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Immer feste druff. Männlichkeit funktioniert auch bei vielen Menschen noch nach archaischen Ritualen.
© Getty Images/iStockphoto

Männliches Selbstbild in der Krise: Wir brauchen einen Feminismus für Männer

Der Fortschritt bringt die bisherige männliche Identität ins Wanken. Das nutzen Populisten wie Trump und die AfD aus. Aber es muss weitergehen. Ein Essay.

Ein Essay von Max Tholl

Er steckt in der Krise. Schon wieder. Vielleicht ist es eine Dauerkrise. Vielleicht geschieht es ihm, dem weißen, heterosexuellen Mann, auch ganz recht. Schließlich hat er genügend Krisen und Probleme geschaffen – allen voran den Sexismus. Man muss aber nicht mehr den Blick auf den männlichen Umgang mit dem weiblichen Geschlecht richten, um zur Feststellung zu gelangen, dass das Konzept und unser Verständnis von Männlichkeit dringend überdacht gehören.

Der grassierende Sexismus, der gerade wieder am Beispiel Harvey Weinstein seine Langlebigkeit zeigt, ist verstörend. Keine Frage. Er ist aber oftmals nur Symptom. Die Krise, in der sich der Mann heute befindet, reicht deutlich weiter, tief hinein ins Mannesinnere. Die Konsequenzen dieser Malaise bekommen aber alle zu spüren. Schon wieder.

Für viele Männer stellt sich die Frage nach den Charakteristiken der Männlichkeit wahrscheinlich nicht. Sie denken so viel darüber nach wie Fische über Wasser. Die Männlichkeit ist für sie allgegenwärtig. Sie leben Männlichkeit, weil sie dem männlichen Geschlecht zugehören. Die biologischen Merkmale definieren demnach das soziale Wesen. Dabei ist an der Männlichkeit wenig natürlich oder biologisch. In Anlehnung an Simone de Beauvoirs bekannten feministischen Leitsatz, kann auch behauptet werden, dass Männer nicht als Männer geboren, sondern dazu gemacht werden. Seine körperlichen Merkmale sind gegeben, der Rest ist konstruiert.

Es sind die kulturellen Gepflogenheiten und gesellschaftlichen Verhältnisse, die die Männlichkeit festlegen. Und es sind Männer die diese bestimmen beziehungsweise bestimmten. So sind Männer gleichzeitig Hüter und Gefangene der eigenen Männlichkeit. Es gibt viele Definitionen und Arten der Männlichkeit, die alle kultur- und ortsgebunden sind.

Der Einfachheit halber kann man sich an der Definition des britischen Künstlers und Transvestiten Grayson Perry orientieren, der überspitzt aber punktgenau festhält, dass sie ein Konstrukt konditionierter Emotionen für Menschen mit Penis ist. Genau dieses Konstrukt wackelt jedoch enorm und droht zu kollabieren. Das betrifft alle Männer, wenn auch auf unterschiedliche Weise.

Das Festhalten an der Kontrolle

Das Konstrukt Mann hat vielen Männern über Jahrhunderte eine Identität und dadurch Halt gegeben. Was geschieht aber, wenn der gesellschaftliche und technologische Fortschritt dieses Konstrukt gefährden oder als überholt wirken lassen? Wenn Frauen plötzlich Ebenbürtige sind und traditionelle Männerdomänen vor allen in der Arbeitswelt auf einmal an Bedeutung verlieren?

Es kommt zu einer Identitätskrise und an genau so einer leidet der heutige Mann. Die Sinneskrise hat Tradition. Immer wieder wurde die Rolle des Mannes innerhalb der Gesellschaft herausgefordert. Bereits im Jahr 1914 schrieb der amerikanische Journalist Floyd Dell, dass der Mann das Gefühl benötigt, gebraucht zu werden und eigentlich gar nicht frei sein will.

