Stirbt die US-Demokratie?: „Wir waren nicht alarmistisch genug“
Der US-Politologe Daniel Ziblatt warnte früh davor, dass Trump die Demokratie bedroht. Im Interview spricht er über seine Befürchtungen, was da noch kommt.
Daniel Ziblatt ist Politikwissenschaftler in Harvard. Er wurde bekannt mit seinem Buch “Wie Demokratien sterben“, das er 2018 gemeinsam mit Steven Levitsky veröffentlichte. Im kommenden Jahr wird Ziblatt Fellow des The New Institute in Hamburg sein, das sich mit Fragen der ökologischen, ökonomischen und demokratischen Veränderung unserer Gesellschaften befasst. Am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB) baut er seit Oktober die neue Forschungsabteilung Transformationen der Demokratie auf.
Daniel Ziblatt, wie ist die Stimmung so kurz vor der Präsidentschaftswahl?
Ein wenig schizophren. Wo ich lebe, ist es sehr ruhig. Aber wenn ich Nachrichten anschaue, scheint es, dass wir kurz vor einem Bürgerkrieg stehen. Es klafft eine große Lücke zwischen der Gesamtschau und der Einzelerfahrung.
Die Gesamtschau ist ihr Metier. In “Wie Demokratien sterben” beschreiben Sie die Mechanik des demokratischen Verfalls, mit besonderem Blick auf das, was manche „amerikanischen Faschismus unter Trump“ nennen. Mich interessiert: Gibt es nach vier Jahren Trump irgendetwas Konstruktives, Positives, etwas, auf das man bauen kann, um Veränderungen zu erreichen?
Als das Buch erschien, meinten manche, wir seien zu alarmistisch. Heute scheint es mir, wir waren nicht alarmistisch genug. Aber Sie suchen eher Zeichen der Hoffnung.
Wenn das möglich ist.
Die positivste Entwicklung der vergangenen Jahre ist für mich die Black-Lives-Matter-Bewegung und die Reaktion auf den Mord an George Floyd – eine zivilgesellschaftliche Massenmobilisierung. Generell sind Amerikaner*innen sehr viel liberaler und offener geworden und von einem größeren Gerechtigkeitsgefühl getragen, was die Fragen der Schwarzen und anderer Minderheiten angeht.
Donald Trump dachte ja, er könne das weiße Amerika in spalterischer Absicht antreiben. Aber dieses Land hat sich geändert, Umfragen belegen das: Ein Mehrheit der weißen Amerikaner*innen sieht, dass Afro-Amerikaner*innen schlechter behandelt werden, dass Rassismus real ist, dass mehr für Gerechtigkeit und Gleichheit getan werden muss.
Es gibt noch andere Bewegungen in der amerikanischen Politik, das Sunrise Movement, das die notwendigen Änderungen fordert, um den Klimawandel aufzuhalten. Wie verändern solche Bewegungen die politische Dynamik oder das demokratische System?
Das ist ein Generationen-Wandel. Es ist sehr deutlich, dass junge Amerikaner*innen gegenüber der Art von Politik, für die Donald Trump steht, sehr skeptisch sind. Da ist das Potential für grundsätzliche politische Veränderungen. Ich bin nicht naiv und sage nicht, dass wir in das gelobte Land gelangen und dann alles klappen wird, wenn Joe Biden die Wahl gewinnen sollte.
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Aber ich glaube, dass die Elemente einer anderen Politik da sind und dass es eine starke Opposition gegen die herrschende Politik gibt. Das ist ein großer Unterschied zu Ländern wie Ungarn oder der Türkei, wo die Demokratie auch in Gefahr ist, aber die Opposition sehr schwach ist.
In Ihrem Buch schreiben Sie über die Bedeutung von Normen für die Demokratie, die zerbrechliche Konstruktion, die Bürger*innen verbindet, abstrakt und sehr konkret. Die junge Generation hat andere Werte, Klimawandel und Nachhaltigkeit ist ihnen wichtig: Gibt es hier das Potential für neue Normen?
Da bin ich weniger optimistisch. Jedes politische System und jede soziale Interaktion beruht auf ungeschriebenen Regeln, die das Verhalten leiten – wir nennen das Normen. Die erste Norm ist die der gegenseitigen Achtung und Anerkennung – Gegner als Rivalen und nicht als Feinde zu sehen.
Die zweite Norm ist Rücksicht und Zurückhaltung gerade in der Ausübung von Macht, die mit einem bestimmten politischen Amt verbunden ist. Wenn da die Zurückhaltung fehlt, wenn jeder nur an sich denkt, endet es im Chaos.
Trump blüht im Chaos.
