30. Jahrestag der ersten freien DDR-Wahlen: „Wir waren Geschlagene – das wirkt fort“
Vor 30 Jahren wurde in der DDR erstmals frei gewählt. Bürgerrechtlerin Ulrike Poppe und Lothar de Maizière (CDU) streiten über die heutige Bedeutung der Wahl.
Lothar de Maizière war der erste frei gewählte Ministerpräsident der DDR – und auch der letzte. Urike Poppe war seit den 1980er Jahren Bürgerrechtlerin in der DDR, sie wurde vom Regime verfolgt und saß sechs Wochen im Stasi-Gefängnis Hohenschönhausen. Am Mittwoch vor 30 Jahren gab es die ersten freien Wahlen in der DDR, aus diesem Anlass haben wir das Gespräch mit den beiden geführt.
Frau Poppe, Herr de Maizière, wann sind Sie sich zum ersten Mal begegnet?
LOTHAR DE MAIZIÈRE: Das war im November 1989; ich habe sie nach einer Wahlkampfdebatte nach Hause nach Prenzlauer Berg gefahren. Wir sind im Auto sitzen geblieben, haben diskutiert. Ich war damals für die CDU in der Übergangsregierung von Hans Modrow.
ULRIKE POPPE: Ich war im Sprecherrat der Bürgerbewegung ,Demokratie jetzt!‘. Im Auto ergab sich ein langes Gespräch. Es war kalt, wir machten den Motor an.
DE MAIZIÈRE: Sie meinte, dass die deutsche Einheit erst in zwei Jahren kommen würde. Ich hatte das Geheimpapier gelesen, dass die DDR pleite war, und sagte: Das wird nichts. Da war sie böse mit mir.
POPPE: Ich war nicht böse, nur etwas erschrocken, über die vorgetragenen Tatsachen, mit denen Sie den wahrscheinlichen Staatsbankrott in Aussicht stellten.
DE MAIZIÈRE: Ich weiß noch, wie wir das Papier in der DDR-Regierung gelesen haben. Jeder Minister bekam ein Exemplar, die Tür wurde abgeschlossen. Wenn das öffentlich geworden wäre, hätte die DDR keinen Pfennig an Krediten mehr bekommen. Ich hab' angefangen zu heulen.
Welche Bedeutung hat die erste freie Wahl in der DDR vor 30 Jahren heute noch?
DE MAIZIÈRE: Als wir am 18. März 1990 gewannen, war mir klar: Ich bin kein Ministerpräsident, ich bin Konkursverwalter. Als ich mit meinem Finanzminister Walter Romberg von der SPD redete, wusste er nicht, welche Steuerarten es gab. Zum Glück hatte ich mich in der DDR mit Steuer- und Wirtschaftsrecht befasst. Es gab eine große Naivität.
POPPE: Wir Bürgerbewegungen haben weitgehend versäumt, uns um Ökonomie zu kümmern. Wir stellten die demokratische Umgestaltung voran und haben die Sehnsucht vieler Leute nach Wohlstand nicht ernst genug genommen.
DE MAIZIÈRE: Sie haben sich zu wenig mit der sozialen Frage auseinandergesetzt.
POPPE: Das stimmt so nicht. Als Oppositionelle der DDR haben wir thematisiert, was zur Gleichstellung der Frauen fehlte, die herrschende Pädagogik kritisiert, den Umgang mit Menschen in psychiatrischen und Behindertenanstalten.
DE MAIZIÈRE: Ich war mal in einem Altenheim in Biesdorf, an einer Straße namens Grabsprung. So sah es da aus. Ich dachte: Wenn das meine Zukunft ist, erschieße ich mich.
POPPE: Wir wollten Menschenrechte für alle, nicht nur für Arbeitsfähige, Staatskonforme.
Mit der Revolution wurde Freiheit erkämpft. Aber viele fragten sich, wie sie Freiheit bezahlen können.
POPPE: Freiheit ist nicht nur eine Sache der Prosperität und der Kosten.