Der Feminismus, der zu jener Zeit noch in den Anfangstagen steckte, war Dell zufolge eine Chance, diesem Zustand zu entkommen, denn er würde, über kurz oder lang dazu führen, dass es keine Abhängigkeit der Frau gegenüber dem Mann mehr gibt und der Mann folglich zur Freiheit gezwungen wird. Dells Analyse war damals utopisch, heute ist sie in Teilen bereits Realität. Trotzdem krallt sich der Mann weiterhin verzweifelt an seinen Status. Und er glaubt: Kontrolle über die anderen geht nur mittels Kontrolle über sich selbst.

Männer finden kein Ventil für ihre Emotionen

Dieser Glaube führt dazu, dass viele der heutigen Wesenszüge des Mannes sich nicht sonderlich von denen von vor 100 Jahren unterscheiden. Die Männlichkeit ist ein in sich geschlossenes Wertesystem. Mut, Härte, Kraft und ein eiserner Wille zählen dazu; Schwäche nicht. Dieser Irrglaube tötet Männer tagtäglich. Fast jedes Land der Welt erlebt derzeit eine männliche Selbstmordepidemie. In Deutschland ist die Suizidrate unter Männern dreimal höher als die unter Frauen – obwohl Frauen oftmals ein deutlich höheres Risiko haben, an einer Depression zu erkranken.

Die Erklärungen sind mannigfaltig, Psychiater sind sich aber einig, dass die „Festung Mann“, die emotionale Verschlossenheit und die Tabuisierung der Schwäche, ein Hauptgrund sein dürfte. Gleiches gilt für die grassierende Alkoholsucht und das gewalttätige Verhalten vieler Männer. Es sind Symptome dessen, was der britische Autor Jack Urwin als „toxische Männlichkeit“ bezeichnet. Urwin argumentiert in seinem Buch „Boys don't cry“, dass es neben der aktiven Männlichkeit – dem Imponiergehabe – auch eine passive Männlichkeit gibt, die sich durch das Stillschweigen über die persönlichen Ängste und Probleme bemerkbar macht.

Das gesunde Selbstwertgefühl, das der Feminismus für Frauen schafft, hat immer noch kein männliches Pendant gefunden. Männer haben Probleme. Sie sind Menschen, es ist normal. Sie finden allerdings in vielen Fällen kein Ventil für ihre Emotionen und verharren in ihrem Schmerz, der sie antreibt, ihre Hypermaskulinität auf die Spitze zu treiben. Es ist an der Zeit, dass der Mann sich emanzipiert – von sich selbst.

Wozu heute noch körperliche Kraft im Berufsleben?

Doch statt mit dem Wandel zu gehen, flüchten sich viele Männer in ein trügerisches Selbstverständnis. Sie wollen oder können nicht akzeptieren, dass die traditionellen Rollen der Männlichkeit – der Krieger, der Patriarch, der Don Juan – enorm an Bedeutung eingebüßt haben. Wie Grayson Perry konstatiert, scheint der weiße, heterosexuelle Mann immer noch zu glauben, der Nullmeridian der Geschlechteridentitäten zu sein: Alle anderen orientieren sich an ihm. Mit der Konsequenz, dass es keine Männlichkeit jenseits der heteronormativen geben kann. Ein Trugschluss mit gefährlichen Folgen. Doch all das Brustgetrommel kann den Abgesang nicht übertönen.

Der Mann ist nicht mehr Herr über die Welt. Er ist nicht einmal mehr Herr über die eigenen Umstände. Die Welt wartet nicht darauf, dass er sich an die neuen Realitäten anpasst. Attribute der Männlichkeit wie etwa körperliche Kraft und emotionale Härte wirken heute anachronistisch. Sie sind für die Gesellschaft meist so nützlich wie der Blinddarm für die Verdauung – ein funktionsloses Relikt. Zeitgleich erhöhen die voranschreitende Gleichstellung der Geschlechter und die Automatisierung vieler Arbeitsplätze den Konkurrenzdruck auf den Mann von heute. Die körperliche Arbeit, die er aufgrund seiner Statur jahrhundertelang für sich beanspruchte, wird in der westlichen Welt immer weniger.

