Global Challenges: Wir können China nicht unter Hausarrest stellen
Im Umgang mit Peking sollte der Westen auf selbstbewusste Kooperation statt destruktive Konfrontation setzen. Ein Gastbeitrag.
- Global Challenges ist eine Marke der DvH Medien. Das neue Institut möchte die Diskussion geopolitischer Themen durch Veröffentlichungen anerkannter Experten vorantreiben. Heute ein Beitrag von Sigmar Gabriel und Rudolf Scharping. Sigmar Gabriel ist Publizist und Aufsichtsrat bei der Deutschen Bank und Siemens Energy. Er war von 2009 bis 2017 Vorsitzender der SPD und von 2013 bis 2018 Vizekanzler. Rudolf Scharping ist Berater. Er war von 1991 bis 1994 Ministerpräsident von Rheinland-Pfalz und von 1998 bis 2002 Verteidigungsminister. Weitere AutorInnen sind Günther Oettinger, Prof. Dr. Ann-Kristin Achleitner, Prof. Dr. Veronika Grimm, Prof. Dr. Volker Perthes, Prof. Jörg Rocholl PhD, Prof. Dr. Bert Rürup und Prof. Dr. Renate Schubert.
Australien 30 000 Tote, zwei Millionen Infizierte; China gut zwei Millionen Tote, 100 Millionen Infizierte; Südkorea 80.000 Tote; vier Millionen Infizierte – so sähe es in der Region aus, wenn die Zahlen der Covid-19-Infektionen sich so entwickelt hätten wie etwa in den USA, Großbritannien oder Schweden. Würde man die deutsche Entwicklung der Corona-Krise auf Südkorea übertragen, hätte das Land 17 mal mehr Infizierte und 27 mal mehr Tote zu beklagen als die Bundesrepublik.
Ein makabres Gedankenspiel? Keineswegs. Die tatsächlichen Zahlen der an Corona Erkrankten und Gestorbenen in Australien und Ostasien belaufen sich, gemessen an der Bevölkerungszahl, auf nicht einmal fünf Prozent dessen, was wir in Deutschland und Europa erleben. Das hat Ursachen – und vor allem Folgen.
Natürlich: Die unterschiedlichen Gesellschaften und Kulturen, das jeweilige soziale Verhalten, die Leistungsfähigkeit der Gesundheitssysteme, die Wohnverhältnisse – das und vieles andere mehr kann man nicht einfach über einen Kamm scheren. Die Unterschiede erklären aber nicht hinreichend die Erfolge beziehungsweise Misserfolge bei der Pandemiebekämpfung, und sie ändern nichts an den Folgen.
[Wenn Sie die wichtigsten Nachrichten aus Berlin, Deutschland und der Welt live auf Ihr Handy haben wollen, empfehlen wir Ihnen unsere App, die Sie hier für Apple- und Android-Geräte herunterladen können.]
Eine der Folgen: In den politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Eliten Ostasiens akzeptiert niemand mehr, dass die Europäer oder Amerikaner, als wäre es naturgegeben, eine Führungsrolle beanspruchen, Standards bestimmen und Regeln vorgeben wollen, wie jüngst das erste amerikanisch-chinesische Außenministertreffen seit dem Amtswechsel im Weißen Haus bewies. Das gilt umso mehr, als weder Europa noch die USA in der größten globalen Krise seit Ende des Zweiten Weltkriegs bereit waren, den internationalen Kampf gegen die Pandemie anzuführen oder zumindest substantielle Hilfe für die weniger gut entwickelten Regionen und Staaten der Welt anzubieten.
Diese Aufgabe übernimmt derzeit vor allem China. Das Problem ist nicht, dass China auch auf diesem Feld eine geopolitische Strategie verfolgt, sondern dass es in Europa und den USA daran mangelt, bislang jedenfalls. Wo immer Europa und die USA ein Vakuum in der internationalen Politik hinterlassen, wird es von China gefüllt. Statt darüber zu klagen, wäre es besser, den Wettbewerb mit Peking anzunehmen.
China gab der EU in einigen Punkten bereits nach
Im vergangenen Jahre hat China mit 14 anderen Ländern in der Region Asien-Pazifik die größte Freihandelszone der Welt geschaffen. Die Regional Comprehensive Economic Partnership (RCEP) umfasst 2,2 Milliarden Menschen, repräsentiert fast 30 Prozent des Welthandels und rund ein Drittel der globalen Wirtschaftsleistung. So unvollkommen dieses Abkommen auch noch sein mag – schon bald wird es von größerer Bedeutung sein als die Europäische Union.
