Europa-Staatsminister Michael Roth: "Wir beschäftigen uns viel zu wenig mit Mittel- und Osteuropa"
Der Staatsminister für Europa im Auswärtigen Amt, Michael Roth, spricht über Versäumnisse der EU mit neuen Mitgliedern, die Anti-Soros-Kampagne in Ungarn und das EU-Verfahren gegen Polen.
Herr Roth, Ungarns Parlament berät derzeit über ein Gesetzespaket, das zu einer drastischen Einschränkung der Rechte von Flüchtlingsorganisationen führen könnte. Ist Ungarns Regierungschef Viktor Orban dabei, den Pfad der Demokratie endgültig zu verlassen?
Viktor Orban ist ein Regierungschef, der selbstverständlich demokratisch gewählt wurde. Dennoch bereitet es mir große Sorge, dass er mit seiner Vorstellung einer Mehrheitsdemokratie meint, nicht ausreichend Rücksicht auf Minderheiten und andere Auffassungen nehmen zu müssen. Das „Stopp-Soros-Gesetzespaket“, mit dem Orban die Unterstützung des amerikanischen Milliardärs George Soros für die ungarische Zivilgesellschaft und die Arbeit der Flüchtlingsorganisationen beschränken will, ist befremdlich. Wir haben den Eindruck, dass in Budapest bei der Anti-Soros-Kampagne mit staatlicher Unterstützung gefährliche Klischees bedient werden: Soros wird als „jüdischer Finanzkapitalist“ und illegaler Flüchtlingshelfer dämonisiert. Es steht jedem frei, an George Soros Kritik anzumelden. Aber ihn zu verteufeln, wie dies in Ungarn gegenwärtig der Fall ist – das halte ich für brandgefährlich und inakzeptabel.
Überzieht Orban in seinem Bemühen, bei der Parlamentswahl im April erneut im Amt bestätigt zu werden?
Es gehört zu jedem Wahlkampf zu versuchen, sich in eine günstige Ausgangsposition zu bringen. Trotzdem müssen dabei ein paar Prinzipien gelten. So ist es nicht akzeptabel, wenn sich ein EU-Mitgliedstaat derart abfällig gegenüber unseren europäischen Grundwerten ausdrückt, wie es die ungarische Regierung zuweilen tut. Denn die EU ist mehr als ein Binnenmarkt. Die EU ist eine Wertegemeinschaft, die sämtliche Mitglieder verpflichtet. Die Bundesregierung hat gar kein Interesse, einen bilateralen Konflikt mit Ungarn vom Zaun zu brechen, ganz im Gegenteil. Aber wenn irgendwo in der EU die Grundwerte der Gemeinschaft missachtet werden, dann darf man nicht einfach darüber hinwegsehen.
Sollte angesichts der Verstöße gegen die europäischen Grundrechte auch gegen Ungarn ein Verfahren nach Artikel 7 des EU-Vertrages zum Entzug des Stimmrechts in der Gemeinschaft eingeleitet werden, wie die Brüsseler Kommission dies bereits im Fall Polens getan hat?
Die EU-Kommission setzt ja bereits verschiedene Instrumente im Umgang mit Ungarn ein. Dazu zählen mehrere Vertragsverletzungsverfahren. Die Kommission hat hier unsere volle Unterstützung. Ob man auch auf den Artikel 7 zurückgreifen könnte, kann ich zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch nicht bewerten.
In Brüssel wurde ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Ungarn, Tschechien und Polen eingeleitet, weil sich die drei Ländern gegen den EU-Beschluss zur Aufnahme von Flüchtlingen sperren. Nach den Worten von Orban ist die Migration „gefährlich für die Sicherheit, für unsere Lebensweise und die christliche Kultur“.
Es wäre viel erreicht, wenn in Budapest eine derartige Propaganda beendet würde. Es gibt derzeit in Ungarn etwa 400 Flüchtlinge. Es ist ein Zerrbild, wenn behauptet wird, dass das Land von Flüchtlingen überrannt wird. Wir sind ebenso wie Ungarn der Auffassung, dass der Schutz der EU-Außengrenzen verstärkt werden muss. Dabei geht es nicht darum, eine „Festung Europa“ zu errichten. Vielmehr haben alle EU-Bürger einen Anspruch darauf zu wissen: Wer kommt in die EU?