Die Generation vor ihm erlebte noch die Blütezeit der männerdominierten Industrialisierung und das Wirtschaftswunder. Die Weltkriege vernichteten viele Männer, ließen andere aber als Helden zurückkehren. Die Gesellschaft ließ eine Lücke offen, die sie wieder füllen konnten. Heute, in einer post-heroischen Gesellschaft, in der das Militär abwertend beäugt wird und sich die Industrie jährlich dezimiert, wissen viele Männer sich nicht mehr einzureihen, sie finden keine Lücke mehr und kein Mittel mit ihren Sorgen umzugehen.

In ihrem vielbeachteten Essay „The End of Men“ argumentiert die amerikanische Autorin Hanna Rosin, dass Frauen in der Ausbildung und im Berufsleben den Männern zunehmend den Rang ablaufen. Von den 15 wachstumsstärksten Arbeitsbereichen in den USA werden Rosin zufolge nur zwei mehrheitlich männlich sein: die Technische Informatik und das Hausmeisterwesen. In den USA spricht man von der „Lean Out“-Generation junger Männer, die sich von den eigenen Idealen verraten fühlen und ihre Macht auf andere Weise zu zementieren versuchen.

Großmaul Trump und Hobby-Cowboy Putin

Die politische Konfrontation erweist sich vielen als erprobtes Mittel. In ihrem Frust gehen sie den populistischen Aufwieglern auf den Leim. Hinter dem Erstarken der nationalistischen Bewegungen steckt auch ein Verlangen nach dem „starken Mann“. Die Parolen von frauenverachtenden Großmäulern wie Trump oder die Muskelprotzerei des Hobby-Cowboys Putin stärken ein bedrohtes Männerbild. In Deutschland übernimmt die AfD das mit ihrer Kampfansage an die Gendertheorie. Der Wahlerfolg der Rechten zeigt, wie weitverbreitet dieses Weltbild noch ist. Gerade in Ostdeutschland konnte die AfD mit ihren Positionen punkten.

Natürlich spielen hier viele Faktoren mit, aber wie die Schriftstellerin Ines Geipel in einem Artikel in der „Welt am Sonntag“ jüngst festhielt: "Über den Osten zu reden, heißt auch über sein ungebrochenes Patriarchat zu reden.“ Geipel beschreibt in dem Beitrag „wie unerreichbar dieser Typ Ostmann im Grunde ist“ und konstatiert, dass die AfD biographisch gesehen, seine „letzte Möglichkeit ist, die Lebensdepression loszuwerden“, denn „es gibt wieder einen Auftrag, in einem gärenden Wir.“ Die Populisten versprechen dem Mann wieder Halt zu geben, lassen ihn alte Rollen wiederaufnehmen: der Patriot, der Beschützer, der Krieger. Was den Populismus und die toxische Männlichkeit eint, ist die Sehnsucht nach vergangenen Zeiten. Viele AfD-Wähler sind keine sogenannten Abgehängten, gehören nicht dem Prekariat an. Sie haben nicht weniger Angst vor materiellen Verlusten, als vor dem Verlust des gesellschaftlichen Ranges, den sie gefährdet sehen. Sie sind das Status-Prekariat. Und ihr Frust und ihre Angst ist fruchtbarer Boden für den Populismus.

