Wenn sie den leisesten Zweifel daran hätten, würden wir 20 Prozent von ihnen verlieren. Das Menschenbild der AfD ist unserem diametral entgegengesetzt, weil sie die Gleichwertigkeit aller Menschen bestreitet. Sie ist einem starken Freund-Feind-Denken verhaftet. Sie strebt eine gleichförmige Homogenität unserer Gesellschaft an durch Ausschluss von anderen, Stichwort Volkszugehörigkeit. Da gibt es keine Berührungspunkte mit uns. Für uns ist Deutscher, wer einen deutschen Pass hat.
Einige ihrer Thüringer Parteifreunde sehen das mit der AfD anders. Sie halten es für ihren Wählerauftrag, einen linken Ministerpräsidenten mit AfD-Stimmen zu verhindern…
Sie sollten sich Linkspartei und AfD genau anschauen. Beide kommen für die CDU nicht als Koalitionspartner infrage – aus ganz unterschiedlichen Gründen. Ich vermisse, dass sich die Linkspartei wirklich um eine Aussöhnung mit den Opfern der SED-Diktatur bemüht. Aber insgesamt hat sich die Linkspartei in den vergangenen 30 Jahren in Richtung liberale Demokratie bewegt. Bei der AfD ist es gerade umgekehrt.
Nämlich wie?
Früher stand Björn Höcke für einen Flügel der Partei. Heute ist er, wie Alexander Gauland wörtlich gesagt hat, die Mitte und die Seele der AfD. Die AfD hat sich zu einer faschistischen Partei entwickelt, mit der es keinerlei Zusammenarbeit geben kann.
Gilt der antitotalitäre Grundkonsens der CDU nicht mehr, wenn Sie die Linkspartei so positiv von der AfD abheben?
Doch, er gilt weiter. Natürlich wollen wir keinen Kommunismus. Ich sehe aber nicht, dass die Linkspartei ein kommunistisches System anstrebt. Ich lese da nichts mehr von einer Diktatur des Proletariats oder einer klassenlosen Gesellschaft als Ziel. Aber auch mit der Linkspartei arbeiten wir nicht politisch zusammen.
Die Kanzlerin hinterlässt eine CDU im Chaos. Trägt sie für die heutige Lage keine Verantwortung?
Jeder Übergang ist schwer. Das gilt im Handwerksbetrieb, wenn der Sohn übernimmt, das war früher auf den Bauernhöfen genauso. In politischen Parteien ist das nicht anders, vor allem nach einer so langen Zeit von 16 Jahren. So richtig ist der CDU der Wechsel an der Spitze übrigens noch nie gelungen, 1998 nicht nach Kohl, aber auch schon von Adenauer zu Erhard nicht.
Hat Angela Merkel den Zeitpunkt für einen Abschied in Würde verpasst?
Sie hatte es anders geplant. Frau Merkel hätte es eigentlich für richtig gehalten, den Parteivorsitz zwei Jahre später zu übergeben. Es war ja absehbar, dass die Zeit bis zur Bundestagswahl mit der Trennung von Kanzleramt und Parteivorsitz schwierig werden würde. Aber nach der Hessen-Wahl erwartete die Partei, dass etwas passiert. Nur kam es dann nicht so, wie Frau Merkel das gewünscht hatte. Annegret Kramp-Karrenbauer ist nach ihrer Wahl zur Parteichefin nicht zur unbestrittenen Nummer eins in der CDU nach der Kanzlerin und damit zu ihrer designierten Nachfolgerin geworden. Neben eigenen Fehlern und Ungeschicklichkeiten, die allerdings auch Kohl oder Merkel am Anfang passiert sind, war auch ein gehöriges Maß an Illoyalität ihr gegenüber aus der eigenen Partei der Grund dafür.
Armin Laschet und Jens Spahn bilden nun ein Team. Haben die Einzelkandidaten Merz und Röttgen noch eine Chance?
In der CDU gibt es jedenfalls einen starken Wunsch nach der Teamlösung, weil die Mitglieder wissen: Wir müssen uns personell möglichst breit aufstellen, damit wir eine Volkspartei bleiben. Es ist wichtig, dass wir uns nicht spalten lassen. Was wir jetzt brauchen, ist eine Person an der Spitze mit starken integrativen Fähigkeiten.
Und diese Person ist aus Ihrer Sicht Armin Laschet?
Ja, er hat in Nordrhein-Westfalen bereits bewiesen, dass er die verschiedenen Strömungen in der Partei gut zusammenführen kann. So hat er sein Kabinett aufgebaut: mit konservativen und eher progressiven Ministern. Führungsqualität bedeutet heute nicht mehr, nur zu sagen, wo es lang geht. Wichtiger ist, starke Persönlichkeiten zu einem schlagkräftigen Team zusammenzuführen.
Norbert Röttgen trauen Sie das nicht zu?
