SPD-Experte Karl Lauterbach: „Wir haben die indische Variante am Anfang unterschätzt“
Gesundheitsexperte Lauterbach sieht die Ausbreitung der indischen Corona-Variante mit Sorge. Den Öffnungen in Deutschland soll sie aber nicht im Wege stehen.
Nachdem es aufgrund der schnell fortschreitenden Impfkampagne in den vergangenen Wochen fast ausschließlich gute Neuigkeiten aus Großbritannien gab, kommt nun mal wieder eine schlechte daher: Der Anteil der indischen Variante B.1.617 verdoppelt sich in Teilen des Landes und gefährdet den Öffnungsplan.
Am vergangenen Freitag bereits hatte die Gesundheitsbehörde Public Health England die Variante als „besorgniserregend“ eingestuft, am Montag zog die Weltgesundheitsorganisation (WHO) nach.
SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach warnt schon seit Wochen vor B.1.617. Doch was heißt das konkret für das Infektionsrisiko? Und wie groß ist die Gefahr, dass sich die Variante auch in Deutschland verbreitet?
„Das Hauptproblem ist, dass die indische Variante hochansteckend ist. Das sehen wir daran, dass sie sich in der Community ausbreitet und nicht nur einzeln aus Indien eingeschleppt wird“, sagt Lauterbach dem Tagesspiegel. „Wir haben die Variante am Anfang unterschätzt, weil davon auszugehen war, dass sie es nur aufgrund der Gegebenheiten in Indien so leicht hat und sich so massiv ausbreitet.“
In Indien sind die Maßnahmen gegen das Coronavirus nicht so streng wie in Deutschland. Dort breitete sich die Variante rasant aus, vor allem aufgrund von Massenveranstaltungen wie religiösen Festen, Wahlkampfauftritten und Sportevents, die zum Teil von zehn- und sogar hunderttausenden Menschen besucht wurden – meist ohne Masken und Abstand.
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Auch ist die Impfquote in Indien mit weniger als zehn Prozent Erstgeimpften deutlich niedriger als in Deutschland, wo mittlerweile ein Drittel mindestens einmal geimpft ist.
Das Wissen über B.1.617 habe sich aber inzwischen geändert. „Mittlerweile wissen wir, dass sich die Variante der Immunantwort bei Genesenen und Geimpften entziehen kann. B.1.617 ist somit eine problematische Variante“, sagt Lauterbach.
„Wir müssen unbedingt vermeiden, dass sie sich mit der südafrikanischen Variante B.1.351 kombiniert, die sich noch stärker der Immunantwort der Impfstoffe entziehen kann. In Indien ist die Fallzahl so hoch, dass solche Mutationen entstehen könnten.“ In Indien gab es zuletzt mehr als 400.000 Neuinfektionen mit dem Coronavirus pro Tag.
Sorge bereiten aber nicht nur die Fallzahlen in Indien, sondern auch Zahlen aus Großbritannien: Dort macht die indische Variante nun rund 40 Tage nach erstmaligem Auftreten bereits mehr als zehn Prozent aller Fälle aus – das ist ein ähnlicher zeitlicher Verlauf wie bei der britischen Variante B.1.1.7. Damals sorgte die Variante zu einer massiven Welle auch in Deutschland.
In Großbritannien werde es darauf ankommen, ob die Impfquote schnell weit über 60 Prozent steigen könne. Für Lauterbach ist klar: „Sollte sich die indische Variante schneller weit verbreiten, könnten die Fallzahlen in einigen Regionen wieder ansteigen.“
Für Deutschland gibt Lauterbach vorsichtige Entwarnung. „In Deutschland werden wir wahrscheinlich Glück haben und über die Runden kommen. Wir werden wahrscheinlich von einer weiten Verbreitung verschont bleiben, weil wir nicht so viele Einreisende aus Indien haben wie Großbritannien“, so der Epidemiologe.
Aus seiner Sicht steht den Lockerungen der Maßnahmen schon in der kommenden Woche nichts im Wege. In Berlin, wo der Senat am Dienstag erstmals von laborbestätigten Fällen der indischen Variante berichtete, könnten Ausgangssperre und Kontaktbeschränkungen beispielsweise schon am 19. Mai entfallen.