Es braucht positive Vorbilder für heranwachsende Männer

Dieses Aufbegehren der Männer hat in den letzten Jahren immer wieder zu Debatten über den „alten, weißen, heterosexuellen Mann“ geführt, der mittlerweile vielen als Feindbild dient. Doch er ist eine Fiktion. Er ist ein Stereotyp und verbildlicht einen Typ Mann, der sich der vorherrschenden Auffassung der Männlichkeit verschrieben hat und sie gegen jegliche Angriffe zu verteidigen versucht. Er ist eine Krücke der Argumentation. Auch in diesem Text. Seine toxische Männlichkeit ist aber allzu real. Es darf nicht über einen Kamm geschert werden: Einige Männer zerstören, provozieren, diskriminieren; andere unterstützen, besänftigen, schützen. Wenn radikaler Feminismus in Männerfeindlichkeit umschlägt, hat das nichts mehr mit Emanzipierung zu tun, sondern mit Stigmatisierung.

Die Kunst liegt darin, zu erkennen, dass die meisten Männer richtig nette Kerle sind, dass die meisten Sexisten, Vergewaltiger, Mörder und Schläger aber eben auch Männer sind. Es zeigt, dass nicht der Mann an sich das Problem ist, sondern das falsche Verständnis davon, was ein Mann zu sein hat. Dagegen gilt es vorzugehen.

Floyd Dell hatte Recht, der Feminismus steht auch im Dienste des Mannes, denn er will ein Gleichgewicht etablieren, keine Herrschaft der Frauen auf Kosten der Männer. Und wenn Männer nicht mehr in der Hierarchie über Frauen stehen, können sie auch nicht mehr fallen, können nicht mehr „entmannt“ werden.

Stärkung und Ermutigung von innen

Grayson Perry rät den Männern deshalb: „Men, sit down for your rights!“ – Männer lehnt euch zurück für eure Rechte, lasst die Gleichstellung zu. Doch wird das so auch aufgenommen, oder zerschellt der Wunsch am männlichen Starrsinn? Der Feminismus kann eine entscheidende Rolle dabei spielen, den Mann aus seiner Bewusstseinskrise zu führen. Der Feminismus kennt den inneren Zwiespalt – nicht jede Frau ist Feministin –, weiß, wie langsam die Mühlen des Fortschritts mahlen und weiß, wie man sich nicht davon unterkriegen lässt. Aber es braucht auch die Stärkung und Ermutigung von innen, von den Männern.

Die gegenwärtigen Männerrechtsbewegungen können das nicht leisten, denn sie bekämpfen eher die Rechte der Frau, als dass sie die Rechte der Männer fördern. Gleichzeitig braucht es eine Stärkung der männlichen Rechte, aber der richtigen: das Recht auf Schwäche, das Recht auf Anderssein. Männlichkeit muss durch Männlichkeiten ersetzt werden. Auch der weiße, heterosexuelle Mann kann weiterhin existieren, aber bitte nicht als Werkseinstellung der Männlichkeit.

Wenn es keine positiven Vorbilder für heranwachsende Männer gibt, dann werden sie sich an den negativen orientieren und auch sie werden sich irgendwann in einer Sackgasse – no pun intended – wiederfinden. Sie werden an den Anforderungen, die an sie gestellt werden, verzweifeln, denn sie sollen einerseits ihren Mann stehen und das gesammelte Manneswissen an ihre Nachkömmlinge weitergeben, gleichzeitig aber auch eine feinfühlige Distanz dazu aufbauen. Für diesen Spagat braucht der Mann kein Mitleid, sondern Hilfe.

Die Vorteile von Empathie und Sensibilität

Die Krise des Mannes kann nur durch die Emanzipierung des Mannes von sich selbst überwunden werden. Der Feminismus hat es Frauen ermöglicht, in Männerdomänen vorzustoßen und Attribute der Männerwelt für sich zu beanspruchen. Jetzt muss es dem Mann gelingen, auch die Vorteile von Empathie oder Sensibilität zu erkennen, die er bisher als rein weibliche Wesenszüge verschrien hat. Wenn das gelingt, wäre schon viel erreicht. Der ewig währende Geschlechterkampf würde entschärft. Und, wer weiß, vielleicht würde endlich auf beiden Seiten begriffen, dass die Zukunft weder männlich noch weiblich sein muss.

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