Wider die "Erinnerungswende": Wir brauchen das Holocaust-Gedenken als Kompass
Wer wie Björn Höcke eine "Erinnerungswende" fordert, will die Deutschen nur noch als Opfer und nie als Täter in den Geschichtsbüchern sehen. Ein Gastkommentar.
Zehn Tage vor dem Gedenktag, der in Deutschland an die Opfer des Nationalsozialismus und in aller Welt an die Opfer des Holocaust erinnern soll, sprach sich der AfD-Politiker Höcke für eine deutsche „erinnerungspolitische Wende um 180 Grad“ aus. Es ist nicht schwer, sich vorzustellen, wie diese Wende symbolisch eingeleitet wird – nicht nur mit dem Abbau des „Denkmals der Schande“ in der Mitte Berlins, sondern auch mit der Abschaffung des Gedenktags am 27. Januar, den Bundespräsident Roman Herzog 1996 als Mittel zur Stärkung des demokratischen Immunsystems der Republik eingeführt hatte. Doch es geht um mehr – eine erinnerungspolitische Wende hat zum Ziel, die kollektive Erinnerung, also die kollektive Identität zu ändern. Wenn wir die Wende nach 1945 bereits als Wende um 180 Grad begreifen, bedeutet die Rede des AfD-Politikers unmissverständlich die Aufforderung zur Rückkehr zur braunen Quelle.
Für den Politiker, der die Geschichte neu schreiben will, geht es weniger um die Vergangenheit, „wie es eigentlich gewesen“ ist (Ranke), als vielmehr um Gegenwart und Zukunft. Der rechtspopulistische Abgeordnete aus Thüringen hat in seiner Rede zwei frühere Bundespräsidenten an den Pranger gestellt – eben Herzog wegen seiner Rede 1997, in der er von „Europa als politischer Identität“ sprach, und Richard von Weizsäcker wegen seiner Rede vom 8. Mai 1985, die unter der Überschrift „Tag der Befreiung“ zusammenzufassen ist. Beide Bundespräsidenten wurden von Höcke als Vertreter einer gegen das Volk gerichteten Erinnerungspolitik dargestellt. Darauf, wie gefährlich die Heraufbeschwörung der Floskel „für das Volk“ beziehungsweise „Wir sind das Volk“ ist, wies der noch amtierende Bundespräsident Gauck hin, warnte vor der Propagierung einer „Rückkehr ins Nationale“ und schlug als Rezept den Verfassungspatriotismus anstatt des Patriotismus im Sinne der Rechtspopulisten vor.
Wird am 9. November nicht mehr an die Pogromnacht, sondern an den Hitlerputsch erinnert?
Was eine kollektive Erinnerungswende um 180 Grad bedeutet, muss der wehrhaften, liberalen Demokratie klar sein: Nach der Abschaffung des kalendarischen „Denkmals der Schande“, das heißt des Gedenktags zur Erinnerung an die Opfer des Nationalsozialismus, wird auch der Gedenktag am 9. November zur Erinnerung an die Reichspogromnacht 1938 abgeschafft, um sodann einen Gedenktag neu einzuführen, der an den gescheiterten Hitlerputsch im Jahr 1923 oder zumindest an die „Schmach“ vom Jahr 1918 erinnern soll. Das nur als Vorgeschmack. Dann werden die Deutschen, nach dem Wunsch des Rechtspopulisten, in den Geschichtsbüchern – vor allem im Schulunterricht – nur als Opfer, nie als Täter ihren Platz einnehmen. Dresden 1945 wird als Symbol des deutschen Opferseins in die kollektive Erinnerung eingehen, ohne Warschau, Coventry, Rotterdam oder Auschwitz zu erwähnen.
Der Rechtspopulist nennt den gegenwärtigen Umgang mit der deutschen Tätergeschichte „lächerlich“ und bietet das Gegenmittel zur angeblichen „Selbstauflösung“ und defekten Erinnerungspolitik an: „Eine positive Beziehung zu unserer Geschichte“, was so viel heißt wie „Holocaust out“ und „Deutsche Größe in“. Konkret: Mehr Besinnung auf die genialen Leitfiguren, an denen das deutsche Volk besonders reich sein mag. Nun fragt sich aber, wie lange es dauern wird, bevor es zur nächsten Stufe des damnatio memoriae (Auslöschung des Andenkens) kommt und aus der langen Liste der deutschen Genies wieder Albert Einstein, Felix Mendelssohn, Max Liebermann und andere verschwinden. Und wie lange, bis beim nächsten missglückten Krieg wieder nach Juden oder anderen Sündenböcken gesucht wird, um die eigene Schuld aus der kollektiven Erinnerung zu verdrängen?
Zum Glück sind die Erinnerungsleistungen nicht einfach so rückgängig zu machen
Da es um eine „Wende um 180 Grad“ gehen soll, wird nach der Wende wahrscheinlich der Kaisergeburtstag den Holocaustgedenktag am 27. Januar ersetzen. Der 20. April als Gedenktag wäre dann nur eine Frage der Zeit.
So weit sind wir hoffentlich nicht. Kollektive Erinnerung braucht Zeit, und das, was in dieser Hinsicht in der Bundesrepublik bisher geleistet wurde, ist nicht ohne Weiteres rückgängig zu machen. Gerade jetzt, wo Deutschland im globalen Ringen um die Werte der liberalen Demokratie einen besonderen Platz einnimmt, ist die von den Rechtspopulisten attackierte Erinnerungspolitik und Gedenkkultur ein schwer zu ersetzender Kompass.
Shimon Stein war israelischer Botschafter und ist zurzeit Senior Fellow am Institut für Sicherheitsstrategische Studien (INSS) an der Universität Tel Aviv. Moshe Zimmermann ist Professor emeritus für deutsche Geschichte an der Hebräischen Universität Jerusalem.