Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen: Wie zwei Genossen durch die AfD zu Rivalen wurden
Sie waren Sozialdemokraten, Freunde – und vereint im Kampf gegen Essens SPD-Elite. Dann ging der eine unter Tränen zur AfD. Ein Lehrstück über Politik in NRW.
Der Einmeterneunzigmann ächzt, als er den Grill in den Kofferraum wuchtet. „So ein Pisswetter.“ Dicke Tropfen platschen auf Guido Reils Kopf, ziehen Schlieren auf seiner Brille. Jetzt noch die Bratwürste, die Gasflasche, die Bierfässer. Er blickt auf und grinst. „Aber wir sind ja ’ne Arbeiterpartei. Maloche gehört da dazu.“
Eine halbe Stunde später steht Reil am Frintroper Markt, ganz im Westen von Essen. Ein eisiger Wind fegt durch die Straßen. Nur hin und wieder kommen Passanten vorbei. „Würstchen? Pils?“, ruft Reil ihnen hinterher. Seine rechte Hand vergräbt er in der Hosentasche, in der linken hält er einen blauen Schirm gegen den Wind. Darauf ein roter Pfeil. Das Parteilogo der AfD.
Ein paar Tage später und einige Kilometer weiter nördlich sitzt Stephan Duda auf einer Holzbank vor dem Vereinsheim des FC Karnap und blinzelt in die Sonne. „Der Guido und ich“, sagt er, „wir waren schon ein tolles Team.“
Er angelt eine Zigarette aus seiner Jackentasche. „Aber wir Sozialdemokraten müssen den Leuten zeigen, dass die AfD keine Alternative ist.“
Hinter dem Klubhaus spielt die C-Jugend des FC Karnap. Eltern schimpfen von der Seitenlinie, Kommandos schallen über den Platz. Starkstromleitungen zerschneiden den Frühlingshimmel über dem Fußballfeld. „Guido und ich sind damals durch die Scheiße gegangen.“
Wer darf sich noch Arbeiterpartei nennen? Sozialdemokraten oder Rechte?
Duda blickt dem Rauch seiner Zigarette nach. „Aber heute erkenne ich ihn nicht wieder.“
Damals. Was klingt wie eine Ewigkeit, liegt bei Guido Reil und Stephan Duda erst gut ein Jahr zurück. Sie waren Widerständler, Genossen, Freunde. Gemeinsam kämpften sie gegen die Parteioberen der Essener SPD, zwei Aufrührer aus dem Norden, die sich nichts sagen ließen. Heute kämpft jeder seinen eigenen Kampf, aus den Freunden von einst sind die Rivalen von heute geworden.
Ihre Geschichte ist ein Lehrstück über Politik in Nordrhein-Westfalen. Über rechte und linke Kümmerer, Pragmatiker und Populisten, über Enttäuschungen und Wut. Es geht um die Frage, wem die sogenannten kleinen Leute zwischen Rhein und Ruhr vertrauen, ob die SPD ihr Stammland verteidigen kann und darum, wer sich nach der Landtagswahl am kommenden Wochenende Arbeiterpartei nennen darf: Sozialdemokraten oder Rechte.
An einem Freitagabend im März lenkt Guido Reil seinen schwarzen Jeep durch die breiten Straßen im Essener Norden, wo das Ruhrgebiet noch so aussieht wie sein Klischee. Vorbei an der Glashütte, dem dampfenden Schlot der Müllverbrennungsanlage, den Backsteinhäuschen, die sich in der Zechensiedlung eng aneinanderschmiegen. „Da drüben“, sagt er und deutet mit seiner Schaufelhand auf eine geschlossene Kneipe, „da bin ich damals ausgetreten.“
Geltungssüchtig nennen ihn die einen. Unverbogen die anderen
Guido Reils neues Leben begann vor knapp einem Jahr. Und sein altes endete hier. 26 Jahre war er SPD-Mitglied, zehn Jahre Vorsitzender des Ortsvereins, acht Jahre Ratsherr in Essen. Biografisch ein Vorzeigesozi: Bergmann, Gewerkschafter, Betriebsrat. Aber immer auch ein Quertreiber, Kritiker, Außenseiter. Einer, der sich schwertat mit der Kaderdisziplin der Ruhrgebiets-SPD.
