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Zuwendung kann glücklich machen - Pflege durch eigene Kinder auch? Das hängt von der Beziehung ab.
© Mascha Brichta/dpa-mag

Zusammenleben der Generationen: Wir schulden unseren Eltern keine Pflege

Müssen wir unsere Eltern pflegen? Nein, schon weil wir sie nicht mit Kleinkindern verwechseln sollten. Aber wir dürfen. Ein Essay.

Ein Essay von Stephan Haselberger

Manchmal kann man in Familien eine Art generationenübergreifendes Naturgesetz beobachten: Wenn der letzte Enkel endlich trocken ist, brauchen die Großeltern die erste Windel. Als handle es sich um kommunizierende Röhren, deren Gesetzmäßigkeiten auch auf Familien anwendbar sind, tritt das menschliche Werden und Vergehen in seinem physikalischen Prinzip zutage.

Was aber ist zu tun angesichts dieses Prinzips? Wie soll der Mensch sich dazu verhalten – vor allem der Mensch in der Mitte, der vielleicht zugleich in beide Richtungen Windeln wechseln kann, muss, darf – oder auf keinen Fall soll? 

Als der Sohn und Gesundheitsminister Jens Spahn in einer Talkshow im April sagte, er könne sich nicht vorstellen, seinen Beruf aufzugeben, um seine Eltern selbst zu pflegen, machte die Empörung darüber deutlich, dass in Deutschland eine breite Lücke klafft zwischen den geschriebenen und den ungeschriebenen Gesetzen: Die Jungen sorgen für die Älteren, das regelt der Generationenvertrag über die Rente, der Elternunterhalt nimmt die eigenen Kinder finanziell in Haftung, wenn die Eltern nicht aus eigener Kraft für sich sorgen können.

Das Gesetz enthält aber keinen Wickel-Passus, der besagt, dass die Kinder diese Pflege persönlich leisten müssen. Trotzdem, heißt es, wünschten sich das die meisten. Es existieren Erwartungen. Was also schulden wir unseren Eltern?

Aufschlussreicher ist, warum Kinder ihre Eltern pflegen

Nichts, sagt Barbara Bleisch, die in ihrem Buch „Warum wir unseren Eltern nichts schulden“ eben dies argumentiert: Es gibt keine Erbschuld qua Geburt. Die könne nicht einfach daraus abgeleitet werden, dass jemand ein Kind in die Welt setzt und dann seiner Sorgepflicht mehr oder weniger nachkommt.

Wer mit einer Schuld argumentiert, kommt auch schnell an Grenzen. Denn er müsste alles gegeneinander aufrechnen. In der Konkurrenz der Pflichten müssten dann vor- und nachrangige unterschieden werden: Welche Sorge ist die moralisch dringendere: die, für mich selbst zu sorgen, um später nicht dem Staat oder gar meinen Kindern auf der Tasche zu liegen, weshalb ich meinen Beruf nicht aufgeben kann, um fortan familiärer Altenpfleger zu sein? Die Pflicht, für meine Kinder zu sorgen? Für meine Eltern? Welches ist das höhere Gut, wenn die Eltern gegen die Kinder ausgespielt werden?

Natürlich schuldet man seinen Eltern nicht, das eigene Leben, alle Lebensvorstellungen, einfach zu beenden. Und nichts ist einfacher, als angesichts der rein praktischen Widerstände die Pflege der eigenen Eltern zu einem Ding der Unmöglichkeit zu erklären: finanziell, geografisch, sozial. Niemand hat eine Lücke im Leben, in die genau ein bis zwei Pflegefälle passen, bei Paaren bis zu vier. Die Eltern wohnen etwa am anderen Ende der Republik und können kaum in eine Stadtwohnung im vierten Stock ohne Aufzug geholt werden, außerhalb ihres sozialen Umfelds. Mit dem Pflegegeld allein kann man auch keine Arbeit ersetzen und eine eigene Familie unterhalten. Aus der kategorischen Schuld kann man sich einfach herausargumentieren.

