Anschlag auf Altenas Bürgermeister: Willkommen, liebe Flüchtlinge!
Andreas Hollstein handelt mit einer Mischung aus Menschlichkeit, Mut und pragmatischer Weitsicht. Er erinnert darin an den italienischen Bürgermeister Domenico Lucano.
Die Bundeskanzlerin äußerte sich per Twitter ihres Regierungssprechers „entsetzt“, über das Messerattentat auf Andreas Hollstein, den Bürgermeister von Altena. Angela Merkel hatte dem CDU-Politiker, der auf eigene Initiative etwa 450 Flüchtlinge in sein nordrhein-westfälisches Städtchen geholt hatte, im Mai in Berlin den „Nationalen Integrationspreis“ überreicht. Trotzdem hielt sich das veröffentlichte Beileid, zumal aus Berlin, in Grenzen. Nach Altena fuhr spontan kein Spitzenpolitiker, und das Wort „Flüchtlinge“ wurde in Stellungnahmen geradezu schamhaft vermieden.
Bürgermeister Hollstein verdankt sein Leben dem Eingreifen von zwei türkischen Immigranten. Seine Gemeinde ist in den letzten Jahrzehnten um fast die Hälfte auf gut 17.000 Einwohner geschrumpft. Es stehen zahllose Häuser und Wohnungen leer. Wie in vielen Städten und Landstrichen. Wohnungsnot herrscht zwischen Berlin und München in einigen Ballungszentren, aber Deutschlands demografische Entwicklung geht weiter bergab. Eben erst hat eine Studie zum Immobilienmarkt ergeben, dass allein in Ostdeutschland derzeit etwa 600.000 Wohnungen leer stehen; eine Zahl, die sich bis 2030 laut Ifo-Institut verdoppeln soll.
Andreas Hollstein will dem in Altena in einer Mischung aus Menschlichkeit, Mut und pragmatischer Weitsicht entgegenwirken. Möglicherweise hat er sich dabei von Riace inspirieren lassen. Riace? Das ist eine Kleinstadt im süditalienischen Kalabrien. Sein Bürgermeister heißt Domenico („Mimmo“) Lucano und ist nur unwesentlich älter als sein Kollege Hollstein. Lucano wurde 2012 mit dem Dresdner Friedenspreis ausgezeichnet und vier Jahre später von der amerikanischen Zeitschrift „Fortune“ zu einer der 50 „einflussreichsten Persönlichkeiten der Welt“ gekürt.
Ein Drittel der Einwohner in Riace sind Immigranten
Sein Städtchen Riace hat etwa 2500 Einwohner, davon sind ein Drittel (!) Immigranten, vornehmlich aus Afrika und Syrien. Lucano hatte schon Ende der 1990er Jahre, als Flüchtlingsboote vor der Küste Riaces notlandeten, die Idee, diese Menschen nicht nur in Camps einzupferchen oder weiter abzuschieben. Damals war Riace wegen der hohen Arbeitslosigkeit im italienischen Süden von 3000 auf 800 Einwohner geschrumpft. Ein sterbendes Dorf. Mit Freunden entwickelte Mimmo Lucano daraufhin das Modell einer „città futura“, einer Zukunftsstadt, das er seit 2004 als Bürgermeister mit wachsendem Erfolg durchgesetzt hat. Gegen Anfeindungen – und Attentatsversuche der Mafia.
Über Riace sagt der italienische Autor Roberto Saviano („Gomorrha“) in einem dieser Tage erschienenen Gesprächsband mit Giovanni di Lorenzo („Erklär mir Italien!“): „Es gibt dort so gut wie keine Konflikte, Muslime leben mit Christen zusammen, das nenne ich Integration.“ Flüchtlinge seien in leere Häuser gezogen und hätten sie instand gesetzt, alte Traditionen von Handwerk und Landwirtschaft, verlassene Olivenhaine und Weinberge seien wiederbelebt worden. Der staatliche und private Aufwand für die Integration der neuen Bürger hat sich ökonomisch und lebenskulturell offenbar ausgezahlt.
Bemerkenswert freilich: Als „Spiegel-Online“ im April 2016 einmal unter der Überschrift „Benvenuti, liebe Flüchtlinge!“ über das Modell Riace berichtete, musste das sonst übliche „Forum“ für Leserzuschriften gelöscht werden. Wegen zu vieler beleidigender Wut- und Hass-Mails.
Aufklärung gegen Fremdenfeindlichkeit
Im Tagesspiegel habe ich an dieser Stelle im September 2014, ein Jahr vor der jähen Öffnung der deutschen Grenzen, geschrieben: „Die Festung Europa wankt, die Geschichte ist überall im Sturzfluss. Warum also nicht mal über alle Grenzen hinausdenken? Und bitte halten Sie, bevor Sie jetzt gleich losmailen und mir naive Traumtänzerei bescheinigen, nur einen Augenblick inne. Was wäre eigentlich, wenn in den schönen,dünn besiedelten Weiten beispielsweise von Brandenburg oder Meckpomm, wenn in schön restaurierten, jedoch aussterbenden Städten wie Luthers Wittenberg in Sachsen-Anhalt oder Barlachs Güstrow sich ein paar hunderttausend neuer Menschen ansiedelten? Wenn vertriebene afrikanische Bauern dort Vieh weiden und Gemüse pflanzen würden und neue Handwerksbetriebe, lokale oder regionale Märkte entstünden?“
Damals hatte ich von Riace noch nicht gehört. Es war eine Vision. Und natürlich sind Ostdeutschland und Süditalien schon klimatisch nicht vergleichbar. Aber Fremdenfeindlichkeit gibt es hier wie dort. Darum braucht es Mut und Aufklärung. Über Riace und Altena, als Chance.
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