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Andrea Nahles (SPD), seit Dezember 2013 Bundesministerin für Arbeit und Soziales, in ihrem Büro in Berlin-Mitte.
© Thilo Rückeis

Arbeitsministerin Andrea Nahles im Interview: "Wir müssen über Verteilung reden“

Arbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) warnt im Interview vor einer „neuen Oligarchie der Reichen“ und spricht über ihre Pläne, ein weiteres Aufweichen der Tarifverträge zu verhindern.

Die Bundesregierung hat in ihrem Armuts- und Reichtumsbericht zum ersten Mal auch die Reichen erfasst. Wie wird man reich in Deutschland?

Mir war es sehr wichtig, etwas über Reichtum in Deutschland zu erfahren. Da liegt nach wie vor viel im Dunkeln. Wir haben dazu kaum Daten. Rund 150 Menschen mit einem frei verfügbaren Vermögen von mindestens einer Million Euro haben sich bereit erklärt, an einer Studie teilzunehmen, die ich beauftragt habe; deshalb wissen wir, dass zwei Drittel dieser Menschen durch Erbschaft zu ihrem Reichtum gekommen sind. Außerdem zählen deutlich mehr Selbständige zu den Reichen als Arbeitnehmer.

Hat Sie das im Ernst verblüfft?

Dass es sich größtenteils um leistungslos erworbenes Vermögen handelt schon. Wir wissen zudem, dass 50 Prozent des gesamten Nettovermögens in der Hand von nur zehn Prozent der Bevölkerung liegen. Die unteren 50 Prozent der Bevölkerung besitzen zusammen genommen hingegen nur ein Prozent des Vermögens. Wir beobachten eine Refeudalisierung der Gesellschaft, ich habe das etwas zugespitzt „neue Oligarchie der Reichen“ genannt.

Oligarchie klingt nach Schurken…

Das ist nicht abwertend oder moralisierend gemeint. Es geht nicht um eine Neid-Debatte. Aber diese Entwicklung ist problematisch. Studien belegen, dass ungleiche Gesellschaften nicht nur ungerecht, sondern auch ökonomisch weniger stabil sind. Reiche konsumieren zum Beispiel anteilig viel weniger als Normalverdiener. Das ist schlecht für die Binnennachfrage. Außerdem haben Reiche bessere Chancen, ihre Interessen durchzusetzen – auch das haben wir ihm Rahmen einer Studie beleuchtet.

Das ist der Befund. Aber wie lautet die politische Schlussfolgerung?

Ich möchte keine duale, polarisierte Gesellschaft. Ich möchte auch kein duales Wachstum – viel für die einen, mickerig für die anderen. Ich möchte ein inklusives Wachstum, an dem alle einen Anteil haben. Wertschöpfung muss gerechter verteilt werden. Bei neoliberalen Ökonomen schwingt immer der Gedanke mit, dass Wachstum nur um den Preis von Ungleichheit zu haben sei. Der historische und internationale Blick zeigt: es geht auch anders. Ganz simpel gesagt: Wir müssen über Verteilung reden.

Verteilung von was – Löhne und Einkommen, Steuern, Sozialleistungen?

In allererster Linie muss es um die Primärverteilung gehen, also um Löhne. Was mich überrascht und alarmiert hat an den Befunden des Berichts war, dass die Reallöhne der unteren 40 Prozent der Beschäftigten seit Mitte der 90er Jahre stagnieren oder sogar ins Minus gerutscht sind, während die oberen 60 Prozent zugelegt haben. Wir haben eine sehr starke Lohndifferenz. Der erste Weg, Verteilung zu verändern, muss über die Löhne gehen.

Verteilung ist der falsche Begriff. Es geht um angemessene Honorierung von Leistung. Verteilung ist das, was die Neoliberalen betreiben, von unten nach oben.

schreibt NutzerIn stefano1

Aber beruht nicht diese Differenz wesentlich darauf, dass heute Menschen im Niedriglohnbereich arbeiten, die früher arbeitslos waren?