Damit diese beiden Normen funktionieren, muss der Grad an Polarisierung niedrig sein – denn wenn die Polarisierung sehr stark ist und alle Angst vor der anderen Seite haben: Warum würden sie dann Zurückhaltung üben oder warum sollten sie die anderen als Rivalen sehen und nicht als Gegner?
In den Vereinigten Staaten sehen wir einen langandauernden Verfall der gegenseitigen Anerkennung – damit haben, würde ich sagen, die Republikaner angefangen. Historiker*innen können darüber streiten, aber ich würde sagen, die Beweise sind recht eindeutig.
Was kann man dagegen tun?
Normen sind eine Art flexibles Geländer, und wenn die flexiblen Geländer nicht mehr halten, brauchen wir härtere Geländer – das heißt Gesetze, vielleicht Verfassungsänderungen, um den politischen Raum neu zu definieren.
Amerikanische Normen, schreiben Sie, wurden historisch gesehen geprägt durch Ausschluss. Danielle Allen, eine politische Philosophin aus Harvard, beschreibt die Überwindung dieses Zustandes, die Schaffung einer multi-ethnischen Demokratie, in der keine ethnische Gruppe die anderen beherrscht, als eine der wichtigsten Herausforderungen der Zukunft. Wie sehen Sie das?
Das ist eine Herausforderung nicht nur für die USA, sondern für Deutschland und die europäischen Gesellschaften überhaupt. Die demographischen Veränderungen in den am meisten entwickelten Gesellschaften verursachen politische Konflikte.
In den USA ist das Problem allerdings akuter, weil das Erbe der Sklaverei immer präsent ist. Der zweite Unterschied ist, dass diese wirklich autoritäre, hierarchische Struktur unsere politische Institutionen prägt.
Wie das?
Es gibt ein wunderbares Buch von David Waldstreicher,“The Slave Constitution”. Waldstreicher zeigt, welche Teile der amerikanischen Verfassung auf die eine oder andere Art die Interessen der Sklavenbesitzer beschützen. Und das ist immer noch unsere Verfassung. Wir leben mit einem Dokument, das teilweise von Sklavenhaltern entworfen wurde, um die Sklaverei zu schützen.
Und das prägt die Politik bis heute?
Wie der amerikanische Senat so massiv den Einfluss der Bundesstaaten sichert, wie das Electoral College den Wahlausgang beeinflusst oder verzerrt, wie unsere Präsidenten gewählt werden – all das gehört zu diesem Erbe. Es ist schwer, der Vergangenheit zu entkommen.
Es ist aber ein positives Zeichen, dass eine wachsende Mehrheit der amerikanischen Bevölkerung diese Vergangenheit anerkennt – eine multi-ethnische demokratische Mehrheit. Wir müssen in Zukunft sicherstellen, dass in den USA die Mehrheit herrschen und regieren kann.
Und das ist derzeit nicht so?
Eine Schwachstelle unseres Systems ist, dass die Verfassung ländlichen Gegenden zu viel Macht einräumt. Das hat damit zu tun, wie alt die Verfassung ist, eine historische Anomalie.
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Dazu kommt, dass Republikaner in den ländlichen Gebieten überrepräsentiert sind. Deshalb haben wir ein System, das es den Republikanern ermöglicht, die Präsidentschaft, den Senat und das Oberste Verfassungsgericht zu beherrschen, ohne eine Mehrheit in der Bevölkerung zu haben. Wir haben also, de facto, die Regierung einer Minderheit.
Was bedeutet das konkret?
Nur ein republikanischer Präsident hat in den vergangenen 20 Jahren die meisten Stimmen bekommen. Das war 2004 George Bush. Dennoch stellten die Republikaner während 12 von diesen 20 Jahren den Präsidenten. Die Republikaner haben eine Mehrheit der Sitze im Senat, obwohl sie keine Mehrheit der Stimmen haben.
90 Prozent der Wähler*innen der republikanischen Partei sind weiß. Eine mächtige weiße Minderheit kann also das politische System kontrollieren, ohne eine Mehrheit bei Wahlen zu haben. Die demokratische Partei dagegen ist eine multi-ethnische Partei. Wenn wir der Mehrheit ermöglichen, Wahlen zu gewinnen und zu regieren, wird die multi-ethnische Gesellschaft davon profitieren – als multi-ethnische Demokratie.
Das würde bedeuten, wichtige Teile des Wahlsystems zu verändern.
Ich bin sehr dafür, dass neue Bundesstaaten im Senat vertreten sind, Washington D.C. und Puerto Rico. Ich bin auch dafür, dass wir das Electoral College abschaffen und damit diese seltsame Überrepräsentation von ländlichen Minderheitengegenden.
