Welchen Kurs gegenüber China?: Eine moralisierende Politik ist zum Scheitern verurteilt
Europa muss sich Washingtons neuem Kalten Krieg gegen Peking widersetzen. Sonst sind globale Probleme nicht zu lösen. Ein Gastbeitrag.
Der Autor war Bundeskanzler von 1998 bis 2005. Sein gemeinsam mit Gregor Schöllgen verfasstes Buch „Letzte Chance. Warum wir jetzt eine neue Weltordnung brauchen“ ist vor wenigen Wochen bei DVA erschienen.
In Peking treten jetzt die Abgeordneten des Nationalen Volkskongresses zusammen, ein Scheinparlament, dessen Beschlüsse dennoch Weichen für die künftige Entwicklung Chinas und die weltweiten Beziehungen stellen. So wird der neue Fünf-Jahresplan präsentiert, der den wirtschaftspolitischen Rahmen bis 2025 absteckt. Die globalen Verhältnisse haben sich in den vergangenen Jahren grundlegend verändert. Der politische Klimawandel der Ära Trump, die Erschütterungen durch die Corona-Pandemie und die Schwächung des Westens wirken sich auf unser Verhältnis zu Peking aus.
Die neue US-Administration unter Präsident Joe Biden sieht in China die größte außen-, wirtschafts- und sicherheitspolitische Herausforderung des Jahrhunderts. Wir erleben also eine Kontinuität, welche die amerikanische Politik schon seit Barack Obama prägt: Die USA wenden ihren Blick von Europa ab – und hin zu China. Sie versuchen, den Einfluss des Landes einzudämmen und seine Wirtschaft abzukoppeln.
Die Forderung der USA an Europa ist klar und eindeutig: Wir sollen uns in die amerikanischen Linien einreihen und gegen Peking mitmarschieren. Aber ist das klug? Entspricht es unseren Interessen? Und gibt es nicht Alternativen zu einem neuen Kalten Krieg?
Keine Illusionen über Pekings Menschenrechtspolitik
Natürlich sollte man sich über die chinesische Politik keine Illusionen machen. In Hongkong lässt Peking die Demokratiebewegung zerschlagen. Im ganzen Land werden religiöse und ethnische Minderheiten unterdrückt. Der Expansions- und Annexionsdrang im Südchinesischen Meer ist unverkennbar. Peking rüstet konsequent auf, auch seine Raketen- und Atomarsenale.
China kann sich diese kontrollierte Offensive leisten, weil es zweigleisig fährt. Das Land ist weltweit ein gefragter Handelspartner, Investor und Entwicklungshelfer. Auch die Reaktion auf Amerikas Abkopplungsstrategie ist klar erkennbar. Mit dem Konzept des „doppelten Wirtschaftskreislaufs“ versucht Peking, von ausländischen Technologien unabhängig zu werden. Das wird in den nächsten ein bis zwei Jahrzehnten auch gelingen, denn die Fortschritte bei 5G-Anwendungen, im Bereich der Künstlichen Intelligenz und der Biotechnologie sind enorm.
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Im Westen, auch in Deutschland, hat man lange nicht wahrhaben wollen, dass China schon seit den Tagen Deng Xiaopings eine großräumige politische, militärische und wirtschaftliche Strategie verfolgt. Zum 100. Jubiläum der Volksrepublik 2049 will China die führende Industrienation der Erde sein. Mit dem Auftauchen des neuen Coronavirus zeigten sich neben den Stärken allerdings auch die Schwächen des chinesischen Modells.
Eindämmung der Pandemie gelang besser als in Europa
Zu den strukturellen Defiziten gehört der intrasparente administrative Apparat, der in weiten Teilen des Landes ein Eigenleben führt und schnelle Reaktionen auf die Virusausbreitung erheblich erschwert hat. Aber im weiteren Verlauf zeigte sich, dass den Chinesen die Eindämmung der Pandemie erfolgreicher und konsequenter gelang als den Europäern. Das hat auch ökonomische Folgen, denn die wirtschaftliche Erholung trat früher ein als in anderen Weltregionen. 2020 erzielte China ein Wachstum von gut zwei Prozent. Davon haben auch deutsche Unternehmen profitiert, weil sie durch Exporte nach China Verluste in anderen Märkten kompensieren konnten. Inzwischen verkaufen deutsche Autohersteller dort 40 Prozent ihrer Produktion.
