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In London sind die Corona-Maßnahmen am Montag gelockert worden. Die deutsche Impfkampagne gibt das noch nicht her.
© Tolga Akmen/AFP

Impfungen als Schlüssel zur Normalität: Wann ist Deutschland so weit wie Großbritannien?

In Deutschland kommt die Impfkampagne immer besser voran. Bis sie ihre Wirkung entfaltet, dürfte es aber noch bis Juni dauern, wie Prognosen zeigen.

Immer mehr Menschen in Deutschland erhalten ihre Corona-Schutzimpfung. Bis Freitag hatten fast 19 Prozent zumindest die erste Spritze erhalten, das sind mehr als 15 Millionen Menschen. Die Impfkampagne eilt von Rekord zu Rekord: Der bisherigen Höchststand von rund 725.000 Impfungen vom vergangenen Donnerstag wurde an diesem Mittwoch mit fast 740.000 Impfungen nochmals übertroffen.

Viele fragen sich nun: Müssten die vielen Impfungen nicht bald einen Effekt auf die Infektionszahlen und die Intensivbetten-Auslastung haben?

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Der Charité-Virologe Christian Drosten ist da wenig optimistisch. Er erwartet, dass Deutschland erst im Sommer über die Impfungen einen ausreichenden Immunschutz der Bevölkerung erreichen könne, um das gesellschaftliche Leben unumkehrbar wieder hochfahren zu können, so wie es jetzt in Großbritannien der Fall sei. Das sagte er am Donnerstag auf der virtuellen Veranstaltung „Ein Jahr Corona-Pandemie: Versuch eines gesamtmedizinischen Resümees“ der Stiftung Charité.

Im Großbritannien betrage die „Seroprävalenz“ schon jetzt über 50 Prozent der Gesamtbevölkerung. Das heißt, gut die Hälfte der Briten verfügt über Antikörper gegen das Coronavirus durch eine Infektion oder Impfung. „Dort werden jetzt die Schulen geöffnet und das gesellschaftliche Leben schrittweise weiter geöffnet“, sagte Drosten. Er gehe davon aus, dass diese Öffnungen auch nicht mehr zurückgenommen werden müssten.

Deutschland sei davon noch weit entfernt. „Wir können uns das im Moment nicht ohne Weiteres leisten“, sagte Drosten. „Wir haben nicht die Gelegenheit genutzt, früh und mit weit genutzten Spielräumen in eine Impfkampagne einzusteigen.“

Das Ziel müsse sein, eine Herdenimmunität in der deutschen Bevölkerung aufzubauen, sagte der Impfstoff-Forscher Leif-Erik Sander auf der gleichen Veranstaltung. „Ohne Immunität bekommen wir keine Normalität.“

Die Herdenimmunität gibt an, wie viele Menschen in einer Bevölkerung geimpft sein müssen, um einen Krankheitserreger wirksam an der Weiterverbreitung zu hindern. Denn trifft der Erreger immer wieder auf eine geimpfte Person, ist die Infektionskette unterbrochen. Experten schätzen, dass die Herdenimmunität beim Coronavirus erreicht sei, wenn zwischen 60 und 80 Prozent der Bevölkerung immunisiert ist.

Die Erfolge sehe man beim Impfweltmeister Israel, sagte Sander. Dort sei das öffentliche Leben wieder komplett hochgefahren und alle Marker für das Infektionsgeschehen – also Inzidenzzahlen, die Krankenhausbelegung und vieles weitere – sinken trotzdem. Da gleiche sei jetzt in Großbritannien zu beobachten. „Da ist Deutschland noch nicht.“ Bis dahin müsse die Übertragung des Virus von einer Person auf eine andere nichtmedikamentös unterbunden werden, also durch strikte Kontaktbegrenzung.

Deutschland könnte Anfang Juni bei 50 Prozent stehen

Durch die Hausärzte und das damit einhergehende zunehmende Impftempo sowie einen Blick nach Großbritannien und Israel lässt sich allerdings zumindest vorsichtig prognostizieren, wann ein normales Leben wieder möglich sein könnte.

In Großbritannien wurde der Lockdown am vergangenen Montag soweit gelockert, dass Einzelhandel, Gastronomie und Dienstleister wieder öffnen dürfen. Ende März war es den Briten wieder erlaubt, sich mit bis zu sechs Menschen zu treffen. Das alles, weil zunächst die Inzidenz, dann die Zahl der Intensivpatienten und anschließend die Zahl der Corona-Toten sank. Mittlerweile ist fast die Hälfte der Briten zumindest einmal geimpft.

Wenn man das jetzige Impftempo in Deutschland zugrunde legt, das sind rund 3,6 Millionen verabreichte Impfdosen und anteilig an der Gesamtbevölkerung rund 4 Prozent erstgeimpfte Menschen pro Woche, dann wären wir in Deutschland frühestens Anfang Juni bei 50 Prozent zumindest teilweise immunisierten Menschen. Das passt zum Plan des Kanzleramts, das den Zeitraum von bis zu sechs Wochen für den womöglich letzten harten Lockdown nennt.

Mit Blick auf Israel bestätigt sich Drostens Hochrechnung: Israel hatte den Stand von 50 Prozent „Seroprävalenz“ bereits Mitte Februar erreicht. Zu diesem Zeitpunkt wurde dort der Lockdown aufgehoben. Das bestätigt, dass die 50 Prozent eine entscheidende Marke sein dürften. Mittlerweile sind rund 62 Prozent der Israelis zumindest einmal geimpft.

