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Die frühere First Lady Michelle Obama bei ihrer emotionalen Parteitagsrede am Montag.
© REUTERS

Emotionale Michelle Obama: „Wir müssen für Joe Biden stimmen, als ob unsere Leben davon abhängen“

Die Corona-Pandemie macht einen normalen Wahlkampf unmöglich. Die frühere First Lady zeigt beim Parteitag der Demokraten, welche Emotionen dennoch möglich sind.

Und dann sind sie da. Die Emotionen, die viele in virtuellen Wahlkampf-Zeiten schmerzlich vermissen. Als Michelle Obama um Ende des ersten Tages der demokratischen Convention mit ihrem Redebeitrag dran ist, vergisst man, dass es keine Zuhörer gibt, keinen Applaus, keine kollektive Begeisterung. Die einst erste schwarze First Lady braucht das alles nicht. Denn was sie zu sagen hat, ist so ernst, dass der übliche Parteitagstrubel nur störend wirken würde.

"Lassen Sie mich so ehrlich und deutlich sein wie möglich: Donald Trump ist der falsche Präsident für unser Land", sagt die Ehefrau des früheren Präsidenten Barack Obama am Montagabend (Ortszeit) in ihrer Videoansprache. "Wann immer wir auf der Suche nach Führung, Trost oder einem Anschein von Stabilität auf das Weiße Haus blicken, bekommen wir stattdessen Chaos, Spaltung und einen kompletten Mangel an Mitgefühl." Trump habe mehr als ausreichend Zeit gehabt, seine Eignung für das Präsidentenamt unter Beweis zu stellen. Er sei dem Amt aber nicht gewachsen.

Und dann zitiert sie den Republikaner selbst, mit einer Äußerung, die große Aufregung ausgelöst hatte. "Es ist, wie es ist", sagt sie ungerührt - diesen Ausdruck hatte Trump in einem Interview benutzt, als er auf die hohe Zahl von Corona-Toten in den USA reagierte.

Sie zeigt offen ihre große Frustration, ihren Schmerz

Michelle Obamas Rede ist extrem ungewöhnlich: Ihr ganzer Tonfall, ihr Ausdruck zeugt von ihrer riesigen Frustration über den Zustand, in dem sich ihr Land gerade befindet. Ihre Mimik spiegelt ganz offen den Schmerz wider, der sie seit Beginn der Corona-Krise niederdrückt, wie sie in einem überraschend ehrlichen Interview vor wenigen Wochen erklärte. Da sprach sie auch darüber, dass sie unter einer "leichten" Depression leide.

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Nichts ist in den USA in diesem Wahljahr normal oder so, wie es zuvor war. Das Land befindet sich immer noch mitten im Abwehrkampf gegen die tödliche Pandemie, der bereits mehr als 160.000 Amerikaner zum Opfer gefallen sind und wegen der Dutzende Millionen Menschen ihre Arbeit verloren haben. Und weil die Gefahr, dass sich das Coronavirus weiter rasant ausbreitet, immer noch so groß ist, findet fast der gesamte Wahlkampf virtuell statt.

Der Nominierungsparteitag in Milwaukee im möglicherweise wahlentscheidenden "Swing State" Wisconsin wurde erst geschrumpft, und dann im Grunde komplett ins Internet verlegt. Joe Biden, der zum Ende des viertägigen Events endlich auch offiziell als demokratischer Präsidentschaftskandidat bestimmt werden soll, kommt selbst gar nicht mehr hierher. Er wird seine "Acceptance Speech", mit der er die Nominierung annehmen wird, am Donnerstag in seiner Heimatstadt Wilmington (Delaware) halten.

Milwaukee ist fast gespenstisch leer - erwartet wurden hier mal bis zu 50.000 Menschen

Darum ist Milwaukee, die "Festival-Stadt" am Lake Michigan im Mittleren Westen, die im August als Traumziel gilt, auch fast gespenstisch leer. Bis zu 50.000 Parteitagsbesucher sollten, so hatte es ursprünglich geheißen, in die knapp 600.000-Einwohner-Stadt einfallen, Hotelzimmer waren frühzeitig ausgebucht. Viele davon stehen nun leer, da nicht nur die meisten Parteianhänger, sondern auch viele Medienvertreter die Parteitagsreden von zuhause aus verfolgen.

