Winfried Kretschmann im Interview: „Wir müssen alles dafür tun, dass wir Autoland bleiben“
Baden-Württembergs Ministerpräsident wirft der Regierung vor, Deutschlands wirtschaftliche Zukunft zu riskieren. Die Autobranche sei „Pfeiler des Wohlstands“.
Herr Kretschmann, Sie machen seit vier Jahrzehnten Politik. Teilen Sie den Eindruck, dass mit dem Jahr 2019 eine Phase der Stabilität in diesem Land zu Ende geht?
Trump, Bolsonaro, Kaczynski: Die ganze Welt ist in dramatischer Weise instabil geworden. Auch bei uns sind die liberale Demokratie und die offene Gesellschaft in Gefahr.
Wird 2020 für Deutschland ein Jahr der Umwälzungen und Brüche, politisch, wirtschaftlich, sozial?
Damit es nicht zu harten Brüchen kommt, müssen wir den Kampf gegen die Erderwärmung entschlossen aufnehmen. Der Klimawandel kommt viel schneller über uns, als selbst wir Grüne erwartet hatten. Die Transformation der Automobilindustrie muss ebenso entschieden angegangen werden, wenn wir diesen Pfeiler des Wohlstands in unserem Land in eine gute Zukunft führen wollen. Zugleich müssen wir alles dafür tun, die Kräfte des Zusammenhalts zu stärken, damit unser Land unter diesem enormen Druck stabil und demokratisch bleibt. Der Chef eines wichtigen Konzerns hat kürzlich gesagt: Auf Strukturwandel sind wir in Deutschland vorbereitet, Strukturbrüche können wir nicht. Ich denke, er hat recht.
Noch nie stand der Klimawandel so sehr im Fokus, und doch scheint die Veränderungsbereitschaft bei vielen nicht besonders groß. Die Zahl der zugelassenen SUVs ist 2019 auf ein Rekordhoch gestiegen, die Zahl der Flugreisen auch. Wie erklären Sie sich das?
Erklären kann ich mir das auch nicht, es wundert mich. Die Zahlen zeigen jedenfalls, dass moralische Appelle verpuffen.
Was folgt daraus?
Der Versuch, Menschen zu belehren, bringt nicht wirklich was. Wenn die Leute SUVs wollen, müssen wir dafür sorgen, dass sie wenigstens keine mit Verbrennungsmotor kaufen, sondern elektrisch fahren, die gibt es ja jetzt. Und wenn die Flugscham offenbar nicht so ausgeprägt ist, dass weniger Kilometer geflogen werden, muss man die Flugreisenden dazu bringen, dass sie eine Kompensation fürs Klima zahlen, damit zum Ausgleich Wälder gepflanzt werden können. Lösen können wir das nur mit regenerativ erzeugten Kraftstoffen.
Klimakrise, schwächelnde Wirtschaft, Massenentlassungen in der Autobranche – und in Berlin regiert die Union mit einer entkräfteten SPD vor sich hin. Wie lange kann das so weitergehen?
Wir stehen vor einer Zeitenwende. Unsere Zukunft, auch die des Wirtschaftsstandorts, entscheidet sich an der Frage, ob wir es schaffen, unsere Art zu wirtschaften klimaneutral zu machen. Die Bundesregierung rennt den Problemen nur hinterher, anstatt sie beständig und vorausschauend zu bearbeiten.
Wird Angela Merkel dem Veränderungsdruck in der Endphase ihrer Kanzlerschaft noch gerecht?
Die Regierung ist zu langsam. Das zeigt sich auch bei der künstlichen Intelligenz, auch ein Thema, an dem sich unsere Zukunft entscheidet. Autonom fahrende Autos, Medizin – überall wird künstliche Intelligenz benötigt. Vor einem Jahr hat die Regierung eine KI-Strategie vorgelegt, doch bisher ist nichts geschehen. Wir können gegen China und das Silicon Valley nur bestehen, wenn wir investieren und eine eigene KI entwickeln, die sich an unseren Werten orientiert. Sonst haben wir irgendwann nur noch die Wahl zwischen Überwachung und Monopolisten.
Sie sind enttäuscht von der Kanzlerin?
Die Kanzlerin widmet sich außenpolitischen Aufgaben, die extrem wichtig sind. Was soll ich sie da kritisieren? Sie hat ja schließlich auch Minister. Ich finde es falsch, alles bei Angela Merkel abzuladen. Dazu kommt, dass sie mit einem Partner koaliert, der sich jede Woche fragt, ob er überhaupt regieren soll. In so einer Koalition kann man das Nötige nicht kraftvoll vorantreiben.
