Pflegenotstand in Deutschland: Warum junge Menschen trotz allem in die Pflege gehen
Nähe und Intimität – aber auch Eiter und Exkremente: Die Hälfte aller Pflegenden würde jungen Menschen von ihrem Job abraten. Lea Friedrich hat sich trotzdem dafür entschieden.
Als Lea Friedrich aus ihrer Heimat Unterfranken nach Berlin kam, hatte sie einen Traum. Sie wollte Theaterregie studieren. Kreativ arbeiten, frei gestalten und sich künstlerisch ausleben. Das war der Plan. Vier Jahre ist das her. Jetzt ist es 6.45 Uhr und sie läuft in ihrem weißen Kittel und mit einem Rollwagen, bepackt mit Medikamenten und Desinfektionsmittel, auf Station 27 hin und her. DRK Kliniken Westend. Innere Medizin. Gastroenterologie. Zehn Patienten stehen auf ihrer Liste. Alle alt, viele mehrfach erkrankt, drei mit höchster Pflegestufe.
Die 24-Jährige, blond, Pony, einige Sommersprossen, wird sie in den kommenden acht Stunden versorgen. Sie wird Urin im Zimmer von Herrn Badow vom Boden wischen, wird die mit Kot befleckten Unterlagen von Herrn Lotz und Herrn Kühne wechseln, wird den künstlichen Darmausgang von Frau Müller reinigen und die lilarot gefärbten, eitrigen Beine von Herrn Konopke säubern. Danach wird sie sich ein Eis kaufen, lächeln und sagen: „Heute war ein guter Tag.“ An anderen Tagen kommt Lea Friedrich nach Hause und weint.
Alle haben ihr davon abgeraten, Krankenpflegerin zu werden. Die Familie, die Freunde und ihr damaliger Freund, der selbst als Pfleger arbeitete. „Mach’s nicht“, hatten sie gesagt. Aber da hatte sie ihre Entscheidung schon getroffen. Weil sie die Geschichten, die ihr Freund vom Stationsalltag erzählt hatte, faszinierten.
Nähe. Intimität. Das was zählt.
Pflegende raten jungen Menschen von ihrem Job ab
Sie ist bei ihrer Entscheidung geblieben, hat die Ausbildung im Gegensatz zu vielen anderen nicht abgebrochen. Menschen wie Lea Friedrich werden gebraucht: Die Zahl der pflegebedürftigen und hochbetagten Patienten in Deutschland steigt. Die Diskrepanz zwischen Fachpersonalangebot und -nachfrage ebenso.
Weil die Belastung hoch und die Anerkennung gering ist, will kaum einer Pfleger werden. Weil kaum einer den Beruf ausüben will, steigt die Belastung. Bereits jetzt fehlen den deutschen Krankenhäusern, Pflegediensten und -heimen mindestens 35.000 Pflegekräfte. Im Jahr 2030 könnten es einer Studie der Unternehmensberatung PWC zufolge mehr als 300.000 sein. Fast die Hälfte der Pflegenden würde junge Menschen davor warnen, ihren Beruf zu ergreifen.
In Westend fehlen derzeit 40 Pflegekräfte. Es sei jetzt ihre Aufgabe, in Extremsituationen für die Menschen da zu sein, sagt Lea Friedrich. Viele hier sind pflegebedürftig, manche sterben. „Präfinal“ heißt es von Zeit zu Zeit bereits bei der Aufnahme. Dann weiß. Lea Friedrich, dann wissen alle, dass es nicht mehr lange dauern wird.
Wenn sie jemand fragt: „Werde ich sterben?“, muss sie manchmal sagen: „Ja, das kann schon sein.“
"Große Sinnhaftigkeit"
„Das gehört dazu“, sagt Lea Friedrich und meint damit zu ihrem Leben und zu ihrem Job zugleich. Zuhören. Hand halten. In die weiß-blauen Räume der Klinik will sie Gelassenheit und ein bisschen Frohsinn bringen. „Große Sinnhaftigkeit“, nennt sie das. Doch das ist schwierig in einem System, das dafür keine Zeit vorsieht.
