Klimaschutz in Deutschland: „Wir müssen unsere Emissionen pro Dekade halbieren“
Dirk Messner, Präsident des Umweltbundesamtes, erklärt im Interview, mit welchen Maßnahmen ein künftig höheres deutsches Klimaziel eingehalten werden könnte.
Herr Messner, Mitte März hat das Umweltbundesamt seine Klimabilanz 2020 vorgestellt, die alle Treibhausgasemissionen Deutschlands zusammenfasst. Demnach haben die Sektoren Energie, Verkehr und Industrie ihre CO2-Budgets eingehalten, der Gebäudesektor nicht. Wie groß war bei dieser Entwicklung der Corona-Effekt?
Wir schätzen ihn auf ein Drittel. Besonders der erste Lockdown im Frühling hat maßgeblich zu einem Rückgang des Energieverbrauchs und des Verkehrsaufkommens geführt, dort sehen wir klar den Einfluss der Pandemie. Davon ist aber vieles zunächst ein Einmaleffekt.
Haben Sie eine Prognose, wie die nächste Klimabilanz ausfallen könnte?
Das lässt sich nicht vorhersagen. Wir wissen zum Beispiel nicht, ob und wie es weitere Lockdowns geben wird. Aber klar ist, dass es vor allem im Verkehrssektor eng werden wird, da der Verkehr dieses Jahr weniger eingeschränkt ist. Es besteht also durchaus die Gefahr, dass wir 2021 in einigen Bereichen wieder mehr Treibhausgase ausstoßen als 2020.
Am Donnerstag hat der Expertenrat für Klimafragen seine Analyse Ihrer Klimabilanz präsentiert. Dabei ist die Datenlage nach Aussagen des Umweltbundesamts noch gar nicht vollständig. Welchen Sinn macht das dann?
Die Daten sind komplett, aber in der Tat nur vorläufig. Aber sie weichen in der Regel nur gering von den finalen Daten ab. Durch das Klimagesetz haben wir jetzt außerdem einen gewissen Zeitdruck. Es sollen ja innerhalb von drei Monaten Sofortprogramme aufgelegt werden – und das ist auch gut so.
Wenn das neue Klimaziel der EU für 2030 feststeht, wird auch das deutsche Klimaziel angehoben werden müssen. Wie hoch sollte das sein?
Wir halten 70 Prozent für nötig und für möglich – dafür müssen wir allerdings ambitionierter sein, in allen Sektoren. Das wäre der notwendige Zwischenschritt, wenn wir bis 2050 klimaneutral sein wollen. Denn das heißt, dass wir unsere Emissionen pro Dekade halbieren müssen.
Wie lassen sich denn aus Ihrer Sicht möglichst schnell die Emissionen in den problematischen Bereichen Gebäude und Verkehr senken?
Im Mobilitätssektor ganz klar durch Elektrifizierung! Die gute Nachricht ist, dass diese Kehrtwende längst eingeläutet ist. Vor zehn Jahren waren weltweit gerade einmal 17.000 E-Autos zugelassen. 2019 waren es schon 7,2 Millionen. In Deutschland wollen wir bis 2030 bei zehn bis 14 Millionen liegen. Außerdem sind die Batteriekosten im selben Zeitraum um 85 Prozent gesunken. Für die Automobilhersteller ist die Elektromobilität daher längst der neue Kompass. Genauso wichtig ist aber auch der Umbau des Verkehrssystems auf mehr ÖPNV. Mit 150 Autos pro 1000 Einwohner kämen wir nach unseren Modellen aus. Derzeit liegen wir noch bei 570 Autos.
... und im Gebäudesektor?
Da sehe ich drei sehr wichtige Maßnahmen: Die erste wäre die Ausstattung aller Neubauten und später auch der renovierten Gebäude mit Solarpanelen. Außerdem sprechen wir uns für einen CO2-Preis auf Gebäude aus, eine Klima-Gebäude-Abgabe sozusagen. Darin würden Gebäude, die energieeffizienter sind, besser gestellt, um Anreize für Renovierungen zu schaffen. Wir sanieren nämlich noch viel zu wenig und viel zu langsam. Und schließlich bleibt der Bau der Häuser selbst, der rund die Hälfte des Energiebedarfs im Lebenszyklus eines Gebäudes ausmacht. Wir müssen also klassische Baustoffe wie Stahl, Zement oder Glass dekarbonisieren und zugleich mehr auf klimaneutrale Baustoffe setzen, beispielsweise auf Holz. Außerdem müssen wir das Baustoffrecycling voranbringen.