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Vor dem Wisconsin Center, in dem der reduzierte Parteitag eigentlich stattfinden sollte, stehen zwar ein massiver Eisenzaun, mehrere Betonblöcke und ein paar Polizisten. Doch letztere wissen selbst nicht so genau, was oder wen sie da eigentlich beschützen. Vielleicht komme es ja zu Protesten, sagt einer, wie sie derzeit in vielen anderen US-Städten stattfinden, seit der Afroamerikaner George Floyd von einem weißen Polizisten umgebracht worden war. Am Nachmittag halten aber gerade einmal zwei Männer ein Schild hoch, einer für die Legalisierung von Marihuana, der andere gegen Trump.

2016 gab es Protest - gegen die eigene Kandidatin

Bei der letzten demokratischen Convention vor vier Jahren hatte es deutlich mehr Protest gegeben, weil die Parteilinken sich so gar nicht für die offizielle Kandidatin Hillary Clinton begeistern konnten und weiter an ihren Favoriten Bernie Sanders klammerten, der ebenfalls nur zurückhaltend für die Vorwahlsiegerin trommelte.

Nun ist es so, dass auch der 77-jährige ehemalige Vizepräsident, der für einen moderaten Politikansatz steht, nicht gerade die Herzen der Linken erwärmt. Aber in diesem Jahr, mitten in der Pandemie und nach dreieinhalb Jahren Trump, steht Sanders fest an der Seite seines "Freundes" Joe Biden, für den er, obwohl er im Vorwahlkampf zeitweise in den Umfragen vorne lag, im April den Weg frei gemacht hatte.

Biden, der um Sanders' große, enorm begeisterte Anhängerschaft weiß, hat ihn aber auch frühzeitig eingebunden und mit ihm bei der Erarbeitung des Parteiprogramms eng zusammengearbeitet. Der Senator aus Vermont, der als Unabhängiger angetreten war, kann am Montagabend dann auch ganze acht Minuten lang reden. Das ist deutlich länger, als viele andere wichtige Parteivertreter in den vier Tagen sprechen dürfen.

Der Parteilinke Bernie Sanders rief seine Fans vor Stapeln von Kaminholz auf, im November für Joe Biden zu stimmen.
Der Parteilinke Bernie Sanders rief seine Fans vor Stapeln von Kaminholz auf, im November für Joe Biden zu stimmen.
© dpa

Bernie Sanders will seine Anhänger mobilisieren, für Joe Biden zu stimmen

In dieser Rede, die er ernst und entschieden aus seinem Haus in Vermont heraus vorträgt, fordert der 78-Jährige seine Fans auf, sich hinter Biden zu versammeln - ein enorm wichtiger Schritt. Wie, um symbolisch zu unterstreichen, dass er die vielen, vor allem jungen Progressiven anfeuern will, sitzt er vor einem hohen Stapel mit Holz.

"Diese Wahl ist die wichtigste in der jüngeren Geschichte dieses Landes", sagt Sanders. Notwendig sei eine nie dagewesene Bewegung aus Menschen, die für "Demokratie und Anstand" kämpfen - und gegen "Gier, Oligarchie und Autoritarismus".

Trump sei "eine Bedrohung für unsere Demokratie", sagt Sanders. "Die Zukunft unserer Demokratie steht auf dem Spiel. Die Zukunft unserer Wirtschaft steht auf dem Spiel. Die Zukunft unseres Planeten steht auf dem Spiel. Wir müssen zusammenstehen, Donald Trump besiegen und Joe Biden als nächsten Präsidenten und Kamala Harris als nächste Vizepräsidentin wählen."

"We the people" lautet das Parteitagsmotto: Einigkeit als Programm

Es ist das Signal der Einheit, das Biden erhofft hat. Das er braucht, um Trump im November eine zweite Amtszeit zu verwehren. "We the people", wir das Volk, so lautet das Motto des Parteitags. Das soll, so verbreiteten die Strategen im Vorfeld, klar machen, wie groß, breit und vielfältig die Unterstützung sei, die Biden genieße - und wie weit verbreitet der Wunsch, Donald Trump loszuwerden.

Als Beleg dafür sollte auch der Auftritt von John Kasich dienen, dem ehemaligen Gouverneur von Ohio, der vor vier Jahren selbst republikanischer Präsidentschaftskandidat werden wollte, sich aber gegen Trump nicht durchsetzen konnte. Auch das ein extrem ungewöhnlicher Vorgang, dass ein Ex-Präsidentschaftsbewerber sich auf einem Parteitag für den Kandidaten der anderen Partei ausspricht.