Geltungssüchtig nennen ihn die einen. Unverbogen die anderen.
Im Januar letzten Jahres führte Reil seine letzte Revolte an. Gemeinsam mit seinem Freund Stephan Duda. Es ging um die Verteilung der Flüchtlinge in der Stadt. Fast alle Unterkünfte sollten im armen Essener Norden errichtet werden, kaum eine im Süden mit seinen mondänen Stadtvillen.
Reil und Duda organisierten den Widerstand. Die Sozialdemokraten als Kritiker der Flüchtlingspolitik - ein Skandal, der die beiden Lokalpolitiker bis in die Wohnzimmer der deutschen Fernsehzuschauer brachte.
Höhepunkt war ein Demonstrationsaufruf. „Genug ist genug. Integration hat Grenzen. Der Norden ist voll“, hatte Stephan Duda auf seiner Facebook-Seite geschrieben. Kurz darauf trat die Vorsitzende der Essener SPD zurück, Ministerpräsidentin Hannelore Kraft dekretierte die Absage der Demonstration. Einige Wochen später wollte sich Reil in den Vorstand des Unterbezirks wählen lassen. Als Zeichen der Versöhnung, wie er heute behauptet. Doch die Stimmung war eisig auf dem Parteitag. Die Genossen ließen ihn krachend durchfallen.
„Im Herzen bin ich ja immer noch Manta-Fahrer.“
Vier Tage später fuhr Reil zur Ortsvereinssitzung, hier in die Gaststätte in Karnap. Unter Tränen erklärte er seinen Austritt. Er ertrage es nicht mehr, wie sich seine Partei der Realität verweigere. „Dass einer wie du geht, der so viel für Karnap getan hat, ist für uns ein Riesenverlust“, sagte sein Vorsitzender Stephan Duda. „Um den Stephan tut es mir wirklich leid“, sagt Reil heute. Wenige Wochen später tritt er in die AfD ein. Nun kämpft er als Landtags-Direktkandidat gegen seine alten Freunde.
Jetzt wartet Reil an einer roten Ampel und trommelt auf sein Lenkrad. In seinem neuen Leben hat er viele Termine. Heute hat die Jugendorganisation der AfD zu einer Diskussionsrunde geladen. Während an den Straßenrändern die Grundstücke herrschaftlicher und die Autos teurer werden, erzählt Reil seine Geschichte. Als er als 20-Jähriger zur SPD kam, habe er sich immer an die alten Haudegen gehalten, die Strategen und Machtmenschen. Von denen habe er Politik gelernt. Nur einmal in seinem Leben war er bei einem Treffen der Jusos. Aber das seien eben Akademiker, „Laberköpfe“.
„Ich hatte damals immer so Cowboystiefel an, blonde Strähnen und bin Manta gefahren. Schon klar, dass die mit mir nichts anfangen konnten.“ Wenn er an die alten Zeiten denkt, grinst Reil: „Im Herzen bin ich ja immer noch Manta-Fahrer.“ Doch in der SPD wurden die Manta-Fahrer weniger, die Cord-Sakkos dagegen mehr. Die Partei der Arbeiter wurde zur Partei des öffentlichen Dienstes. Und irgendwann fühlte sich Reil wie ein Dinosaurier, der vergessen hatte zu sterben.
Laut, derbe, wütend, aber irgendwie ehrlich. Der leibhaftige kleine Mann
„Politik für die kleinen Leute, das ist mein Ding“, sagt er stolz, „und das mache ich heute eben in der AfD.“
In der SPD war Reil einer von gestern, in der AfD ist er eine Marke. Wenn er hier im Saal des Restaurants steht, die Schultern rausgestreckt, größer als alle um ihn herum, laufen die Leute einen Umweg, um ihm Hallo zu sagen. „Endlich sehe ich Sie mal live“, begrüßt ihn einer.
Reil sonnt sich in seinem neuen Ruhm. Die Aufnahmen seiner Reden sind Hits im AfD-Kosmos. Zehntausendfach werden sie geklickt. Wenn er dort ohne Manuskript und mit Ruhrpott-Schnauze drauflospoltert, wirkt er so, wie die AfD gerne wäre: laut, derbe, wütend, aber irgendwie ehrlich. Der leibhaftige kleine Mann.