DE MAIZIÈRE: Ökonomisch war vieles Träumerei. Ich hätt mir auch gewünscht, dass wir mit erhobenerem Haupt in die Einheit gegangen wären. Aber wir waren Geschlagene, das wirkt bis heute fort.
Das war genau Ihr Wahlprogramm: schneller Beitritt zum Bundesgebiet. Ein Fehler?
DE MAIZIÈRE: Normalerweise sagt man bei Verhandlungen: Gib mir dies, ich geb dir das. Aber wir hatten nichts. Die Energiegewinnung basierte auf Braunkohle. Eine meiner ersten Amtshandlungen war, das Kernkraftwerk Greifswald abzuschalten. Es lag am Militärflugplatz Peenemünde, da donnerten Kampfmaschinen drüber; ein Absturz hätte einen Super-Gau ausgelöst. In Riesa wurde aus sowjetischem Zellstoff hochgiftiges Chlor-Schwefel-Gas hergestellt; das Werk musste ich schließen. Da hingen 18 000 Arbeitsplätze in der Reifen- und Pappindustrie dran. Wo man anfasste, zerbröselte es einem in den Fingern.
POPPE: Alle waren verunsichert. Mitten im Wahlkampf kam aus dem Westen die Mitteilung, die DDR sei zahlungsunfähig.
DE MAIZIÈRE: Nach der Währungsunion wurde es dramatisch. Der Treuhand, die die Betriebe verwaltete, fehlten 20 Milliarden D-Mark. Wenn wir im Juli 1990 nicht die ersten Löhne in D-Mark bezahlt hätten, wären wir wegdemonstriert worden. Auf den Straßen hieß es: Kommt die D-Mark nicht zu uns, gehen wir zu ihr.
POPPE: Bundeskanzler Kohl hatte versprochen: Keinem werde es schlechter gehen, es gäbe blühende Landschaften. Die sozialen Kosten wurden verschwiegen, obwohl sämtliche Wirtschaftsforscher darauf hinwiesen. Wir von ,Demokratie Jetzt‘ haben vor den Folgen einer vorschnellen Wirtschafts- und Währungsunion gewarnt. Das kostete uns viele Wählerstimmen. Die Massenarbeitslosigkeit war vorhersehbar. Aber die CDU machte Versprechungen, ohne das Volk aufzuklären.
DE MAIZIÈRE: Zu den blühenden Landschaften: Helmut Kohl hatte von Ökonomie wenig Ahnung. Das überließ er der FDP. Und uns brach der Osthandel weg. 60 Prozent der Güter gingen in die Sowjetunion, die konnte nicht mehr zahlen. Unser Erdöl wurde rationiert. Das wollte damals keiner hören. Ich war im Autowerk in Eisenach, hab Arbeiter gefragt: Was würdet ihr noch für einen Wartburg bezahlen? Sie sagten: Wir kaufen uns einen Golf.
POPPE: Die Leute wurden in der Illusion bestärkt, bald Bundesbürgern gleichgestellt zu sein. Dann wurden ganze Landstriche deindustrialisiert. Die Enttäuschung wirkt bis heute.
War die erste freie Wahl ein Vorbote der Einheit: schnell nach westlichem Vorbild?
POPPE: Der Runde Tisch hatte die Wahl auf den 6. Mai 1990 gelegt. In einer nächtlichen Sitzung am 28. Februar wurde das vorverlegt. Für SPD und CDU schien ein schneller Termin von Vorteil, weil sie Hilfe von den Westparteien bekamen.
De MAIZIÈRE: Die PDS mit Übergangs- Regierungschef Modrow war auch dafür.
POPPE: Ja, weil die alte SED/PDS noch funktionierende Organisationsstrukturen hatte – anders als die Bürgerbewegungen. Wir waren im Aufbau und mussten ohne Erfahrung den Wahlkampf organisieren.
Frau Poppe, Sie hatten die freien Wahlen miterkämpft. Fühlten Sie sich betrogen?