Sie halten die SPD nicht mehr für regierungsfähig?
Der Kurs der SPD-Führung ist nicht verantwortlich. Statt zu überlegen, was das Land braucht, fragt sie sich vor allem, was die Partei braucht. Die SPD war seit 150 Jahren eine wichtige politische Größe und ein Garant für Stabilität. Jetzt versucht die neue SPD-Spitze es mit einem radikaleren linken Kurs. In Großbritannien haben wir gerade gesehen, dass das nicht funktioniert. Es fällt mir auch nichts mehr ein, wenn die Partei sich nun von ihren erfolgreichen Kanzlern und deren Programmen distanziert. Ich fürchte, dass die neugewählte SPD-Führung schon jetzt ihre Glaubwürdigkeit aufs Spiel setzt. Sie ist auch wegen der Parole „Raus aus der GroKo“ gewählt worden und hat jetzt wieder Abstand davon genommen. Das wird sich rächen. Glaubwürdigkeit ist die harte Währung in der Politik.
Braucht das Land Neuwahlen?
Ich bin nicht der Spielmacher, diese Frage müssen andere entscheiden.
Sind die Grünen wirklich reif, das Land zu führen, sind Sie sicher, dass ein Kanzler Habeck es besser machen würde?
Das weiß man immer erst hinterher. Aber es ist jetzt nicht Zeit, über Kanzler zu schwadronieren. Dass wir mit unseren Bundesvorsitzenden Personen haben, die führen können, ist doch offenkundig.
Kommt für Sie eine grün-rot-rote Koalition im Bund nicht infrage?
Das ist nicht meine Entscheidung, sondern Angelegenheit der Bundes-Grünen. Ich bin bekanntlich nicht dafür: Wie soll man mit der Linken vernünftige Außenpolitik oder moderne Wirtschaftspolitik machen? Die tut doch noch immer, als lebten wir in einer Nationalökonomie und nicht in einer globalisierten Welt.
Die Spaltung der Gesellschaft hat auch beim Klimaschutz ihre Ursachen. Den einen geht es nicht schnell genug, die anderen machen sich Sorgen um ihre Arbeitsplätze, ihren Lebensstil, fürchten um ihre Mobilität. Warum sollten ausgerechnet die Grünen diese beiden Positionen miteinander versöhnen?
Wir kennen beide Seiten. Unsere Wurzeln liegen im Protest, aber wir sind inzwischen auch eine sehr erfahrene Regierungspartei. Wir sind in der Lage, die richtige Balance bei ordnungspolitischen Maßnahmen zu finden, sodass sie stimulieren und nicht strangulieren. Nur so schafft man Akzeptanz.
Sind Sie als einziger grüner Regierungschef und Ministerpräsident des Autolandes Baden-Württemberg in der Pflicht, dem Rest der Republik zu beweisen, wie der Umbau der Wirtschaft und der Autoindustrie gelingen kann?
Wir müssen zeigen, dass die Wirtschaftsentwicklung sich von der Naturzerstörung entkoppeln lässt. Wohlstand, Prosperität, Arbeitsplätze schafft man heute mit dem Kampf gegen den Klimawandel und nicht gegen ihn. Wenn wir unter Beweis stellen, dass unser Modell nicht nur ökologisch, sondern auch ökonomisch erfolgreich ist, werden uns andere Nationen nachahmen, die viel mehr CO2 ausstoßen als wir. Das zu erreichen ist unsere eigentliche globale Verantwortung.
Wenn der Umbau der Schlüsselindustrien im reichen Baden-Württemberg schiefgeht, klappt er nirgendwo?
Nur wenn wir erfolgreich sind, wächst der Glaube, dass ein Umstieg möglich ist. Ich trage in dieser Frage eine Verantwortung, das weiß ich. Deshalb treiben wir hier in Baden-Württemberg den Wandel voran: Schon vor Jahren haben wir mit Beteiligung von Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Zivilgesellschaft einen strategischen Dialog zur Zukunft der Automobilindustrie gestartet. Das Auto wird neu erfunden, das ist eine große Aufgabe. Und mit dem Cyber Valley haben wir einen Hotspot für künstliche Intelligenz geschaffen.
Sind die Umbrüche in der Autoindustrie mit dem Ende des Bergbaus im Ruhrgebiet zu vergleichen?