Und auch mit der EU einigte sich China Ende Dezember auf Grundsätze eines Investitionsabkommens. Peking verpflichtete sich darin etwa in puncto Arbeitsschutz zu Standards, wie es dies zuvor noch nie getan hatte – und die beispielsweise die demokratischen Mitglieder des RCEP von China erst gar nicht verlangt haben. Das taten übrigens auch die USA nicht, als sie Anfang 2020 mit China den „Phase-One“-Deal abschlossen, um den Handelskrieg einzudämmen, den der damalige Präsident Donald Trump mutwillig vom Zaun gebrochen hatte.
Kein Zweifel: Die Pandemie beschleunigt viele Entwicklungen, die schon vorher sichtbar waren: allen voran die Digitalisierung, aber eben auch die wachsende Konkurrenz zwischen den entwickelten demokratischen Industriestaaten und einem immer selbstbewussteren China. Corona fordert alles und alle heraus, nicht nur unsere Geduld oder die Leistungsfähigkeit der wirtschaftlichen und sozialen Systeme. Die Pandemie testet auch die Glaubwürdigkeit und Leistungsfähigkeit der politischen Systeme.
[Mehr aus der Hauptstadt. Mehr aus der Region. Mehr zu Politik und Gesellschaft. Und mehr Nützliches für Sie. Das gibt's nun mit Tagesspiegel Plus: Jetzt 30 Tage kostenlos testen.]
Die Welt wurde schon vor Beginn der Pandemie neu vermessen: Nach 600 Jahren ist der Atlantik nicht mehr das Gravitationszentrum der Welt und die Welt nicht mehr auf Europa ausgerichtet. Die neuen Wirtschafts- und Machtachsen verlaufen zunehmend stärker durch den Indo-Pazifik. Wie unter einem Brennglas wird das auch in der Pandemiebekämpfung deutlich. Statt auf Führung sollten Amerika und Europa deshalb besser auf Mitbestimmung setzen und auf Kooperation mit anderen Nationen, gerade aus und in Asien.
Wir Europäer haben aus bitterer Erfahrung gelernt, dass wir uns gegenseitig brauchen und Versuche, sich voneinander abzugrenzen, kontraproduktiv sind. Es waren nicht Konfrontationsstrategien, die den „Eisernen Vorhang“ zu Fall brachten und Deutschland und Europa vereinigten. Dieses Verdienst kommt vielmehr der Dualität von wirtschaftlicher, politischer und auch militärischer Stärke zu, ergänzt durch Angebote zu Kooperation, Dialog und gemeinsamer Sicherheit. Auch heute wird Abschottung und Entkoppelung uns nicht helfen, die Welt in der Balance zu halten. Gerade die Erfahrungen der USA in der „Ära“ Trump zeigen, dass man für Konfrontationsstrategien einen hohen Preis zahlt, ohne damit am Ende wirklich Erfolg zu haben.
Biden überprüft die Beziehungen, die EU sollten da einsteigen
Die Statistik spricht eine deutliche Sprache: Rund 320 Milliarden Dollar gingen dem US-Bruttoinlandprodukts durch den Handelskrieg mit China verloren. Das amerikanische Handelsdefizit mit China sank zwar von rund 375 Milliarden Dollar (2017) auf zuletzt 295 Milliarden Dollar – gleichzeitig stieg das Handelsdefizit mit dem Rest der Welt aber von 566 Milliarden auf gut 900 Milliarden Dollar. Auch China hatte seinen Preis zu zahlen, er fiel allerdings wohl deutlich geringer aus als für die USA.
Offenbar veranlassen die wirtschaftlichen Schäden der Konfrontationsstrategie von Trump seinen Nachfolger Joe Biden, die China-Politik der USA einer intensiven Überprüfung zu unterziehen und dabei auch die Partner in Europa und Asien einzubeziehen. Europa und auch Deutschland sollten offensiv in diesen Konsultationsprozess einsteigen, zumal wir eigene Erfahrungen einbringen können. (Lesen Sie hier, was Ex-Kanzler Gerhard Schröder für eine richtige Strategie gegenüber China hält)
So ist es durchaus ein Erfolg der EU und der Bundesrepublik, dass Peking nach siebenjährigem Zögern bereit war, das Investitionsabkommen zu unterschreiben. Denn eigentlich wollte die Volksrepublik mit der EU ja eine echte Freihandelszone besiegeln. Das lehnt die EU zu Recht ab, solange europäische Investitionen in China nicht angemessenen geschützt sind. Am Ende schwenkte China auf einen Kurs ein, der letztlich Teil einer gemeinsamen Strategie der USA, Europas, Australiens, Japans, Südkoreas und anderer demokratischer Industriestaaten sein sollte: Das Riesenreich China in faire Welthandelsbeziehungen einzubinden und zwar auf der Grundlage von Regeln der Welthandelsorganisation und mit bilateralen Abkommen. Es ist nicht sicher, dass diese Strategie zum Erfolg führt. Allerdings stehen die Chancen dafür deutlich besser als zu glauben, man könne ein 1,4-Milliarden-Volk durch einen harten Konfrontationskurs unter globalen Hausarrest stellen.