„Die Öffnungen in der kommenden Woche werden stattfinden können – alles andere wäre nicht verhältnismäßig“, sagt Lauterbach. „Wie nachhaltig die Öffnungen sein werden, hängt dann aber von der Entwicklung im Sommer ab.“
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Mit dieser Entwicklung meint Lauterbach das Zusammenspiel aus Verbreitung der Variante und Fortschreiten der Impfkampagne. Virologe Christian Drosten hatte zuletzt von einer „Seroprävelenz“ geprochen, einer Grundimmunisierung durch Genesung oder Impfung, in der Bevölkerung. In Großbritannien wurde geöffnet, als diese bei rund 50 Prozent lag Mitte April.
Lauterbach teilt die Einschätzung, dass die 50 Prozent eine wichtige Marke sein könnten. Und wann könnte Deutschland diese erreichen? „Meiner Einschätzung nach stehen wir bereits Anfang Juni bei einer Verbreitung der „Seroprävelenz“ in der Bevölkerung von 50 Prozent“, sagt er. Das setzt voraus, dass die Impfquote weiterhin wöchentliche Fortschritte von rund fünf Millionen verabreichten Impfdosen macht. „Ich denke, wir können die Impfquote so hochrechnen“, sagt Lauterbach.
Wichtig wird auch, zu sehen, wie sich das vermehrte Reisegeschehen auf die Fallzahlen auswirken wird. Die Daten aus Großbritannien zeigen, dass die indische Variante vor allem durch Reiserückkehrer nach Europa kam. Lauterbach glaubt trotzdem, „dass Sommerurlauben nichts im Wege steht“ – unter Bedingungen.
„Wichtig ist, dass Tests von Reisenden weiterhin konsequent sequenziert werden“, so Lauterbach. Derzeit werde jede 20. Probe auf Virusvarianten überprüft, in Baden-Württemberg sogar jede. „Für Menschen, die aus Gebieten einreisen, wo die indische Variante oder die südafrikanische Variante weiter verbreitet sind, sollte aber darüber hinaus eine Quarantäne Pflicht sein.“
Lauterbach kritisiert Aufhebung der Impfpriorisierung in Praxen
Das könnte dann auch für Menschen gelten, die bereits genesen oder geimpft sind. Ein Beispiel aus einem Londoner Pflegeheim zeigt allerdings, wie wertvoll das Fortschreiten der Impfkampagne angesichts von Varianten wie B.1.617 sein kann. Dort hatten sich 15 ältere Heimbewohner mit der indischen Variante infiziert – eine Woche nach der Zweitimpfung mit dem Astrazeneca-Vakzin.
Obwohl die Immunantwort noch nicht maximal ausgeprägt sein konnte, starb keiner der Bewohner. „Die indische Variante zeigt, wie wichtig die vollständige Impfung ist“, so Lauterbach. Und weil der Impfstoff erst nach einiger Zeit seine Wirksamkeit entfaltet, würde er zudem „jedem empfehlen, mit der zweiten Dose des Astrazeneca-Impfstoffs zwölf Wochen zu warten“.
Der Impfstoff von Astrazeneca, wie auch der von Johnson & Johnson, ist seit vergangener Woche für alle Deutschen freigegeben. Dass nun erste Bundesländer beginnen, in Arztpraxen auch die Impfpriosierung für die Impfstoffe von Biontech und Moderna komplett aufzuheben, hält Lauterbach für falsch.
„Ich kann den Vorstoß von Bayern und Baden-Württemberg nicht verstehen. Die Impfpriorisierung in Arztpraxen sollte beibehalten werden, so wie es NRW jetzt auch gesagt hat“, sagt Lauterbach. Dass die Priorisierung schon für die Impfstoffe von Astrazeneca und Johnson & Johnson aufgehoben wurde, genüge. Denn, so Lauterbach: „Mit der Priorisierung können wir die vulnerablen Gruppen am besten schützen.“