Vielleicht muss man sich darum weniger ansehen, warum Leute, die ihre Eltern nicht pflegen wollen, das auch nicht tun müssen. Sondern vielmehr, aus welchen Gründen Kinder, die ihre Eltern pflegen, dieses tun. Dann wird schnell deutlich: Schuld ist der falsche Begriff. Er führt nicht zum Ziel.

Eine Frage der Beziehung

Anfang Juni schrieb die Journalistin Ruth Schneeberger in der „Süddeutschen Zeitung“, wie sie, nach deren Schlaganfall, zehn Jahre lang ihre Mutter pflegte. Sie schrieb diesen Text, weil diese bedingungslose Pflege extrem außergewöhnlich und eben nicht so selbstverständlich ist, wie es die allgemeine Erwartungshaltung und die immer wieder kolportierte Zahl von zwei Dritteln der zu Hause gepflegten alten Menschen suggeriert.

Schneeberger hat mit der Entscheidung, ihre Mutter bei sich in München aufzunehmen, gegen das komplette Unverständnis ihrer Umgebung gehandelt. Sie rät jedem, sich von Anfang an einen Anwalt zu nehmen, um die Krankenkasse auf Pflegeleistungen zu verklagen. „Damit sie davon mürbe wird und nicht ich.“ Das Ganze war überhaupt nur möglich, weil sie selbst keine Kinder hat. Und auch sie kam, obwohl sie sich hervorragend mit ihrer Mutter verstand und ihr Bruder ihr mit der Korrespondenz mit den Ämtern half, an die Grenzen ihrer Kräfte.

Doch zugleich hat es sich für die Autorin immer vollkommen richtig angefühlt, selbst nicht voll zu arbeiten, das Elternhaus zu verkaufen und das Vermögen ihrer Mutter sowie ihr eigenes für diesen Zweck aufzubrauchen. Warum?

Liebe kennt viele Formen - nicht nur die Pflege

Ruth Schneeberger konnte ihre Mutter verstehen. Nach dem Schlaganfall konnte ihre Mutter sich schlecht ausdrücken, den Pflegediensten erschienen ihre Signale frustrierend widersprüchlich. Sie dagegen kannte alle ihre Vorlieben, ihre Art, ihren Humor. Sie führte mit ihrer Mutter nonverbal eine Unterhaltung fort, die zwischen den beiden Jahrzehnte zuvor begonnen hatte. Die Mutter wurde mit ihr wieder ruhig und ausgeglichen.

Weil die beiden auf ein Verhältnis zurückgreifen konnten, das sich in Jahrzehnten zuvor aufgebaut hatte. Schneeberger konnte ihre Mutter lesen und war dadurch tatsächlich in der Lage, sie glücklich zu machen. Glücklicher, als sie es mit einem fremden Pflegedienst je hätte sein können.

Das Wort, das in ihrem Text nicht vorkommt, ist: Pflicht. Geschweige denn Schuld. Schneeberger handelte aus einem inneren Bedürfnis heraus. Nicht ein Gefühl von Schuld, sondern reine menschliche Nähe und auch das Gefühl von Dankbarkeit führen dazu, dass Kinder ihre Eltern selbst pflegen (wollen). Es ist ein positives, kein negatives Gefühl. Ohne dieses Gegengewicht wären die Entbehrungen auch wohl kaum zu schultern.

Wen immer man fragt: Die Antworten zu der Frage, ob jemand seine Eltern selbst pflegen will, fallen sehr verschieden aus. Aber sie kommen spontan und vehement. Da ist der Kollege, der nicht in die USA gegangen ist, als die Gelegenheit sich bot. Er wollte in ihrer Nähe bleiben. Da ist der Mitschüler, der, „so lange mein Vater noch lebt“ nie aus Bonn wegziehen würde. Einige lehnen es kategorisch ab, ihre Eltern in ein Pflegeheim „zu geben“. Sie „bringen es nicht übers Herz.“ Eben weil sie einander ans Herz gewachsen sind in einer 40 bis 70 Jahre langen Beziehung.