Doch an diesem Abend herrscht ein anderer Ton. Es geht um den Islam, und die Mitglieder der AfD testen ihre Grenzen hier längst nicht mehr aus. Sie sprengen sie. Worte wie Umvolkung, Kulturabbruch, Zivilisationsende, Schuldkomplex schießen durch den Raum.
Dass „der Islam“ eine „faschistische Ideologie“ sei, ist im Publikum Konsens, unklar nur, welcher mächtige jüdische Clan nun hinter dem Plan stehe, Deutschland zu islamisieren. Das Grundrauschen der rechten Radikalen.
Er hantiert dann mit falschen Zahlen, verdreht Fakten, pöbelt
Reil sitzt den Abend recht regungslos auf seinem Stuhl. Hin und wieder guckt er auf sein Handy. Er bestellt drei alkoholfreie Hefeweizen, sonst sagt er nichts. Was er sich wohl denkt in dieser Runde? „War schon interessant“, sagt er nachdenklich. Er zögert. „Aber eigentlich glaub ich ja, dass die meisten Muslime hier einfach friedlich leben wollen.“
Reil wettert jedoch selbst gern gegen den Islam. Er hantiert dann mit falschen Zahlen, verdreht Fakten, pauschalisiert, pöbelt. Jetzt aber sagt er, „dass die Christen ja auch mal Barbaren waren“. Und man spürt, dass ihm das alles nicht recht behagt. Das Weltuntergangspathos, der keifende Zorn seiner Parteifreunde. Doch kurz darauf redet er wieder davon, dass die AfD „auf dem besten Weg zur Volkspartei“ sei, die einzige Alternative. Guido Reil ist frisch verliebt, Irritationen kann er da nicht gebrauchen.
Auf dem politischen Aschermittwoch der Essener SPD erinnern sie sich alle noch an „unseren Guido“. Er habe sich verändert, sagen Leute, die ihn gut kennen, sei härter, enthemmter geworden. Rund 400 Genossen drängen sich im Saal der Stauder-Brauerei an Biertischen zusammen. Es riecht nach Aftershave, Pils und den Frikadellen aus der Küche.
Auch Stephan Duda ist da. Die Rebellion des vergangenen Jahres hat er gut überstanden. Er ist wahrlich kein Ausgestoßener. Unzählige Schultern klopft er an diesem Abend, prostet den Genossen zu und lacht sein donnerndes Lachen. „Die Wortwahl bei dem Demo-Aufruf war Mist. Das hab ich auch schnell eingesehen“, sagt er heute. „Aber uns ging es ja nicht darum, was gegen die Flüchtlinge zu machen, sondern für den Essener Norden“, und gehört werde man eben nur, wenn man „ordentlich Radau macht“.
„Gut, wir haben jetzt nicht nur die Ärzte bekommen“
Solange das Zeltdorf mit 700 Einwohnern in Karnap stand, engagierte sich Duda in der Flüchtlingshilfe. Gemeinsam mit Reil saß er am runden Tisch, ging mit den Jungs aus der Unterkunft Fußball spielen. Jetzt erzählt er von den Fortbildungsprogrammen, den Deals mit der örtlichen Industrie, die sie ausgehandelt haben, um die Flüchtlinge in Arbeit zu bringen. „Gut“, sagt er, „wir haben jetzt nicht nur die Ärzte bekommen. Aber die Frage ist doch: Was können wir jetzt tun?“
„Für die SPD ist der Stephan ein Geschenk“, sagt auch Guido Reil. Nicht ohne Stolz, dass er Duda damals mit in die Partei holte. Und es stimmt. Duda ist ein Nimmermüder, einer, der erst zufrieden ist, wenn er anpacken kann. Vorsitzender der Kleingärtner, Vorsitzender der Fußballer, Vorsitzender der Sozialdemokraten. Dazu Beruf und Familie - ein Funktionär wie aus dem sozialdemokratischen Bilderbuch. Dass er mal den Aufrührer gab, wirkt heute wie ein Versehen, ein Bruch in der Erzählung.