POPPE: Nein. Das wichtigste Ziel der Revolution waren freie Wahlen. Es brauchte dazu eine freie Presse, die Abschaffung der Stasi, Wahlgesetz, Parteiengesetz, Versammlungsfreiheit. Aber der Runde Tisch hatte auch beschlossen, keine Wahlkampfhilfe aus dem Westen anzunehmen. CDU und SPD hielten sich nicht dran.
DE MAIZIÈRE: Ich muss zugeben, dass die CDU strukturelle Vorteile hatte als ehemalige Blockpartei. Uns gehörten fünf Tageszeitungen in der DDR, wir hatten Büros in allen Landkreisen. Im Wahlkampf ging es vor allem um unser Thema: die Einheit. Am wichtigsten war die D-Mark, da gab es einen Wettlauf: Ich versprach, dass die Leute an Weihnachten 1990 ihre Geschenke mit D-Mark kaufen können. Da sagte die SPD: Wir wollen, dass ihr schon mit Westgeld in den Sommerurlaub fahrt.
Es ging nur ums Geld?
DE MAIZIÈRE: Es ging um Sehnsüchte nach einem besseren Leben. Menschen stellten die Trabbis, auf die sie zehn Jahre gewartet hatten, im Wald ab. Alle wollten was Neues. Die alten Autos brauchte man nur noch für den Film ,Go Trabi Go‘.
POPPE: Ja, viele wollten ein Ende der Mangelgesellschaft. Aber mindestens in gleichem Maße gab es eine unglaubliche Sehnsucht nach Emanzipation, nach Freiheit.
DE MAIZIÈRE: Aber das Sehnsuchtsgefühl machte sich oft an der Reisefreiheit fest.
POPPE: Genauso wie die dichten Grenzen wurde es als Demütigung empfunden, dass der SED-Staat vorschrieb, was DDR-Bürger lesen, welche Meinung sie vertreten, in welchen Organisationen sie sich zusammenschließen durften. Es war entmündigend. Das prägende Wort der Umgestaltung war: Selbstbestimmung.
Wie geht Selbstbestimmung als Konkursverwalter eines Landes?
DE MAIZIÈRE: Es gab in der Regierung eine Gruppe, die hieß: Sicherung der Zahlungsfähigkeit. Da wurden jede Woche die Pfennige zusammengekratzt. Wir waren unsicher, ob wir die Bundesrepublik einweihen sollten in die Misere. Ich hatte Angst, die würden noch die Wirtschafts- und Währungsunion absagen, und sagte zu Finanzminister Romberg: Wir müssen denen ja nicht auf die Nase binden, dass wir pleite sind. Er war empört: Das ist Betrug. Ich sagte: Nee, das ist… (er überlegt)
POPPE: …Politik. (beide lachen)
Wie sind Ihnen als Newcomer die westdeutschen Politiker begegnet?
DE MAIZIÈRE: Es gab Leute, die waren anständig, andere nicht. Ich hatte ein sehr gutes Verhältnis zu Innenminister Wolfgang Schäuble, auf ihn war Verlass. Volker Rühe dagegen kam bei uns rein und sagte, er übernehme den Laden. Widerwärtig.
POPPE: Wie war es mit Helmut Kohl?
DE MAIZIÈRE: Kohl interessierte nur, wie sich das Ganze in der Geschichte darstellt. Bevor sich Ost- und West-CDU vereinten, überlegte er, wie das inszeniert wird. Wir mussten alle Tränen in den Augen haben. Aber eine andere Republik wollte er nicht. Ich hatte mal gesagt, das neue Deutschland werde östlicher und protestantischer. Das passte ihm nicht. Ich merkte das an der furchtbaren Auseinandersetzung um Paragraf 218...
…der einen Schwangerschaftsabbruch unter Strafe stellte.