Wenn alle pflegen, geht niemand mehr ins Ausland

Ja, es sind radikal subjektive Meinungen, so wie jede einzelne Eltern-Kind-Beziehung subjektiv ist. Denn andere machen es ja eben doch: Sie gehen ins Ausland, obwohl ihre Eltern noch leben. Sonst ginge ja niemand mehr ins Ausland. Es ziehen auch durchaus Leute aus den Wohnorten ihrer Eltern weg, was anderen ganz unmöglich erscheint.

Diese Lebensentscheidungen folgen keiner theoretischen Argumentation. Sie leiten sich auch nicht aus der Geburt ab, sondern sind ein Spiegel der Beziehung, die die Familien in den Jahrzehnten nach dieser Geburt geführt haben. Die Beziehung ist der Schlüssel zur Pflegedebatte.

Wenn in der Debatte immer vom „Zurückgeben“ geredet wird, nimmt man zum Beispiel ganz lebensfern an, dass es sich dabei nur um Gutes handelt. Man solle Eltern zurückgeben, was sie einem gegeben haben. Doch das können viele Eltern gar nicht wollen: In gleicher Münze Vernachlässigung, Übergriffigkeit, Machtmissbrauch, ja einfach pures Desinteresse zurückzuerhalten, kann nicht gemeint sein. Wer hier als Kind nur aus Pflichtgefühl handelt, muss scheitern. Man kann niemanden zur Liebe verpflichten, und aus Liebe heraus muss es doch geschehen, das Kümmern um die Eltern, sonst gehört man schnell zu denen, die ihren Eltern, ehe sie es sich versehen, nicht etwas zurückgeben, sondern etwas heimzahlen. Unter solchen Umständen darf man – zum Besten der Eltern – die Abhängigkeiten nicht einfach umdrehen. Von Quälerei und Not zeugen überforderte Angehörige, die sich aus Pflichtgefühl in den Knoten ihrer ungelösten Konflikte verfangen.

Absurd, dass nur die eigene Pflege glücklich macht

Aber einmal angenommen, die Kinder wollen alles tun, damit es ihren Eltern gut geht. Dann können die Mittel dazu sehr unterschiedlich sein. Wer sagt, nur die persönliche Pflege zu Hause sei Liebe, weiß nichts von der Liebe und den vielen Formen, die sie annehmen kann. Von der Tatsache, dass sie immer nur die Form annehmen kann, die zwischen bestimmten Menschen möglich ist. Warum soll sich die Liebe für die Eltern ausgerechnet in einer Windel, die ich persönlich beseitige, ausdrücken können?

Es ist außerdem eine absurde Vorstellung, dass die eigenhändige Pflege durch die Kinder die Eltern am glücklichsten machen würde. Eine Annahme, die möglicherweise gerade den Eltern nicht gerecht wird. Die Beziehungen, die Eltern mit ihren Kindern pflegen, sind so unterschiedlich wie diese Menschen selbst. Wer glaubt, ihnen die persönliche Pflege zu schulden, muss sich und sie genauso fragen: Darf ich das überhaupt?

Wer einfach behauptet, so sei er halt, der Lauf der Dinge, irgendwann würden die Eltern wieder zu Kindern, und dann wickele man halt seine Eltern, wie sie es mit einem selbst getan haben, der macht es sich zu einfach. Wir sollten unsere Eltern nicht mit Kleinkindern verwechseln. Ein Kind wird in eine Situation hineingeboren, zwischen den Erwachsenen besteht eine Beziehung, die meist etwa 40 bis 70 Jahre gewachsen ist.

Wo liegt in den jeweiligen Beziehungen das Glück?