Kasich betont wie viele andere an diesem Abend, wie sehr Trumps Verhalten alle Gewissheiten auf den Kopf gestellt habe und was bei vier weiteren Jahren mit ihm im Weißen Haus auf dem Spiel stehe. "Ich bin ein lebenslanger Republikaner, aber diese Verbundenheit steht an zweiter Stelle hinter meiner Verantwortung für mein Land." Seine Rede und die kurzen Beiträge anderer Republikaner sollen Unabhängige und zweifelnde Anhänger von Trumps Partei dazu bringen, dieses Mal für den Demokraten zu stimmen.

Biden liegt in den Umfragen vor Trump - auch in Wisconsin

In Umfragen sieht es derzeit ganz gut für Biden aus, sowohl auf nationaler Ebene, als auch in Swing States wie Wisconsin. Auch wenn es noch mehr als zweieinhalb Monate bis zu Wahl sind.

Anders als bei früheren Wahlkämpfern üblich wartet Trump daher auch nicht ab, bis der Parteitag seines Kontrahenten vorbei ist, um Kritik zu äußern. Sondern er kommt selbst direkt vor dem Beginn am Montag nach Wisconsin, um hier, wie außerdem bei zwei Auftritten am selben Tag in Minnesota, Biden zu attackieren.

Auch macht er noch einmal deutlich, dass er eine Niederlage möglicherweise nicht akzeptieren wird: "Der einzige Weg, wie wir diese Wahl verlieren werden, ist, wenn die Wahl manipuliert wird", sagt er - und belegt damit für die Demokraten, wie gefährlich seine Wiederwahl für die Demokratie Amerika wäre.

Michelle Obama, die eine Halskette mit dem Wort "Vote" (Geht wählen) trägt, fasst die Sorgen in glasklare Worte: "Wenn Sie glauben, dass die Dinge unmöglich noch schlimmer werden können, vertrauen Sie mir, das können sie. Und das werden sie, wenn wir bei dieser Wahl nichts ändern. Wenn wir irgendeine Hoffnung haben, dieses Chaos zu beenden, dann müssen wir für Joe Biden stimmen, als ob unsere Leben davon abhängen."

Michelle Obama greift Donald Trump hart an

Biden sei ein "zutiefst anständiger Mann", der zuhöre, die Wahrheit sage und der Wissenschaft vertraue. Als Vizepräsident ihres Mannes habe er einen "fantastischen" Job gemacht, sagt Obama.

In Anspielung auf ihren legendären Satz beim Parteitag 2016 "When they go low, we go high" erklärt Michelle Obama, es gelte weiterhin, dass man sich nicht auf das Niveau des Gegners herablassen sollte.

Dennoch ist ihre Kritik auffallend hart - vor allem für eine ehemalige First Lady. Aber Michelle Obama hat unter Trumps Anfeindungen mehr gelitten als viele andere. Vier Jahre nach ihrem Auszug aus dem Weißen Haus sei die Wirtschaft am Boden "wegen eines Virus, das der Präsident zu lange heruntergespielt hat", zählt sie seine Verfehlungen auf. Viele Bürger hätten ihre Krankenversicherung verloren, viele Gemeinden kämpften ums Überleben und lang etablierte Allianzen mit anderen Ländern seien zerbrochen.

Viel Lob für die ehemalige First Lady

"Leider ist dies momentan das Amerika, in dem die kommende Generation leben muss. Das ist nicht nur enttäuschend, sondern macht mich wütend. Ich weiß, dass wir unabhängig von unserer Rasse, Religion oder Politik tief in unseren Herzen wissen, dass das, was in unserem Land vor sich geht, nicht richtig ist", sagt Obama weiter.

Die Kommentatoren überschlagen sich anschließend mit ihrem Lob für ihren Auftritt. Michelle Obama gilt als eine der besten, wenn nicht die beste Rednerin der Demokratischen Partei. Ihre Art, so zu reden, als spreche sie direkt zu jedem einzelnen ihrer Zuhörer wie zu einem Freund, wirkt auch in diesem virtuellen Format.

Außerdem ist sie zu einer der eindringlichsten moralischen Stimmen ihres Landes geworden, ganz besonders für Frauen und Afroamerikaner. Viele haben sich gewünscht, dass sie selbst Präsidentin oder wenigstens Vizepräsidenten werden wolle. Solchen Bestrebungen hat sie eine klare Absage erteilt. Am Montag bekennt sie einmal mehr ganz offen, wie sehr sie das politische Geschäft hasst.

Michelle Obama ist trotzdem ein Mega-Star. Ihr einziges Problem, so merkt ein Kommentator bei CNN im Anschluss an: "Sie wird Joe Biden überstrahlen." Davon ist auszugehen, gilt Biden doch als deutlich weniger talentierter Redner.

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