Dass Lockerungen erst ab Mai oder Juni sukzessiv vertretbar seien, hatte bereits das Robert Koch-Institut (RKI) Anfang April in seinem epidemiologischen Bulletin mit Modellrechnungen untermauert. Damals waren in Deutschland erst zehn Prozent der Menschen geimpft. Ab wann die Impfungen einen Einfluss auf die Inzidenzen haben werden, konnte das RKI auf Anfrage nicht beantworten und verwies auf laufende Modellrechnungen.

Ab 27 Prozent Impfquote weniger Intensivbetten-Auslastung?

Intensivmediziner berichten dem Tagesspiegel, dass schon ab einer Impfquote von 27 Prozent unter den über 60-Jährigen ein deutlicher Impfeffekt zumindest auf die Belastung der Intensivstationen zu erwarten sei – ein Hauptkriterium für die Rückkehr zum normalen Leben.

Allerdings gelte diese Vorhersage nur bei stabiler Inzidenz – und nicht bei einem exponentiellen Wachstum wie derzeit in Deutschland. Legt man nur den derzeitigen Impffortschritt pro Woche zugrunde, wäre diese Impfquote von 27 Prozent bereits frühestens Anfang Mai erreicht. Sollte sich die Inzidenz durch die Notbremse bis dahin stabilisieren, wäre es immerhin ein erster Schritt Richtung Lockdown-Ende.

Interessant dabei: Für Anfang Mai prognostiziert die Deutsche Interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (Divi) den vorübergehenden Höhepunkt der Intensivbetten-Auslastung von mehr als 5000 Corona-Patienten. Dem Prognosemodell zufolge halbiert sich die Zahl der Patienten dann innerhalb eines Monats.

Eine Prognose, wie sich die Impfungen auswirken könnten, will die Divi erst in der kommenden Woche abgeben, wenn die Zahlen nach Ostern mehr Aussagekraft haben sollen.

[Mehr zum Thema: Intensivmediziner appelliert verzweifelt - Wir sind den Tod gewohnt, aber so etwas gab es noch nie“ (T+).]

Dass das Impftempo so beibehalten werden kann, ist allerdings abhängig von den Liefermengen. Derzeit sind rund vier Millionen Dosen Impfstoff in Deutschland auf Lager. Zuversichtlich macht, dass die niedergelassenen Ärzte laut Bundesgesundheitsministerium in den kommenden Wochen durch zusätzliche Lieferungen von Biontech/Pfizer mit deutlich mehr Impfstoffen rechnen können als bisher.

Den noch unverbindlichen Prognosen des Gesundheitsressorts zufolge dürften die Arztpraxen in der letzten Aprilwoche mehr als zwei Millionen Biontech-Impfdosen erhalten. Dies wäre mehr als doppelt so viel als in dieser und in der vergangenen Woche. Für die kommende Woche wurden allerdings lediglich 462.000 Biontech-Impfdosen angekündigt, dazu 554.000 von Astrazeneca.

Den Fortschritt weiter befeuern könnte auch eine Änderung der Impfstrategie, hin zu noch mehr Impfungen in Arztpraxen. Denn: Einem Bericht der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ zufolge injizieren die Impfzentren nur 80 Prozent des ihnen zur Verfügung stehenden Impfstoffs, während die Praxen mehr als 99 Prozent schaffen.

Das habe auch damit zu tun, dass der Impfstoff dort weniger lang gelagert werden könne, die Hausärzte deshalb bei übriggebliebenen Dosen schneller impfwillige Patienten erreichen können.

Das größte Problem auf dem Weg zur Herdenimmunität ist Drosten zufolge allerdings ein anderes: und zwar, dass es noch immer keinen Impfstoff für Kinder gibt. Auch wenn schon einige Studien liefen, wäre er nicht überrascht, „wenn wir zum Sommer hin oder nach den Sommerferien Erwachsenenimpfstoffe ohne spezielle Zulassung an Kinder verimpfen müssen – ob wir wollen oder nicht“, so Drosten.

Herdenimmunität schützt nicht vor Corona-Infektionen

Die bisher laufenden Studien mit Kindern geben aber Anlass zum Optimismus, sagte Leif-Erik Sander. Die mRNA-Impfstoffe – also zum Beispiel Biontech/Pfizer und Moderna – erreichen zumindest bei Jugendlichen eine exzellente Immunantwort und sehr gute Wirksamkeit. Gegebenenfalls müsse man Kindern in den Impfstoff in einer geringeren Dosierung geben.

Die Herdenimmunität ist aber keine Garantie, dass sich nicht trotzdem Menschen mit dem Coronavirus infizieren. „Die Mutationen des Virus, die einen Vorteil haben, wenn alle geimpft sind, die lauern schon bei uns“, sagte Christian Drosten. „Wir werden natürlich sehen, dass sie die normale Bevölkerung infizieren.“ Aber das sei dann eine geimpfte Bevölkerung. „Die Viren, die dann in der immunen Bevölkerung zirkulieren, werden dann nach aller Erwartung keine schweren Krankheitsverläufe mehr verursachen.“

Das sieht Drostens Charité-Kollege Sander genauso: „Es gibt Virusvarianten, die sich bestimmten Teilen der Immunantwort entziehen können. Wir sehen aber auch, dass andere Teile der Immunantwort noch sehr, sehr gut anspringen.“

Es sei also zwar möglich, dass geimpfte Personen wieder Corona-positiv würden, vielleicht sogar mal Kopfschmerzen bekämen. „Aber die schweren Krankheitsverläufe werden wir nicht mehr sehen.“ Deshalb werde auch der Druck auf das gesamte Gesundheitssystem verschwinden und damit die Notwendigkeit, das Infektionsgeschehen mit drastischen Maßnahmen einzudämmen.

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