Die Zunahme bei der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung ist erfreulich ebenso wie der Rückgang bei der Langzeitarbeitslosigkeit. Während wir im Jahr 2007 noch 1,7 Millionen Langzeitarbeitslose verzeichnen mussten, sind es heute weniger als eine Million. Diese Menschen sind natürlich eher im Niedriglohn-Bereich untergekommen als in Top-Jobs. Das rechtfertigt aber nicht die Lohnspreizung als solche. Der Mindestlohn hat gezeigt, dass höhere Löhne Beschäftigung nicht gefährden.

Schön und gut, aber wie groß ist denn nun das Problem?

Die Antwort ergibt sich aus den Fakten, die ich genannt habe: das Auseinanderdriften der Löhne ist real. Es darf nicht sein, dass nur die oberen Lohngruppen vom Aufschwung profitieren und die unteren Lohngruppen davon abgekoppelt werden. Bei bestimmten Branchen – Handel, Logistik und vielen anderen Dienstleistungen – können wir den Rückgang der Reallöhne besonders stark beobachten. Da müssen wir etwas tun.

Deutschland auf dem Weg ins Elend?

Ich will keine Elendsdebatte nach dem Motto „Alle werden immer ärmer“ – das ist Unsinn. Die politische Frage lautet: Was müssen wir tun, damit unser Land zusammenbleibt – ökonomisch, aber auch gesellschaftlich und politisch. Der Mindestlohn war ein wichtiger Schritt, die die Verbesserungen für Leiharbeitnehmer und Werkvertragsnehmer auch. Aber das reicht noch nicht.

Sind mehr Sozialleistungen ein Weg?

Man kann nicht staatlich heilen, was in der Lohnpolitik schief geht. Wer das versucht, wird spätestens bei der nächsten Rezession böse erwachen, wenn er feststellt, dass ihm dann Geld fehlt. Mit derlei Versprechen kann von mir aus die Linkspartei hausieren gehen. Mein Ziel ist es, Probleme zu lösen, bevor sie entstehen.

Manche in der SPD wollen Geringverdiener bei den Sozialabgaben entlasten …

Wir müssen den Druck von der arbeitenden Mitte nehmen. Steigende Mietpreise, Steuern oder Bildungskosten spielen da neben Sozialabgaben eine große Rolle.

Und die Steuerpolitik?

Steuern auf Kapital dürfen nicht niedriger sein als auf Arbeit. Ich schlage außerdem einen „Pakt für anständige Löhne“ vor. Dafür müssen sich alle an einen Tisch setzen, auch die öffentlichen Arbeitgeber, die mitunter auch kein gutes Vorbild abgeben.

So ein Pakt mag ja nützlich sein. Aber muss nicht gerade die SPD darauf bestehen, dass Lohnfindung Tarifsache bleibt?

Wir haben die gute Tradition, dass die Löhne Sache der Tarifparteien sind. Aber die Tarifbindung lässt erschreckend nach. Zu Beginn der 80er Jahre lag sie noch bei knapp über 90 Prozent, heute liegt sie im Westen bei unter 60, im Osten sogar bei unter 50 Prozent. Die Politik kann dies nicht per Gesetz ändern, aber sie kann Anreize schafft, Tarifverträge zu schließen und Tarifpartnerschaft stärken. Ich habe dies mit mehreren Gesetzen getan. Wir müssen Tarifverträgen einen Vorteil einräumen.

Ein Grund für die Tarifspreizung in Deutschland ist der gestiegene Anteil von Teilzeitjobs. Wieso wollen Sie das Problem mit dem Recht auf befristete Teilzeit vergrößern?