In manchen Nächten hat sie diesen Albtraum. Alle Patienten um sie herum liegen in ihren Ausscheidungen. Sie kommt nicht nach, sie schafft es nicht alle zu reinigen, alle zu säubern, egal wie sehr sie sich anstrengt. Dabei wäre das doch das Mindeste. „Ich habe Angst, dass wir in eine solche Situation gebracht werden“, sagt sie. „Dass das irgendwann so ist.“
Lea Friedrich hat sich vorgenommen, etwas zu verändern. Und zwar nicht allein.
Sie kämpfen als Team gemeinsam
Vor gut drei Jahren hat sie mit ihren Mitauszubildenden der Pflegeschule der DRK-Schwesternschaft Berlin einen Plan gefasst. Alle Azubis aus dem Betrieb holen und zeigen: Ohne uns läuft nix mehr. Es war das erstes Ausbildungsjahr, und sie wurden bereits als volle Pflegekräfte eingesetzt. Keine Anleitung, kaum Hilfe, wenig Zeit. Dagegen wollten sie sich wehren. Die Lehrerin empfahl: Machen statt meckern. Sie haben dann also doch nicht gestreikt. Sondern eine Schülerkonferenz geplant. Vorschläge gemacht.
Mittlerweile gibt es im DRK Westend eine Kreativwerkstatt, in der Lea Friedrich und ihr Kollege Ideen umsetzen können. Hier haben sie etwa einen Comic über die Kinderstation gezeichnet und Workshops geplant. Außerdem haben die Nachwuchspflegenden einen Stammtisch gegründet, bei dem sie zum Beispiel den „Walk of Care“ organisierten, eine Demo für menschenwürdige Pflege. Anfang Mai sind sie auf die Straße gegangen, um gegen den Pflegenotstand und für bessere Ausbildungsbedingungen zu demonstrieren. Sie sind keine Einzelkämpfer, das ist ihnen wichtig. Egal aus welcher Klinik, egal von welcher Station sie kommen: Die Probleme sind die gleichen. Überall.
Ihre Kampfansage haben die jungen Pflegenden nicht nur auf Plakate, sondern auch in Lieder gepackt.
„Pflege braucht dich, warte bloß nicht“, singt Lea Friedrich in einem, „die Zeit ist knapp, dann ist schachmatt, dann haben wir’s verpasst. Der Zusammenbruch ist nah.“
Sie arbeitet aktuell im Springerpool der DRK Kliniken, wird dort eingesetzt, wo Personal gebraucht wird. Zwei Monate hier, zwei Monate dort. Vier Tage die Woche, acht Stunden am Tag, nicht selten sind es mehr. Macht 1500 Euro netto im Monat. Einen Tag in der Woche hat sie sich für ihr Engagement freigehalten. Es ist auch ein bisschen Selbstschutz. Die anderen verbringt sie in der Kreativwerkstatt und auf Station.
In Zimmer 15 wartet Herr Konopke. Schnurrbart, kaum mehr Haare, Alkoholsucht, Nikotinsucht, Demenz. Höchste Pflegestufe. „Hallo mein Lieber“, begrüßt ihn Lea Friedrich, als seien sie alte Bekannte, sie streicht ihm über seinen blassen Arm. Er öffnet die Augen. „Geht’s ihnen gut?“ keine Antwort. „Haben sie heute Schmerzen?“ Er bleibt stumm, greift nach ihrer Hand und hält sie fest. Heute kann sie einen Moment da sein. Ihn festhalten. Sie reicht ihm etwas Wasser. „Schwupp, das hilft Ihnen.“ Spritze in den Oberarm. „Schwupp, schon vorbei.“
„Au!“ Er kann also reden, will nur nicht. Er guckt und sie guckt zurück.
Dann muss sie fürs Erste weiter. Später, wenn sie seine Wunden versorgt, wird er schreien. „Verflucht nochmal! Sie sind fürchterlich!“
Juti. Okidoki. Gleich geschafft.
In der Patientenakte liest Lea Friedrich, dass Herr Konopke allein zu Hause lebt, allein dreimal täglich vom Pflegedienst besucht wird. Hände desinfizieren. Lächeln. Weiter geht’s.
