Ost und West: Wir brauchen eine neue, ehrliche Erzählung der Einheit
Die deutsche Einheit ist brüchig, nicht nur im Osten. Aber genau das ist eine Chance - fürs ganze Land. Ein Kommentar.
Keine Lust, auf die Einheit anzustoßen? Zum Nationalfeiertag ist die Stimmung so prickelnd wie warmer Rotkäppchen-Sekt; das Wahlergebnis im Osten liegt den meisten schwer im Magen. Die frühere DDR, als stabiles Heimatgebilde erst nach dem Umbruch in vielen Köpfen auferstanden, ist nicht mehr protestrot gefärbt, sie hat eine neue, dunklere Farbe gewählt. Dort bricht sich Wut Bahn, laut gebrüllt oder still angekreuzt, Wut über persönliche Geringschätzungen und politische Auslassungen.
Selbst viele, die sich im Zeitenwechsel vor bald 30 Jahren nicht haben hängen und abhängen lassen, fühlen sich heute hintendran – weil der Staat sich aus der Fläche zurückzieht. Die real existierende Marktwirtschaft, von vielen als kalter Kapitalismus empfunden, hinterlässt emotionale Leere. Die gilt es zu füllen: politisch, persönlich, empathisch. Schon wegen der Umbrüche, vor denen ganz Deutschland jetzt steht. Die Menschen im Osten zu verstehen, das heißt vielleicht, sich für die Zukunft zu rüsten.
Verstehen, erst mal die Vergangenheit. Ich bin stolz, ostdeutsch zu sein – das sagt fast niemand. Trotz der Sensation einer friedlichen demokratischen Revolution. Trotz des harten Neuanfangs über Nacht für fast jeden. Trotz einer Kanzlerin, die sich mit ostdeutscher Unauffälligkeit bis an die Spitze des weiterhin westdeutsch geprägten Establishments gearbeitet hat. Selbst sie redet nicht darüber, was sie früher getan und gelassen hat. In vielen Familien sind Wendeverluste (und seien es nur Verluste von einst verhassten, aber vertrauten Nischen) allgegenwärtig, ohne dass darüber gesprochen wird. Das Schweigen über die Vergangenheit verhüllt die Gegenwart. Dabei ist das Heute ohne das Gestern nicht zu verstehen.
Deutschland vor radikalen Umbrüchen
Verstehen, das ist auch der Blick auf die Gegenwart. So abstoßend das Personal der AfD teilweise ist, die meisten ihrer Wähler sind es nicht. Es ist eben wirklich so: Heimat ist kein Ort, Heimat ist ein Gefühl. Und im Gewühl des Umbruchs bricht viel Heimat weg. Gemeinsamkeiten etwa, selbst wenn sie einst erzwungen wurden. Freiheiten, die man sich erobert hat, die aber bei geringer Zahlungskraft scheinbar nicht viel zählen – wenn man am Ende kaum Erspartes vererben kann, wenn die Pflege von Oma zur Existenzminimumfrage wird. Viele Kinder der Wende sind dem Osten verloren gegangen, sie zogen schnell gen Westen zur Arbeit und bringen nun die Enkel anderswo zur Welt, in einer weiteren Welt als jener, in der die schweigenden Alten leben. Nicht nur für sie braucht Deutschland eine neue, ehrliche Erzählung der Einheit. Nur dann können sich alle gemeinsam über das Morgen verständigen.
Verstehen, das ist unsere Zukunft: Deutschland steht vor neuen radikalen Umbrüchen, über die kaum geredet wird. Nach der Deindustrialisierung (auch sichtbar an den Wahlergebnissen im Ruhrgebiet) folgt mit der Digitalisierung die nächste Zeitenwende. Sie geht schon jetzt einher mit Verdichtung von Arbeit und Freizeit, Privatisierung von Pflege und Rente, Individualisierung in einer immer vielfältigeren Gesellschaft. Themen, die vielen Bürgern Angst machen, auch weil sie im Wahlkampf kaum vorkamen. Politische Empathie kann hier ein Anfang sein. Damit am Ende nicht wieder Protest steht.
Die deutsche Einheit ist brüchig, nicht nur im Osten. Genau das ist eine Chance fürs ganze Land. Wir müssen die Erfahrungen des Umbruchs nutzen für ein neues, gemeinsames Erzählen. Wer fängt an?