DE MAIZIÈRE: Kohl wollte nichts daran ändern. Ich sagte, er solle erst das bundesdeutsche Erbrecht in Ordnung bringen, bevor er Frauen Vorschriften mache. Im Westen hatten außereheliche Kinder nicht das gleiche Erbrecht wie Kinder aus einer Ehe. Generell stand vor dem Einigungsvertrag die Frage: Soll man beide Rechtssysteme vergleichen und das jeweils Beste herausnehmen oder sich bundesdeutschem Recht anschließen? Letzteres geschah. Gemessen daran konnten wir einige Ausnahmen rüberretten.
POPPE: Die Frage, wie viel Mitsprache Ostdeutschen ermöglicht wird, war im Wahlkampf und danach entscheidend. Wegen der anhaltenden Abwanderung, besonders der gut Qualifizierten, drohte die DDR auszubluten. Der so entstandene Zeitdruck war enorm.
DE MAIZIÈRE: 2000 bis 3000 Leute sind übergesiedelt, pro Tag. Nach der Währungsunion genauso viele - pro Woche.
Die Zeit rannte, auch völkerrechtlich.
DE MAIZIÈRE: Im Juni 1990 war die letzte Tagung des Ost-Bündnisses Warschauer Vertrag. Da kam der sowjetische Außenminister Eduard Schewardnadse zu mir und sagte: Wir brauchen fünf Milliarden D-Mark an Krediten und zwei Milliarden zur Versorgung der Bevölkerung. Sonst sind wir zahlungsunfähig, dann wird Parteichef Michael Gorbatschow auf dem Parteitag im Juli nicht wiedergewählt. Zurück zu Hause rief ich Kohl an, er schickte Horst Teltschik aus dem Kanzleramt und der kratzte in einer Woche die sieben Milliarden zusammen. So konnte Gorbatschow bleiben, und wir kriegten den 2+4-Vertrag über die deutsche Einheit noch durch den Obersten Sowjet.
POPPE: Die völkerrechtliche Seite sollte unter Dach und Fach, solange die vier Mächte dem wohlwollend gegenüberstanden. Aber für die interne Rechtsangleichung hätten wir uns mehr Zeit nehmen sollen mit Übergangsfristen. Deshalb plädierte die Opposition für eine Vereinigung nach Artikel 146 Grundgesetz, mit einer neuen gemeinsamen Verfassung.
DE MAIZIÈRE: Die Verfassung wäre ein Zwilling des Grundgesetzes geworden.
POPPE: Aber eine gemeinsame Volksabstimmung hätte den Ostdeutschen das Gefühl vermittelt, gefragt worden zu sein.
DE MAIZIÈRE: Ich weiß nicht, ob sich in den rasanten Zeiten so viele dafür interessierten. Aber psychologisch war der Prozess sicher ein Problem: Ich wollte für die ersten Wahlen nach der Einheit durchsetzen, dass wir den 1. Gesamtdeutschen Bundestag wählen. Aus Bonn kam nur: Wir wählen den 12. Bundestag, fertig.
Am Ende blieb nicht viel übrig aus Ostdeutschland: geöffnete Stasi-Akten, eine gelockerte Fristenregelung bei Schwangerschaftsabbrüchen, das Ampelmännchen.
DE MAIZIÈRE: Im Zivil- und Erbrecht haben wir mehr erreicht, auch die Rentenversorgungen wurden übernommen. Aber es gab keinen gemeinsamen Neuanfang.
POPPE: Der neuen Volkskammer blieb keine Zeit, den Einigungsvertrag zu diskutieren. In zwei Tagen sollten die Parlamentarier das Vertragswerk lesen und sich eine Meinung bilden. Wir beantragten eine zweite Lesung, um etwa die Altschuldenregelung nachzubessern. Damit hätte der Einigungstermin nicht verschoben werden müssen. Es wurde abgelehnt.
Es gibt ein ostdeutsches Repräsentanzproblem in Wirtschaft, Gesellschaft, sogar in der ostdeutschen Politik. Hat das mit dieser Art der Einheit zu tun?