Das hoffe ich nicht. Aber es ist kein Naturgesetz, dass unsere Automobilhersteller ewig bestehen. Das hat auch schon der frühere Daimler-Chef Dieter Zetsche mal gesagt. Wir müssen alles dafür tun, dass wir Autoland bleiben – ein Autoland mit geänderter Mobilität und mit anderen Autos.
Was wollen Sie denn tun?
Natürlich hat die Autoindustrie viel Vertrauen verloren durch ihre Tricksereien. Jetzt müssen wir aber auch aufhören, weiter auf sie einzudreschen. Unsere Unternehmen investieren gerade sehr viel, dabei wissen sie noch nicht, welche Antriebstechnologie sich durchsetzen wird: Batterie, Wasserstoff oder regenerative Refuels-Kraftstoffe. Das verdient Respekt. Und natürlich wünsche ich mir, dass die deutschen Automobilfirmen jetzt Gas geben und Tesla nur noch ihre Rücklichter sieht.
Die großen Hersteller und Zulieferer haben Massenentlassungen angekündigt. Wie viel Verständnis kann man von Betroffenen und Bürgern erwarten?
Der aktuelle Stellenabbau liegt daran, dass weltweit die Nachfrage nachgelassen hat, in China und Indien. Das Problem ist allerdings, dass hinter dieser Delle die beschriebenen Strukturprobleme liegen.
Liegt die Zukunft der deutschen Autoindustrie im E-Auto?
Bei den Pkw liegt die Priorität auf dem Batterieantrieb, da läuft der Markt jetzt hoch. In Deutschland werden wir Wasserstoff nicht in den Mengen herstellen können, um Millionen Fahrzeuge zu betanken.
Verkehrsminister Andreas Scheuer hat also unrecht, wenn er Wasserstoff für den Kraftstoff der Zukunft hält?
Ich rate zu Technologieoffenheit. Für den Schwerlastverkehr, für Flugzeuge und Schiffe brauchen wir neue Treibstoffe. Deshalb müssen wir für diesen Sektor massiv in Wasserstofftechnologie investieren. Da müssen wir groß denken. Wenn die Ölscheichs ihr Öl unter der Erde lassen sollen, damit das Klima sich nicht weiter erwärmt, müssen sie auch in Zukunft Geld verdienen können. In den Wüsten- und Sonnenländern gibt es große Flächen, auf denen günstiger Wasserstoff oder regenerative Refuels-Kraftstoffe für den Export hergestellt werden können.
Ist es beim E-Auto nicht so, dass in den Betrieben künftig weniger Beschäftigte gebraucht werden, um ein Auto mit Batterieantrieb zu bauen?
Da wäre ich nicht so pessimistisch. Die Automobilfirmen suchen händeringend IT-Ingenieure. Sie brauchen Fachkräfte, wenn sie die Autos der Zukunft, die autonom fahren, entwickeln und bauen.
Es wird aber auch Verlierer geben. Um Akzeptanz für den Kohleausstieg zu schaffen, will die Bundesregierung Milliardenbeträge in den Strukturwandel investieren. Sind für den Ausstieg aus dem Verbrennungsmotor auch Milliarden notwendig?
Viel hilft nicht automatisch viel. Man muss in das Richtige investieren, in künstliche Intelligenz, aber auch in die Lade-Infrastruktur. In Baden-Württemberg haben wir in den vergangenen drei Jahren Ladestationen in einem flächendeckenden Netz ausgebaut, alle zehn Kilometer gibt es eine. Der Bund fängt jetzt allmählich an, über eine Ladeinfrastruktur nachzudenken. Da stimmt gerade gar nichts.
Herr Kretschmann, wenn wir am Ende des Jahres 2020 wieder gemeinsam zurückblicken: Was müsste sich dann getan haben, damit Sie sagen, es war ein gutes Jahr?
Ich bin froh, dass die Bundesregierung durch unsere Verhandlungen bereit war, den CO2-Preis anzuheben, sodass er eine gewisse Lenkungswirkung haben wird. Doch anderswo fehlt der Blick für die Zukunft dieses Landes. In der Windenergie sind schon mehr Arbeitsplätze den Bach runtergegangen, als es in der Braunkohle gibt. Ich habe kein Verständnis dafür, dass die Bundesregierung eine Zukunftsindustrie mit globaler Perspektive vor die Wand fahren lässt. Wir brauchen weniger Stillstand, mehr Dynamik.