Trotzdem bliebe ein Klimaziel von 70 Prozent ja hoch ambitioniert. Setzen Sie auf dem Weg dahin eher auf Zuckerbrot oder Peitsche?
Wenn ich sagen müsste, was der allerwichtigste Hebel ist, dann wäre das die CO2-Bepreisung als marktwirtschaftliches Instrument. Aber es braucht auch Ordnungsrecht. Wir brauchen den Kohleausstieg bis 2030 und auch Verbrennerautos sollten nach 2030 nicht mehr zugelassen werden. Auch im Bereich der Gebäudeenergiestandards braucht es klare Gesetze.
Also kein Zuckerbrot?
Doch, das ist, was ich Gestaltungsrecht nennen würde. Also die zielgerichtete Ausrichtung aller Politikfelder auf die Stärkung der Klimaverträglichkeit: Innovations- und Technologiepolitik, Infrastrukturpolitik, Stadtentwicklungspolitik.
Am Ende kommt es aber auch auf den Konsum jedes Einzelnen an. Haben wir mit dem Brennstoffemissionshandelsgesetz, durch das unter anderem Diesel und Benzin absehbar teurer werden, schon genügend Anreize geschaffen, das Konsumverhalten zu verändern?
Nur teilweise. Wenn man einen wirklich effektiven CO2-Preis wollte, müsste der noch in diesem Jahrzehnt in den dreistelligen Bereich klettern. Davon sind wir noch weit entfernt. Daher brauchen wir eine deutliche Anhebung des Preispfades und sollten die verpflichtende Einhaltung der Emissionsobergrenzen beim nationalen Emissionshandel vorziehen. Ein anderes wichtiges Element wäre eine sozial-ökologische Steuerreform – also den Verbrauch von ökologischen Ressourcen stärker besteuern und dabei menschliche Arbeit steuerrechtlich entlasten. Beispielsweise indem mehr Umsatzsteuer auf umweltschädliche Produkte anfällt und umweltschonende Produkte günstiger sind. Gleichzeitig braucht es dann Entlastungen an anderen Stellen. Die können zum Beispiel finanziert werden, wenn man umweltschädliche Subventionen abschafft.
Lassen Sie uns noch auf die supranationale Ebene schauen. Im Juni wird die EU-Kommission vorschlagen, wie ein europäischer Emissionshandel (ETS) für den Gebäude- und Verkehrssektor aussehen könnte. Würde unsere deutsche CO2-Bepreisung damit überflüssig?
Das kommt sehr darauf an, was die Kommission plant und inwiefern das mit unserem bestehenden System kompatibel ist. Möglicherweise schlägt sie auch zwei separate Zertifikatemärkte vor, weil die Vermeidungskosten in beiden Sektoren recht unterschiedlich sind. Vielleicht wird es auch eine Art Gateway-System geben, also eine Verlinkung zum ETS. Wichtig wäre aus unserer Sicht, dass es eine Trennung zum jetzigen ETS gibt, damit nicht die volle Last auf der Industrie liegt. Denn dann würden die Anreize, den Gebäude- und den Verkehrssektor zu dekarbonisieren, viel zu spät einsetzen.
Kommende Woche lädt der US-amerikanische Präsident Joe Biden zu einem internationalen Gipfel und wird seine Pläne für die neue Klimapolitik der USA vorstellen. Was erwarten Sie sich davon?
Eine Menge. Es ist von größter Bedeutung, dass Europa und die USA zu einem transatlantischen Gleichschritt im Klimaschutz finden, beispielsweise in Sachen CO2-Preis oder bei Klimaschutzstandards. Das würde unsere Diskussionen um Wettbewerb und Grenzausgleichmechanismen ungemein erleichtern. Letztere sind nämlich eine gefährliche Angelegenheit und es wäre am besten, wenn wir so ein Instrument gar nicht bräuchten.
Florence Schulz