Das Recht auf Teilzeit gibt es schon lange. Mit geht es nun um das Recht, aus der Teilzeit wieder herauszukommen. Mein Ziel ist, dass insbesondere Frauen nicht mehr in der Teilzeitfalle hängen bleiben, nur weil sie sich einmal dazu entschlossen haben, ihre Arbeitszeit zu reduzieren. Daher sollen sie das Recht bekommen, mit dem Arbeitgeber bei Eintritt in die Teilzeit auch den Zeitpunkt der Rückkehr in Vollzeit zu verabreden. Wir wissen, dass rund 750000 Teilzeitkräfte gerne länger arbeiten würden. Das spüren sie auch auf dem Lohnzettel.

Die Union will Betriebe unter 200 Mitarbeitern davon ausnehmen, Sie bestehen auf einer 15-Mitarbeiter-Grenze. Lohnt diese Differenz den Streit?

Mir liegt viel daran, noch in dieser Legislatur zu einer Lösung zu kommen. Ich habe mich deshalb am Dienstag nochmals mit Kanzleramtschef Peter Altmaier und den Sozialpartnern getroffen und Kompromissmöglichkeiten ausgelotet. Ich bleibe dran. Und was die von Ihnen angesprochene Grenze anbelangt: Wir erkennen an, dass kleine Betriebe sich schwerer tun, Teilzeit zu organisieren. Die 15-Mitarbeiter-Schwelle gilt daher schon für das bestehende Teilzeitrecht. Wenn wir aber auf 200 gingen, würden 60 Prozent der Beschäftigten von diesem Recht ausgeschlossen. So ein Placebo-Gesetz mache ich nicht mit. Ich würde dieses Gesetz gerne noch umsetzen, aber wenn es mit der Union nicht mehr zu machen ist, dann machen wir es nächstes Jahr mit Martin Schulz als Kanzler!

Apropos Martin Schulz – das „Arbeitslosengeld Q“, das der SPD-Kandidat plant, nützt frisch arbeitslos Gewordenen, nicht aber Langzeitarbeitslosen.

Qualifizierung ist wichtig, um gar nicht erst lange arbeitslos zu bleiben. Ich habe außerdem erst kürzlich ein Konzept vorgestellt, um Langzeitarbeitslosen eine echte Chance auf soziale Teilhabe am Arbeitsmarkt zu ermöglichen. Wir müssen endlich ehrlich sagen, dass wir diesen Menschen bislang kein passendes Angebot machen. Wir bieten Maßnahmen an, um sie in den ersten Arbeitsmarkt zu integrieren. Viele schaffen das aber nicht auf Anhieb, etwa weil sie gesundheitlich eingeschränkt sind. Für sie brauchen wir eine öffentlich geförderte Beschäftigung.

An was für Jobs denken Sie da?

Ich war neulich in Dortmund, dort gibt es zum Beispiel Fahrgastbegleiter für Busse. Die helfen Älteren mit Rollator oder Menschen mit Behinderungen beim Ein- und Aussteigen. Arbeit gibt es genug, auch bei den Kommunen. Und es ist allemal besser, Arbeit zu finanzieren, statt das Geld in Transfers zu stecken.

Bleibt nicht die Hauptaufgabe eher, neue Arbeitslosigkeit zu verhindern, etwa als Folge der Digitalisierung?

In der Tat. Und das beschäftigt mich sehr. Wir werden in Zukunft immer weniger einfache Jobs haben. Aber auch anspruchsvolle Tätigkeiten werden sich wandeln. Es wird deshalb darauf ankommen, den Betrieb nicht nur als Beschäftigungsort zu betrachten, sondern als Lernort zu begreifen. Das gilt für Beschäftigte wie für Betriebe. Denn Weiterbildung und Qualifizierung werden in Zukunft das alles Entscheidende sein. Ich plädiere in der nächsten Legislaturperiode deshalb für gemeinsame Anstrengungen von Politik, Wirtschaft und Betriebsräten. Denn wenn ich mich als Arbeitsministerin alleine hinstelle und rufe: „Leute, qualifiziert euch!“ – hilft das wenig!

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