DE MAIZIÈRE: Von 81 Hochschulen wird keine einzige von einem Ostdeutschen geleitet. Das ist skandalös. Nach der Einheit haben Bayern und Baden- Württemberg die Hochschulen in Sachsen durchgestaltet, Professoren brachten gleich ihre Assistenten mit. Vielleicht waren auch viele Ostdeutsche in dieser Phase der Neuorientierung nicht hart genug.
POPPE: Wissenschaftler wurden oft nach westlichen Kriterien evaluiert. Dass Stasi-Belastete aus Ämtern entfernt wurden, war dagegen nötig, damit die Ostdeutschen Vertrauen in demokratische Institutionen fassen. In der Verwaltung war es sinnvoll, dass Fachleute aus der Bundesrepublik kamen, die das Rechtssystem kannten. Aber dass manche Aufbauhelfer so lange blieben und nicht genug Ostdeutsche mitqualifiziert wurden, erwies sich als ein Problem.
DE MAIZIÈRE: Ich habe Justizminister Klaus Kinkel gebeten: Schicken Sie mir Richter aus dem Ruhestand oder welche, die in fünf Jahren in Rente gehen. Danach können dann Landeskinder Recht in sächsischer Mundart sprechen. Aber viele gute Richter im Westen wollten nicht in den Osten. Von den anderen hätten sie besser ein paar drüben behalten sollen.
Gab es auch Fehler der Ostdeutschen?
DE MAIZIÈRE: Erst mal wurde bei jedem Posten gefragt: Ein Ostler - war der bei der Stasi? Mein Vetter Thomas de Maizière war Staatssekretär in Mecklenburg-Vorpommern und baute die Hochschullandschaft mit auf. Der erzählte mir, dass Wessis bei jedem Vorstellungsgespräch sagten, dass sie die Besten, Klügsten, Qualifiziertesten sind. Das konnten viele Ostdeutsche nicht. Sie waren unsicher.
POPPE: Und die kritischen Geister aus der DDR hatten nicht viel vorzuweisen: Sie durften kaum zu internationalen Konferenzen, weniger publizieren. Das konnten nur die Chefs, oft Parteifunktionäre.
Wie viel DDR steckt heute noch im Osten?
DE MAIZIÈRE: Solche Brüche, wie wir sie erlebt haben, sind nicht in einer Generation zu bewältigen.
POPPE: Die ostdeutsche Prägung erweist sich als langfristiger als erwartet. Eine wichtige Erfahrung konnten wir Ostdeutschen gewinnen: dass politisches Engagement gegenüber einer erstarrten Herrschaft zum Erfolg führen kann, aber mitunter ein sehr langer Atem dazu nötig ist. Es braucht auch heute Leute, die gegen den Strom schwimmen. Menschen mit Eigensinn und der Bereitschaft, nicht nur die persönliche Karriere zu sehen.
DE MAIZIÈRE: Es gibt nützlicheErfahrungen. In den Spitzenorchestern bekommen Ostdeutsche oft die besten Stellen. Denn in den sechs Stunden, in denen sich manche Westdeutsche mit Selbstoptimierung beschäftigt haben, haben wir geübt. Und wir können Umbrüche durchstehen.
Junge Menschen, die nach der Einheit geboren wurden, definieren sich eher als Ostdeutsche denn als Deutsche oder als Brandenburger. Können Sie sich das erklären?
DE MAIZIÈRE: Wenn einem gesagt wird, alles was du im Gepäck mitbringst, ist Mist, schaltet man auf stur. Aber an Unis wächst sich das aus. Ein Professor sagte mir, er unterscheide nicht mehr zwischen Ost und West, sondern zwischen blöd und weniger blöd - ein Fortschritt. Und es gibt Erhebungen, dass Ostdeutsche schneller Examen machen - auch weil sie ihren Eltern nicht auf der Tasche liegen wollen. In Prenzlauer Berg wohnen ja eher nur die Söhne und Töchter von Westdeutschen, denen eine Wohnung mit einer Miete unter 1200 Euro nicht zuzumuten ist.