In Zimmer 10 wartet Herr Schmidt und erzählt mit Begeisterung von den Salamistullen, die er gestern gegessen hat. Er habe „richtig reingehauen“, sagt er. „Das freut mich“, sagt Lea Friedrich. In der Krankenakte liest sie, dass am Tag zuvor Metastasen in seiner Leber festgestellt wurden. Es ist nicht notiert, ob der Patient informiert wurde. Ohne Anweisung der Ärzte wird sie nichts sagen.
Vier Fachkräfte für 23 Patienten ist Luxus
Jeden Patienten soll Lea Friedrich während ihrer Schicht zweimal sehen. Auf der ersten Tour verteilt sie Medikamente, misst die Vitalwerte, lagert die Bettlägrigen. Dann 30 Minuten Frühstückspause mit den Kollegen. Zweite Tour: Wunddokumentation und Verbandswechsel. Dazwischen Patienten, die im Flur vorbei spazieren, weil ihre Infusion durchgelaufen ist, der Sohn von Frau Obermayer, der sich um seine Mutter sorgt, und die Ärztin, die kurz erklärt, dass Frau Blume an diesem Tag doch nichts essen darf und Herr Schulz am nächsten entlassen wird. Lea Friedrich schreibt mit, in verschiedenen Farben: Rot für medizinische Absprachen, Schwarz für generelle Infos, Grün für die Versorgungs-To-do-Liste.
Die Pflegehilfskraft Ramiza steht Lea Friedrich heute zur Seite, springt ein, wenn Patienten klingeln. Die beiden sind für die vordere Seite des Flurs verantwortlich, die hintere, auf der weitere 13 Patienten liegen, übernehmen zwei andere Kolleginnen. „Luxus“, sagt Lea Friedrich. Volle Besetzung, wenige Patienten, außerdem keine Visiten. „Da hat man auch mal fünf Minuten.“
An Tagen wie diesen hat Lea Friedrich Zeit, die Geschichten ihrer Patienten zu hören. Die vom Sohn, der gerade Urlaub in Griechenland macht. Die von der Tochter, die die schönen Blumen vorbeigebracht hat. Nein, nicht aus dem Garten, sondern von Blume 2000. Die Geschichte der Ehefrau, die auch sicher heute vorbeikommen werde. Macht sie schließlich immer. Für Lea Friedrich sind diese Momente ein Grund, warum sie ihren Beruf ergriffen hat.
Zwischen Burn-Out und Cool-Down
Die Bundestagsabgeordnete Elisabeth Scharfenberg hat 2016 eine Studie in Auftrag gegeben, um herauszufinden, was Menschen noch dazu bewegt, den Pflegeberuf zu ergreifen. Fast alle Befragten, 98 Prozent, stimmten der Aussage zu, dass sie mit Menschen arbeiten wollen. 96 Prozent sagten, dass sie etwas Sinnvolles mit ihrer Arbeit tun wollen.
Beim Stammtisch der Nachwuchspflegenden sieht man das ganz ähnlich. Dort ist von einem „Beruf der Superlative“ mit viel Verantwortung die Rede, der auch noch krisensicher sei. In nur wenigen Jobs sei man dem Menschen so nah; „körperlich, psychisch und seelisch“. Außerdem sei Pflege „geil fürs Karma“, weil es so ein sinnvoller Beruf sei. Am schönsten sei der Job, wenn man Zeit habe, mit den Patienten zu reden oder ihnen einen Wunsch erfüllen kann, ohne dabei jemand zu vernachlässigen. So viel zur Theorie.
Jeder muss haben, was er zum Leben braucht
Wenn Lea Friedrich von einem Tag erzählen soll, an dem wirklich alles schiefgelaufen ist, erzählt sie von einem Wochenenddienst. Spätschicht. Jedes Bett ist belegt, sie und ihre Kollegin sind zu zweit auf der Station. Aufteilung in der Flurmitte. Den hinteren Teil übernimmt die Kollegin, den vorderen übernimmt sie. 15 Patienten warten da. Neun pflegebedürftig, sieben außerdem dement. Zu viele, zu betreuungsintensiv. „Kein Gesetz verbietet das“, sagt Lea Friedrich. Und deshalb muss sie da eben durch.