Auch wenn China ein schwieriger politischer Partner ist, sollten wir Europäer uns nicht in den kalten Handelskrieg hineinziehen lassen, den die USA mit China führen. Denn der Ansatz der Biden-Administration, hier gehe es um einen grundsätzlichen Konflikt zwischen „Demokratie und Autokratie“, weist in die falsche Richtung.
Diese „moralisierende Außenpolitik“, die einseitig Werte über Interessen stellt, stößt – zunehmend auch im Verhältnis zu anderen Staaten – an ihre Grenzen. Sie wirkt angesichts der globalen Herausforderungen wie aus der Zeit gefallen. Klimawandel, Pandemien oder Migrationsströme machen an nationalen Grenzen nicht halt. Nur gemeinsam kann die internationale Staatengemeinschaft diese Herausforderungen bewältigen.
Zum Beispiel den Kampf gegen die Erderwärmung. China verantwortet rund 30 Prozent der weltweit ausgestoßenen Kohlendioxidemissionen. Staatspräsident Xi Jingping hat angekündigt, das Land werde bis zum Jahr 2060 klimaneutral. Dieses Ziel ist ambitioniert, könnte aber mit Hilfe europäischer Unternehmen und Technologien sogar früher erreicht werden. Welchen Sinn würde es machen, China hier zu boykottieren?
Sanktionen sind eine naive Form der Politik
Wer glaubt, Sanktionen, einseitiger Druck oder gar militärische Mittel seien wirksamer als Dialog und Konsensfindung, handelt im besten Sinne naiv, aber kaum verantwortungsbewusst. Der Weg des Dialogs ist anstrengend, gelegentlich auch frustrierend. Doch wer kann schon ernsthaft glauben, es gäbe auch nur eine einzige internationale Lösung ohne die Veto- und Atommächte China und Russland?
Mit Blick auf die künftigen Beziehungen zu China gibt es daher mehrere Ansatzpunkte: Erstens geht es darum, Peking in die internationalen Strukturen, Regelwerke und Institutionen enger einzubinden. Hier existieren durchaus Schnittpunkte mit den USA, denn uns eint das Interesse, unfaire Marktbedingungen in China zu beseitigen. Das EU-China-Investitionsabkommen zeigt, dass die EU dies rechtzeitig erkannt hat.
Zweitens gewinnt die Welthandelsorganisation (WTO) an Bedeutung. Sie kann die Grundsätze des Freihandels sichern und das Handelsverhältnis zu China im Rahmen internationaler Regeln fairer gestalten. Die Wahl der neuen WTO-Chefin Okonjo-Iweala bietet große Chancen.
Wandel durch Handel bleibt erfolgversprechend
Drittens bleibt die zuletzt viel geschmähte Losung „Wandel durch Handel“ erfolgversprechend. Denn wirtschaftlicher Austausch eröffnet auch die Chance für gesellschaftliche und soziale Veränderungen. In China lebten die Menschen vor wenigen Jahrzehnten noch in extremer Armut, Millionen verhungerten. Der 1978 begonnene Öffnungsprozess hat das Land entwickelt. Natürlich ist China nach wie vor weit von den Standards westlicher Demokratien entfernt, aber Transformationsprozesse brauchen eben ihre Zeit. Diesen Prozess können wir, etwa durch den Rechtsstaatsdialog, unterstützen.
Viertens sollten wir auf unsere europäische Souveränität achten, gegenüber China und den USA. Das bedeutet keinesfalls Äquidistanz, da das transatlantische Bündnis, auch wenn es dringend reformiert werden muss, weiter existiert. Europa will und muss neben den beiden Polen der internationalen Politik – China und den USA – zu einem eigenständigen Akteur werden. Das wird jedoch nur gelingen, wenn die EU-Mitgliedsstaaten im Zuge einer grundlegenden Reform auf weitere nationale Souveränitätsrechte verzichten.
Gerade in Zeiten großer Umbrüche und Veränderungen sollten wir auf stabile internationale Beziehungen und die Wahrung unserer eigenen Interessen achten. Wertvorstellungen zählen dazu, aber sie dürfen nicht zum alleinigen Kriterium unserer Außen- und Wirtschaftspolitik werden. Stattdessen sind wir gut beraten, den Dialog zu führen und multilaterale Strukturen zu stärken. Das bietet die Chance, auch mit schwierigen Partnern zusammenzuarbeiten.
Gerhard Schröder