Norbert Röttgen hat sicher nicht die gleiche Erfahrung, die Armin Laschet vorweisen kann. Er war als Bundesumweltminister Fachpolitiker, jetzt ist er mit Abstand der profilierteste Außenpolitiker der CDU und macht das sehr gut. Seine Ideen zur Weiterentwicklung der Partei sind sinnvoll und wichtig, vor allem was das Ökologische angeht. Auch ihn wird man in der Führung brauchen. Die Frage ist nur: In welchem Setting? Ich denke, er wird eine wichtige Rolle spielen.
Welche Rolle wünschen Sie sich für Friedrich Merz?
Herrn Merz wird viel Kompetenz im Bereich Wirtschaft und Finanzen zugeschrieben. Nicht umsonst redet man bis heute über seine Idee, die Steuererklärung müsse auf einen Bierdeckel passen. Als er Vorsitzender der Unionsfraktion war, saß ich auch im Bundestag. Er hat damals das große Vertrauen aller Unionsabgeordneten genossen. Aber er ist inzwischen mehr als zehn Jahre raus aus der Tagespolitik. Für den politischen Instinkt und die Treffsicherheit ist das kein Vorteil.
Vor zwei Jahren hat Merz versprochen, als CDU-Vorsitzender die Wahlergebnisse der AfD zu halbieren. Das müsste Sie doch ansprechen…
Ich bejuble normalerweise keine Versprechen, sondern Resultate. Friedrich Merz redet viel davon, dass die Union eine Million Wähler an die AfD verloren hat. Wir dürfen aber nicht vergessen, dass genauso viele Wähler von der Union zu den Grünen abgewandert sind. Darüber redet Merz nur wenig. Gar nicht thematisiert er, dass rund zwei Millionen Menschen nur deshalb CDU wählen, weil sie Angela Merkel unterstützen wollen. Das dürfen wir nicht außer Acht lassen. Wir werden diese Frau noch sehr vermissen. Die entscheidende Frage ist: Wie hält man die „Merkel-Wähler“? Die Antwort ist: mit einem stabilen Kurs der Mitte. Wenn wir jetzt rechts oder links abbiegen, würden wir die alle ziemlich schnell verlieren.
Welche Aufgaben muss der neue Parteichef lösen?
Unsere Partei befindet sich in einer sehr schwierigen Lage. Das ist auch bei der Hamburg-Wahl wieder deutlich geworden: Wir haben eine akute Schwäche in den Großstädten. Die CDU trifft dort das Lebensgefühl der Menschen immer weniger. Das ist ein Alarmzeichen, weil sich das Lebensgefühl der Metropolen mit etwas Zeitverzögerung immer auch in den kleinen und mittleren Städten durchsetzt. Da darf die CDU nicht den Anschluss verlieren. Auch ist die CDU, was die Mitgliedschaft betrifft, in den vergangenen Jahren noch schneller gealtert als die deutsche Gesellschaft. Die Belange jüngerer Menschen kommen in der CDU deswegen oft viel zu kurz. Und wir haben zu wenige Frauen, vor allem in Führungspositionen. Das alles sind strukturelle Probleme, die wir angehen müssen.
Vor allem in den Sozialen Medien werden Sie von vielen jungen Menschen gefeiert. Sind Sie der Bernie Sanders der Union?
(lacht) Das habe ich ja noch nie gehört.
Warum kommen Sie als 73-Jähriger bei den Jungen dort so gut an?
Das habe ich mich auch schon gefragt. Wenn sich ein 73-Jähriger sehr aktiv bei Facebook und Twitter betätigt, ist das vielleicht ein bisschen so wie wenn ein 15-Jähriger zum Mathe-Studium zugelassen wird. Es sorgt für Aufmerksamkeit. Die andere Erklärung ist: Ich sage meine Meinung klar und deutlich, das respektieren auch jene, die eine ganz andere Einstellung haben als ich.
Kann es nicht sein, dass sie der ideale Ansprechpartner sind für alle, die links-liberal denken, aber nie die Union wählen würden?
Das sagen einige in der CDU, denen meine Auffassungen nicht passen. Aber, wenn man auf der Linie der Bundeskanzlerin liegt, so wie ich, dann kann das mit dem Linksaußen kaum stimmen. Angela Merkel ist doch keine Linke! Ich glaube, die Kritik an ihr kommt eher von Leuten, die sich einfach sehr weit an den rechten Rand bewegt haben.
Bei Twitter folgen Ihnen fast 40.000 Nutzer. Hat einer der Kandidaten Sie schon gefragt, wie man „Twitter-Gott“ wird?
Nein, das hat noch keiner getan. Alle drei nutzen die sozialen Medien so, wie ich das von aktiven Politikern erwarte. Sie betreiben dort nicht nur Einweg-Kommunikation, sondern antworten direkt auf Kritik und Fragen. Ich wünsche mir, dass jeder Mandatsträger am Tag mindestens eine Stunde in den sozialen Medien mit den Menschen spricht.
Würden Sie den Kandidaten denn mit ein paar Tipps helfen, wenn die Sie bitten?
Natürlich. Wer in meiner Partei bei mir um Hilfe oder einen Ratschlag bittet, dem werde ich gerne helfen. Ich würde sogar den Leuten von der Werte-Union einen Tipp geben, wenn sie mich fragen. Ich würde ihnen sagen: Löst euch auf!