POPPE: Prägungen werden in den Familien weitergegeben, auch Geschichten. Meine Kinder und Enkel wollen wissen, wie das Leben damals mit der Mauer war und wie man eine Revolution schafft.
DE MAIZIÈRE: Ich hab fünf Urenkel, die werden nicht mehr danach fragen.
POPPE: Abwarten!
DE MAIZIÈRE: Ich glaube, dass nächste Generationen eher nach den großen Kriegen fragen werden. Warum ein Volk, unser Volk über ein Jahrhundert so entgleisen konnte und seine geistige Mitte verlor.
Warum findet eigentlich Ostdeutschland die politische Mitte nicht? Die Linke ist traditionell stark, die AfD fährt hohe Ergebnisse ein und kam so erst in die Lage, das Parlament in Thüringen vorzuführen.
DE MAIZIÈRE: Die Linke hat nach der Einheit das Protestpotenzial der Frustrierten aufgesaugt. Heute sind sie angekommen im neuen Land. Meine CDU muss ihre starren Abgrenzungsbeschlüsse überdenken.
POPPE: …wobei in der Basis der Linkspartei noch viel altes Denken steckt. Und Prägungen aus DDR-Zeiten zeigen sich auch bei den Ergebnissen der AfD.
Wie denn?
POPPE: Wir waren in der DDR nicht gewohnt, mit anderen Kulturen zusammenzuleben. Die Gesellschaft war normiert, Abweichungen wurden verfolgt. Die wenigen Ausländer waren in Ghettos abgeschottet. Die Ablehnung von Migranten, von Fremdheit ist bei vielen Älteren ein Relikt aus der DDR. Hinzu kommen Enttäuschungen der Transformation: Viele Menschen waren vom Tempo des Systemwandels überfordert, sie waren nicht vorbereitet auf tiefgehende Brüche in ihrer Lebensbiografie.
DE MAIZIÈRE: Die Stichwortgeber der AfD sind alles Wessis: Gauland, Frau Weiland, Höcke, Meuthen.
POPPE: Aber ihre Parolen werden im Osten gehört, auch weil sich ländliche Regionen abgehängt fühlen. Oft gibt es da keinen Arzt mehr, keine Kneipe, keinen Konsum, keine Buslinie, keinen Bahnhof. Aus Protest wählen sie die AfD, auch ohne dass sie deren extremistische Ansichten unbedingt teilen.
DE MAIZIÈRE: Ich kenne es aus dem Erzgebirge, da sagen Leute: Bevor wir andere integrieren, sollen sie uns integrieren. Ich sag denen: Ihr seid doch die Gesellschaft.
Gibt es im Osten zu wenige interne Debatten, welche Gesellschaft man will?
DE MAIZIÈRE: Menschen, die meckern, sollten sich engagieren. In Brandenburg finden viele Dörfer keinen Gemeinderat.
POPPE: Es fehlt an zivilgesellschaftlicher Tradition. Vereine, Clubs, Bürgerinitiativen – das ist im Vergleich zu westlichen Bundesländern noch unterentwickelt.
DE MAIZIÈRE: Das hat auch mit einem Erbe der SED zu tun: der Entkirchlichung. Meine Tochter ist Pastorin in Magdeburg. Sie sagt: Das Wichtigste ist, dass die Menschen wieder zusammen singen.
POPPE: Auch Politiker sollten mehr in die Dörfer gehen und Bürger zur Diskussion über wichtige Entscheidungen einladen.
DE MAIZIÈRE: Bei allem Frust: Der Umbruch hat gezeigt, wozu wir in der Lage sind. Und dass die Menschen Demokratie zu schätzen wissen. Bei der ersten freien Wahl hatten wir eine Beteiligung von 93,4 Prozent.
POPPE: Es ist gelungen, die Diktatur abzuschaffen, erste freie Wahlen durchzuführen. Für mich war das der schönste Erfolg.