Die Eltern, auch wenn ihre nachlassenden Körperfunktionen das möglicherweise irgendwann nahelegen, sind in keiner Weise vergleichbar mit Kleinkindern. Ähnlich werden sie ihnen nur im Grad ihrer Abhängigkeit. Der alte Mensch hört nicht auf, ein eigenständiger Mensch zu sein. Die Würde des Menschen ist unantastbar – und im Zweifel wird damit vielleicht der ganze Vater für die Kinder unantastbar, weil er glaubt, sonst seine Würde zu verlieren. Es kann letztlich eine Frage des Respekts sein, die Eltern eben nicht selbst zu pflegen. Ihnen ihre Unabhängigkeit zu lassen schließt die Unabhängigkeit von den eigenen Kindern ein. Möglicherweise ist es für die Eltern sogar eine Zumutung, einzig von der Beziehung zu ihrem Kind abhängig zu werden.

Einmal angenommen, Menschen haben in ihrem Leben auf der Maslow'schen Bedürfnispyramide die höchsten Stufen erklommen: danach strebt der Mensch, sind die elementarsten Bedürfnisse gedeckt, nach der Erfüllung höherer Bedürfnisse. Dazu zählen der Wunsch nach Stärke, Erfolg und Unabhängigkeit. Einmal angenommen, die Eltern von Jens Spahn sind auf dieser höchsten Ebene angelangt. Warum sollte sich das im Alter ändern? Warum sollten sie plötzlich dann am glücklichsten sein, wenn ihr Sohn die Karriere für sie aufgibt, um ihre grundlegenden Bedürfnisse zu erfüllen, die auch jemand anders erfüllen könnte?

Das hohe Bedürfnis der Selbstwirksamkeit

Man darf davon ausgehen, dass die Eltern von Jens Spahn auf ihren Sohn stolz sind. Er hat es zu „etwas“ gebracht. Vermutlich haben sie sich das ihr Leben lang für ihn gewünscht. Können sie nun wollen, dass er das aufgibt? Auch ihren eigenen Wunsch? Die elementarsten Pflegebedürfnisse sind eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung zu einem guten Leben im Alter.

Man muss sich stattdessen ansehen: Wo liegt in den jeweiligen Beziehungen das Glück? Für Ruth Schneeberger lag es in der gelungenen Kommunikation mit ihrer Mutter. Auch sie erfüllte sich in dieser Beziehung Bedürfnisse der höchsten Ebene: Selbstwirksamkeit. Denn sie sah, dass es ihrer Mutter durch ihre Anstrengungen gut ging. Könnten Jens Spahn und alle, die denken wie er, das auch? Könnten sie die Signale ihrer Eltern lesen, wie Schneeberger das bei ihrer Mutter konnte? Könnten sie ihnen durch eigene Pflege überhaupt ein besseres Leben bringen als mit einem Pflegedienst? Oder würden sie ihnen durch ihr Opfer sogar Schuldgefühle aufladen?

Die Mutter von Ruth Schneeberger wurde in der Obhut ihrer Tochter entspannt und glücklich, das wiederum machte die Tochter glücklich. Statt des halben Jahres, das sie laut Ärzten noch zu leben hätte, lebte sie noch unglaubliche zehn Jahre.

Der Pflegebeitrag soll steigen

Jens Spahn saß vier Wochen nach seiner Aussage wieder in einer Talkshow. Dieses Mal sagte er, er werde für seine Eltern „in jeder freien Minute“ da sein. Vermutlich bedeutet das in seinem Beruf, dass er sie nicht pflegt, freie Minuten wird er wenige haben. Inzwischen hat er angekündigt, dass der Pflegebeitrag 2019 um 0,3 Prozentpunkte steigen soll. Was, wenn es das Beste für alle wäre?

Spahn sagt, er habe die Frage der Pflege frühzeitig mit seinen Geschwistern besprochen. Davon abgesehen haben seine Eltern vermutlich mehr von ihrem Sohn, wenn er seine Karriere verfolgt und sie seine Karriere verfolgen können. Vielleicht ziehen sie mehr Befriedigung aus Jens Spahn, ihrem Sohn und Gesundheitsminister, als aus Jens Spahn, ihrem Sohn und Altenpfleger.

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