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Udo, ein Obdachloser, sitzt im Winter in Berlin an der Spree im Regierungsviertel und bittet um Unterstützung.
© Kay Nietfeld/dpa

Armuts- und Reichtumsbericht: Es fehlt nicht an statistischen Daten, sondern an politischen Taten

Kurz vor knapp hat die große Koalition ihren Armutsbericht fertig. Doch viel ist vom Ursprungsentwurf nicht übrig. Das Werk ist an entscheidender Stelle entschärft. Ein Gastkommentar.

Jede Regierung soll zur Mitte der Wahlperiode einen Armuts- und Reichtumsbericht vorlegen. So hat es 2001 der Bundestag beschlossen. Wie ihre schwarz-gelbe Vorgängerregierung ließ sich die seit Dezember 2013 regierende große Koalition damit aber sehr viel Zeit. Mit einer Rekordverspätung von anderthalb Jahren billigt das Bundeskabinett heute endlich das Dokument über die Lebenslagen in Deutschland.

Was sich ebenfalls glich: Wieder wurden schon vor der endgültigen Ressortabstimmung zentrale Aussagen im ersten Entwurf des Berichts gestrichen, den das Arbeits- und Sozialministerium hatte erarbeiten lassen. Schon unter Schwarz-Gelb waren im Spätsommer 2012 nach einer Intervention des FDP-Wirtschaftsministers und Vizekanzlers Philipp Rösler mehrere Passagen des Ursprungsentwurfs getilgt oder abgeschwächt worden. Sie betrafen den ausufernden Niedriglohnsektor, die zunehmende Lohnspreizung und die extreme Schieflage der Verteilung des Privatvermögens. Das trug der Bundesregierung den Vorwurf ein, intern Zensur ausgeübt und den Bericht geschönt zu haben.

Mehrere Kernpunkte herausgenommen

Doch diesmal waren die Eingriffe noch gravierender. Auf Initiative des Bundeskanzleramts wurden im Ursprungsentwurf des von der Sozialdemokratin Andrea Nahles geführten Arbeits- und Sozialministeriums gleich mehrere Kernpunkte herausgenommen:

- Es entfielen die theoretischen Überlegungen zum Verhältnis von Armut, Reichtum und (repräsentativer) Demokratie.

- Ebenfalls gestrichen wurde das Unterkapitel "Einfluss von Interessensvertretungen und Lobbyarbeit".

- Erheblich kürzer fiel die Darstellung des Ergebnisses einer Untersuchung aus, wonach die Wahrscheinlichkeit für eine Politikänderung wesentlich höher ist, wenn diese von vielen Befragten mit höherem Einkommen unterstützt wird.

Umformuliert wurde auch ein Absatz, in dem es hieß, hohe Ungleichheit könne nicht nur den gesellschaftlichen Zusammenhalt beeinträchtigen, sondern auch das Wirtschaftswachstum dämpfen. Deshalb sei die "Korrektur von Verteilungsergebnissen" eine "wichtige gesellschaftliche Aufgabe". Dabei solle "nicht nur die Verteilung der verfügbaren Haushaltseinkommen, sondern auch die Primärverteilung in den Blick genommen" werden: "Je geringer die Ungleichheit der Primärverteilung ist, desto weniger muss der Staat kompensierend eingreifen." Nach der politischen Intervention heißt es nun beschwichtigend, die Auswirkungen großer sozialer Ungleichheit auf das Wirtschaftswachstum eines Landes seien empirisch nicht eindeutig belegt.

An zahlreichen Stellen des Regierungsberichts wird behauptet, die beschriebene Negativentwicklung habe sich zuletzt verlangsamt oder sei in jüngster Zeit sogar zum Stillstand gekommen. Genannt werden hier gleich mehrere Bereiche, darunter:

- problematische Erscheinungen wie der wachsende Niedriglohnsektor

- die Polarisierung der Einkommens- und Vermögensverteilung sowie

- der Trend zur Erosion der Mittelschicht.

Als einzige Gründe dafür werden der robuste Arbeitsmarkt und der Rückgang der Arbeitslosigkeit seit 2005/06 genannt. Dabei vertiefte sich seit dieser Zeit die Kluft zwischen Arm und Reich entscheidend, begünstigt durch die Agenda 2010, Hartz IV und mehrere Steuerreformen, die Begüterte, Kapitaleigner und Spitzenverdiener bevorteilten.

Reiche reicher, Arme ärmer

Um eine nationale Debatte über die Kluft zwischen Arm und Reich in Gang zu setzen und politische Gegenmaßnahmen anzustoßen, müsste die Regierung in ihrem Bericht einräumen, dass die soziale Spaltung aus einer Zangenbewegung resultiert: Denen "da unten" wurde seit der Jahrtausendwende mehr Druck gemacht, die "da oben" wurden langfristig entlastet. Einerseits lockerte die Regierung den Kündigungsschutz, liberalisierte die Leiharbeit, führte Mini- und Midijobs ein und erleichterte Teilzeit-, Werk- und Honorarverträge. Andererseits wurde die Gruppe der Wohlhabenden über Jahrzehnte hinweg von Regulierungen, Steuern und (Sozial-)Abgaben befreit.

Kardinalproblem der Gesellschaft

Vielerorts gehören Menschen, die in Müllcontainern nach Pfandflaschen suchen, heute zum Stadtbild. In manchen Ballungsgebieten der Bundesrepublik gefährden drastisch steigende Mieten und Energiepreise sogar den Lebensstandard von Normalverdienern. Sie verstärken die Angst vieler Mittelschichtangehöriger vor dem sozialen Abstieg. Die zerrissene Republik bietet rechten Populisten einen günstigen Nährboden. Sie haben es leicht, nationale Nestwärme als Ersatz für soziale Kälte und kleinbürgerliche Existenzsorgen anzubieten.

Trotz zahlloser Statistiken und informativer Schaubilder enttäuscht der fünfte Armuts- und Reichtumsbericht all jene, die von ihm Handlungsempfehlungen für die Regierungsarbeit erwartet hatten. Denn er dokumentiert, dass die soziale Ungleichheit in Deutschland wächst, ohne dass die Entscheidungsträger des Staates dies als Kardinalproblem der Gesellschaft wahrzunehmen oder zu bekämpfen bereit sind.

Es fehlt nicht an statistischen Daten, sondern an politischen Taten!

Christoph Butterwegge lehrte Politikwissenschaft an der Universität zu Köln. Im Februar 2017 kandidierte er für die Linkspartei bei der Bundespräsidentenwahl. Zuletzt sind seine Bücher Reichtumsförderung statt Armutsbekämpfung. Eine sozial- und steuerpolitische Halbzeitbilanz der Großen Koalition (Wiesbaden 2016), Armut in einem reichen Land (4. Aufl. Frankfurt am Main/New York 2016) und Armut (2. Aufl. Köln 2017) erschienen.

Christoph Butterwegge

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