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Die Flut an Elends-, Kriegs- und Katastrophenbildern kann zu einer Dauerverzweiflung über den Zustand der Welt führen.
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Bilder von Katastrophen: Wir sehen mehr Leid - aber gibt es mehr Leid?

Ein Hochhaus im Westen Londons gerät in Brand. Britische Medien übertragen das Drama live. Immer umfassender, detaillierter und schneller wird jedes Unglück dokumentiert. Überfordert das die Seele? Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Malte Lehming

In dem Science-Fiction-Film „Das fünfte Element“ muss eine außerirdischen Frau namens Leeloo (Milla Jovovich) die Welt retten. Leeloo ist jenes fünfte Element, das zusammen mit den vier anderen Elementen – Feuer, Wasser, Erde und Luft – den von Menschen bewohnten Planeten gegen das Böse verteidigt. Um Menschen und Erde besser zu verstehen, sieht sich Leeloo stundenlang Szenen aus der Menschheitsgeschichte an. Kriege, Zerstörungen, Terror, alles in rascher Folge. Am Ende bricht sie traumatisiert zusammen. Ist diese Spezies einer Rettung überhaupt würdig? Erst die Liebe des unerschrockenen Taxifahrers Korben Dallas (Bruce Willis) kann Leeloo überzeugen und das fünfte Element in ihr aktivieren. Dann wird alles gut.

In der Nacht auf Mittwoch geriet im Westen Londons ein 24-stöckiges Hochhaus in Brand. Das ganze Gebäude stand in Flammen. Britische Medien übertrugen das Drama live. Ein Augenzeuge, der von Menschen erzählte, die in ihrer Verzweiflung aus dem Hochhaus gesprungen waren, brach während des BBC-Interviews in Tränen aus und musste von der Reporterin getröstet werden.

Erinnerungen werden wach. Etwa an das Bild vom „fallenden Mann“, aufgenommen am 11. September 2001 um 9 Uhr 41 in New York. Kopfüber stürzt er vom Nordturm des World Trade Centers, das rechte Bein angewinkelt, die Arme hinter dem Rücken verschränkt. Viele amerikanische Zeitungen druckten dieses Bild am Tag danach. Daraufhin brach ein Empörungsgewitter über sie herein. Eine solche Verzweiflungstat abzubilden, sei pietätlos, hieß es. Seitdem wird dieses Bild in den USA kaum noch gezeigt.

Die Welt wird unmittelbarer, unvermittelter

Immer umfassender, detaillierter und schneller wird jedes Unglück, Elend und Verbrechen dokumentiert. Bilder und Videos von Smartphones können innerhalb von Sekunden über soziale Dienste verbreitet werden. Ob Tsunami in Südostasien, Erdbeben in Japan, verschüttete Bergarbeiter in Chile, Panik bei der Love Parade, Terroranschläge auf der norwegischen Insel Utoya, in Paris, auf dem Breitscheidplatz, auf jugendliche Konzertbesucher in Manchester: Die Welt wird unmittelbarer, unvermittelter. Mit wachsender Wucht drängt sie sich in die Alltags-Wahrnehmungen. Vor der allgegenwärtigen Katastrophen- und Verbrechenspräsenz gibt es kaum ein Entrinnen. Wird der Seelenhaushalt überfordert?

Bilder sind mächtig. Da ist die Pistole am Kopf des Vietcong, der kurz darauf hingerichtet wird. Da ist das nackte, schreiende Mädchen nach einem Napalm-Angriff in Vietnam. Da sind die Hungernden in Somalia, die zu einer Intervention der Weltgemeinschaft führen. Da ist der tote syrische Flüchtlingsjunge am Mittelmeerstrand. Beschämend, verstörend, zornerregend sind solche Bilder. Sie zu zeigen, verstößt gegen Anstandsregeln. Auch in Schmerz und Verzweiflung muss die Würde des Menschen gewahrt bleiben. Doch manchmal, sehr selten, überwiegt das Moment des Aufklärerischen. Dann ist die Dokumentation eine exzeptionelle Grenzüberschreitung, die einer besonderen Begründung bedarf.

Ein Anwohnerkollektiv hatte vor einer solchen Gefahr gewarnt

Eine dieser Begründungen lautet: Engagement. Gegen Krieg, Terror, Hunger, Abschottung. Wo das Ereignis ursächlich aber eher auf Natur oder Schicksal verweist, ist Zurückhaltung geboten. Überschwemmungen, Erdbeben, Flugzeugabstürze oder Grubenunglücke machen aus Schaulustigen, die passiv bleiben, Gaffer. Die Ursache des Brandes im Londoner Grenfell Tower ist noch unbekannt. Allerdings hatte ein Anwohnerkollektiv vor einer solchen Gefahr gewarnt.

Die Flut an Elends-, Kriegs- und Katastrophenbildern kann – wie bei Leeloo, dem fünften Element – zu einer Dauerverzweiflung über den Zustand der Welt führen. Das freilich wäre die Folge eines emotionalen Trugschlusses. Nur, weil wir mehr Leid sehen, gibt es nicht mehr Leid. Den Hinterbliebenen der Opfer des Londoner Hochhausbrandes ist das kein Trost. Einen solchen Trost indes durch aufgeregtes Teilen von Tweets leisten zu wollen, wäre erst recht anmaßend.

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