In jener Nacht hört es im Schwesternzimmer nicht auf zu klingeln. Wenn man zu zweit ist, muss man springen. Aus einem der Badezimmer läuft Wasser. Unter der Dusche steht ein Patient, die völlig durchnässte Kleidung am Körper, in seiner Hand hat er noch den Duschkopf. „Alles gut“, sagt er. Sein Zimmernachbar hat derweil seine Windel ausgezogen. Kot ist über den ganzen Boden verteilt. „Ich glaub’, ich werfe gleich das Handtuch“, sagt er. „Würde ich am liebsten auch“, denkt Lea Friedrich.
An solchen Tagen hat sie keinen Überblick mehr. Dann weiß sie nicht, wer eigentlich in welchem Zimmer liegt, dann hat sie neu aufgenommene Patienten noch gar nicht gesehen, kennt keine Namen. Gespräche finden an solchen Tagen nicht statt. Dann zählt nur, dass jeder hat, was er zum Leben braucht. Das sind die Tage, an denen sie abends nach Hause kommt und weint.
Zeit ist kein Faktor
„Eigentlich gibt es nur zwei Möglichkeiten, wenn man diesen Job macht“, sagt sie. „Entweder man bekommt ein Burn-Out oder ein Cool-Down.“ Entweder gibt man so viel, dass man nicht mehr kann und kaputtgeht, oder man verhärtet innerlich und schraubt die eigenen Ansprüche nach unten. Sie will nicht, dass ihr das passiert. Deswegen engagiert sie sich. „Das wird“, sagt sie.
Seit 2005 erhalten Kliniken Pauschalbeträge „pro Fall“. Der Fokus, das Grundgeschäft, liegt auf der medizinischen Versorgung. Wie pflegeintensiv der Patient ist, spielt keine Rolle. Zeit ist kein Faktor, Seelsorge im Budget nicht inbegriffen. „Wir brauchen ein komplett neues System“, sagt Lea Friedrich. „Wir müssen den Beruf aufwerten, müssen selbstbewusst zeigen, wie viel Verantwortung wir tragen und fordern, dass wir entsprechend entlohnt werden.“ Dann würde die Pflege wieder attraktiver.
Doreen Fuhr weiß, dass alle über ihrem Limit arbeiten. Seit 2012 leitet sie als Vorsitzende der Berliner DRK-Schwesternschaft den Pflegebereich. Mehr als 1350 Pflegekräfte sind in ihren Berliner Kliniken angestellt, 400 von ihnen unter 30 Jahren. Viele Stellen sind nicht besetzt. Nicht, weil sie die Stellen nicht besetzen möchte, sondern weil sie es nicht kann. „Ich habe die Pflegekräfte nicht. Und ich weiß nicht, wo ich sie hernehmen soll“, sagt sie. Sie seien bereits gezwungen, Betten leer zu lassen, weil Personal fehle. Langfristig, davon ist sie überzeugt, könne nur ein neues Finanzierungssystem der Gesundheitspolitik das Problem lösen.
"Es braucht eine Revolution"
„Niemand traut sich, eine radikale Entscheidung zu treffen“, sagt Lea Friedrich. Dabei brauche es eine Revolution.
Bis die kommt, zehrt Lea Friedrich von den kleinen Glücksmomenten, die sie auch erlebt. Von der Begegnung mit dem Patienten, der kaum Deutsch spricht, aber zumindest das Wort „danke“ kennt und credoartig wiederholt, weil er einen Kaffee bekommen hat. Von der Frau mit der Berliner Schnauze, die ohne dass man sie gefragt hat, sagt: „Ick kann mich nicht beschweren. Ick werd’ hier jut versorgt.“ Von dem Patienten, der sein erstes Eis seit Langem essen darf und es sichtlich genießt.
Aber, sagt Lea Friedrich, realistisch betrachtet müsse man in diesem Job oft mehr geben, als man bekomme. Das sei eben so.
*Alle Patientennamen sind geändert.