Und schließlich bin ich auch dafür, das Wahlrecht auszuweiten und besser zu schützen. Je mehr Menschen wählen, desto starker wird die Stimme der Mehrheit, desto inklusiver ist unsere Demokratie. Wenn diese Art von Reformen umgesetzt werden, haben die USA die Chance, ein Modell dafür zu sein, wie eine multi-ethnische Demokratie regiert werden kann.
Die USA als Petrischale der Demokratie. Wobei die Demokratie, historisch gesehen, genau von Angst vor der Mehrheit geprägt ist. Alexander Hamilton, einer der Väter der amerikanischen Verfassung, vertrat diese Haltung. Der Politikwissenschaftler David Runciman geht bis ins antike Griechenland zurück, um zu zeigen, dass die Demokratie in ihrer repräsentativen Form aus Angst vor den Jungen, den Armen, den Ungebildeten entstand. Diese Angst vor der Mehrheit ist tief in die Erzählung der Demokratie verwoben, sie ist sehr mächtig.
Historisch gesehen war die Antwort auf diese Herausforderung die Partei – sie kontrollierten den Zugang und die Auswahl der Kandidat*innen, die sich um politische Ämter bewarben. Diese wichtige Rolle sollten die Parteien meiner Meinung nach auch weiterhin haben, eine Art Filtersystem.
Aber wenn nun Joe Biden gegen Donald Trump antritt, zwei Männer Ende 70, dann stellt sich schon die Frage, ob das das beste System ist, Kandidat*innen auszuwählen? Obwohl ich finde, dass Joe Biden ein ziemlich guter Kandidat ist – und ein sehr talentierter Politiker.
Hat sich Ihr Blick auf die Mehrheit verändert?
Ich habe weniger Angst vor Mehrheiten, als ich es früher hatte. Man könnte ja meinen: Wenn man eine zu große Mobilisierung hat, ist das nicht gefährlich? Ich denke mehr und mehr, dass das eine übertriebene Angst ist und dass es tatsächlich eine Weisheit der Mehrheit gibt. Gleichzeitig glaube ich, dass die Gatekeeper der Medien, der Natur- und der Sozialwissenschaft ihre Rolle haben.
Die sind aber gerade alle ziemlich unter Druck.
Der Niedergang der traditionellen Medien ist eine Art Demokratisierungsprozess, könnte man sagen, weil nun jede und jeder seine Meinung ausdrücken kann, für alle sichtbar. Aber das eröffnet auch einen Raum für Demagogen, Falschinformation, Verschwörungstheorien. Ich weiß die Antworten auf diese Frage nicht. Denn im Prinzip sind mehr Stimmen gut.
Das sind künftig entscheidende Fragen.
Ja, das ist die Schnittstelle zur Zukunft, an der wir arbeiten müssen. Neue Regulierungsmaßnahmen sind nötig. Zur Zeit entscheiden Facebook und Twitter selbst. Aber wenn wir uns beim Thema Regulierung nur auf diese großen Konzerne verlassen, dann werden sie zu Gatekeepern. Dann haben wir sehr viel weniger demokratische Kontrolle und Verantwortlichkeit, als wenn gewählte Politiker*innen zuständig sind.
Die Demokratie steht in Zukunft vor drei großen Herausforderungen: der Digitalisierung, dem enthemmten Kapitalismus und der Klimakrise. Wie sehen Sie diese Herausforderungen?
Meiner Meinung nach sind der enthemmte Kapitalismus und die sozialen Medien keinen neuen Phänomene. Neue Medien waren immer disruptiv – heute sind sie sicher besonders disruptiv, die Welt scheint sich immer schneller zu drehen, der allgemeine Druck nimmt zu.
Das gilt auch für die Frage, wie sich die ökonomische Ungleichheit, die der Kapitalismus produziert, und das politische Gleichheitsversprechen der Demokratie in ein Gleichgewicht bringen lassen. Aber ich würde diese beiden Themen vom Klimawandel trennen.
Warum?
Die Klimakrise ist in der Geschichte der Menschheit ohne Beispiel – und der Zeithorizont der Demokratie, ein langsamer Prozess, schrittweise Verbesserungen, macht es so schwer, darauf zu reagieren. Die Langsamkeit wiederum ist auch eine Tugend der Demokratie.
Aber die Klimakrise hat ein anderes Tempo, es ist ein globaler Notstand. Die Frage ist also: Ist die Demokratie in der Lage zu handeln? Ich glaube immer noch, dass das möglich ist. Aber es ist eine riskante Wette, wenn das nicht stimmt, sitzen wir in der Patsche.
Eine letzte Frage: Wer wird am 20 Januar 2021 als den Eid des amerikanischen Präsidenten ablegen?
Ich hoffe die Person, die die Wahl gewonnen hat.
Georg Diez