Wenn aber Orban in seiner Ablehnung von Flüchtlingsquoten trotz allem hart bleibt – sollten dann die zuständigen EU-Innenminister erneut wie schon im Herbst 2015 einen Mehrheitsbeschluss für Flüchtlingsquoten fassen und Ungarn überstimmen?
Das wird man sehen. Man muss sich in der EU nun wirklich nicht dafür entschuldigen, wenn man die üblichen Gesetzgebungsverfahren anwendet. Wenn wir diese Mehrheitsentscheidungen nutzen, dann ist das definitiv kein Verstoß gegen geltendes Recht. In einigen Ländern ist die Frage von Integration und Migration noch relativ neu. Es gibt weniger Erfahrungen damit als etwa in Deutschland. Dafür habe ich Verständnis. Deshalb ist es so wichtig, dass Länder wie Deutschland mit gutem Beispiel voran gehen und deutlich machen: die Vielfalt von Religionen, Kulturen und Ethnien ist zwar bisweilen anstrengend, aber sie bereichert uns eben auch und macht uns stärker.
Kanzlerin Angela Merkel hat die Möglichkeit ins Gespräch gebracht, künftig die Auszahlung von EU-Fördergeldern für strukturschwache Regionen an die Aufnahme von Flüchtlingen zu knüpfen. Was halten Sie davon?
Wir sollten die Diskussion über die EU-Haushaltsperiode ab 2021 völlig entkoppeln von den spezifischen Entwicklungen in Ungarn und Polen. Was wir für den künftigen EU-Haushaltsrahmen verabreden wollen, betrifft sämtliche 27 EU-Mitgliedstaaten. Wir unterstützen ja zwei Überlegungen: Erstens: Es hat finanzielle Auswirkungen, wenn einzelne Mitgliedstaaten die von ihnen verlangten Strukturreformen umsetzen oder nicht. Zweitens: Wir wollen die Auszahlung von EU-Geldern grundsätzlich auch von der Einhaltung rechtsstaatlicher Prinzipien abhängig machen. Wir sollten aber nicht nur über Sanktionen und Mittelkürzungen reden. Ich rege an, künftig einen eigenen EU-Fonds für Grundwerte und Rechtsstaatlichkeit einzurichten. Mit diesem Fonds könnte die Zivilgesellschaft überall dort unterstützt werden, wo der Rechtsstaat unter Druck gerät. Denkbar wäre es, einen solchen Geldtopf im Rahmen des bestehenden Europäischen Fonds für Strategische Investitionen anzulegen.
Apropos Polen: Wie geht es weiter im Verfahren nach Artikel 7 des EU-Vertrages?
Zunächst einmal geht es hier nicht um einen deutsch-polnischen Dissens, sondern eine notwendige Diskussion zwischen der Europäischen Union und Polen. Ich hoffe immer noch, dass unsere polnischen Partner sich dazu bereit erklären, die Vorgaben der EU-Kommission zu erfüllen. Andererseits muss aber auch klar sein: In Fragen der Rechtsstaatlichkeit wird es keinen Rabatt geben.
Wie sehen Sie die Rolle Deutschlands in der EU? Ist Berlin ein Vermittler zwischen den „alten“ und den „neuen“ Mitgliedstaaten?
Wir müssen uns selbstkritisch vor Augen führen, dass sich die „alten“ und „neuen“ Mitgliedstaaten auch fast 14 Jahre nach der EU-Osterweiterung immer noch sehr fremd geblieben sind. Es ist noch nicht richtig zusammengewachsen, was eigentlich zusammengehört. Wir beschäftigen uns viel zu wenig mit der Lage in Mittel- und Osteuropa. Ich bin sehr beeindruckt von den Thesen des bulgarischen Intellektuellen Ivan Krastev. Zu Recht hält er den Westeuropäern vor, dass wir uns bislang nicht wirklich für Mittel- und Osteuropa interessiert haben. Im Westen wird oft unterschätzt, welch ungeheuren wirtschaftlichen und sozialen Transformationsprozess die Menschen in Mittel- und Osteuropa seit 1989 durchgemacht haben. Sofern sie überhaupt in ihrer Heimat geblieben sind: Seit 2010 sind allein aus Ungarn etwa 600.000 überwiegend junge Menschen ausgewandert. Insbesondere die mobilen und europäisch gesinnten Menschen haben seit 1989 millionenfach Mittelosteuropa verlassen. Dies ist ein schmerzhafter Verlust für unsere Nachbarn, den wir nicht vergessen dürfen.
Das Gespräch führten Gerd Appenzeller und Albrecht Meier.