Doch steht ein Pragmatiker wie Duda nur für die halbe Wahrheit der SPD im Ruhrgebiet. Wenn man sich umhört im Saal der Stauder-Brauerei, erzählen viele, dass sie ihrer Parteiführung misstrauen, Merkels Flüchtlingspolitik für einen Fehler halten. Sie selbst, sagen sie dann, würden den Flüchtlingen ja helfen, ihnen Deutschunterricht geben oder als Handwerker einspringen. Aber dennoch hätten sie Angst, dass die vielen Neuen die alten Probleme noch verstärken. Sie fühlen sich ungehört, missverstanden und von den Parteioberen als Rechte abgestempelt. „Wir haben es doch auch nicht leicht“, ruft einer irgendwann empört.
Noch heute fährt er Rentnerinnen zum Einkaufen
Jemand wie Reil ist das Produkt dieser Stimmung. Fleisch vom Fleische der SPD - und darum eine Gefahr. Kümmern, sorgen, da sein. Das war das Versprechen der SPD im Ruhrgebiet. Das politische Prinzip, aus dem sich alles Weitere ergab. Aber immer mehr Mitglieder und Wähler haben ihr Urvertrauen verloren, dass die Genossen „dat schon regeln“.
Früher hat Guido Reil diese Zweifel zerstreut, heute sät er sie. Dabei ist auch er ein Kümmerer. Stolz zählt er seine Erfolge als Ratsherr für Karnap auf. Von den trockengelegten Kellern bis zur Schaukel auf dem Spielplatz. Noch heute fährt er mit dem Bus der Arbeiterwohlfahrt Rentnerinnen zum Einkaufen.
Reil ist Jahrgang 1970. Viele aus seiner Generation sind aufgestiegen. Aus Facharbeiterkindern sind Ärztinnen und Juristen geworden, die aus den Arbeitervierteln rasch wegzogen und sich bald schämten für das ungehobelte Deutsch, das ihre Eltern sprechen. Reil dagegen ist heute noch dort, wo schon sein Opa war, „auf Pütt“, wie er sagt. Bergmann, Arbeiter. Er ist stolz darauf, seine Herkunft nie verraten zu haben, für „seine Leute“ einzustehen.
Aber der Kümmerer Guido, der nicht lang redet, sondern macht, ist immer mehr zum Empörungsunternehmer geworden. Er schimpft jetzt mehr, als dass er anpackt. Wütend sein ist sein Geschäftsmodell.
Immer wieder ist er mit Fernsehteams durch Karnap gefahren, immer wieder zum Marktplatz, zu dem einen Haus im Ort, wo die Fenster im Erdgeschoss zugenagelt sind. „So sieht das hier aus“, hat er dann in die Kamera gesagt und geschimpft auf die Politik, die nichts tut und seine alte SPD, die das Revier verkommen lässt. Die Karnaper fanden das erst mal gut, irgendwann ging es ihnen auf die Nerven. „Wir sind doch keine Asozialen hier“, haben sie gesagt.
Ankläger und Verteidiger, Beschwichtiger und Scharfmacher
Und während Reil immer wütender wird, wird Stephan Duda immer nüchterner. Wenn Duda durch Karnap läuft, die Hände in den Taschen seiner Lederjacke, erzählt er von den vielen kleinen Erfolgen. Hier ein neuer Spielplatz, dort endlich neue Parkplätze, weiter hinten hoffentlich bald ein Trimm-dich-Pfad im Park. Mit gemächlichen Schritten spaziert er die Hauptstraße entlang, vorbei an einer meterhohen Seilscheibe der alten Zeche, die an 100 Jahre Bergbau in Karnap erinnert, Richtung Marktplatz.
„Tja“, stöhnt Duda, „ich kann ja verstehen, dass der Guido solche Geschichten braucht.“ Er dreht sich einmal im Kreis, zeigt auf die frisch gestrichenen Fassaden, das Café gegenüber. „Aber schauen Sie sich mal um. Sonst ist doch alles picobello hier.“
Aus den Mitstreitern von früher sind nicht bloß Widersacher geworden. Das vergangene Jahr hat sie in entgegengesetzte Rollen gewiesen. Ankläger und Verteidiger, Beschwichtiger und Scharfmacher. Lange Zeit schien es, als trügen Wut und Frustration Leute wie Reil von Erfolg zu Erfolg. Doch seit Martin Schulz Kanzler werden will, hat sich etwas verändert. Die Sozialdemokraten haben Mut geschöpft - und sie haben das Kümmern wiederentdeckt, zumindest als Pose, als Verheißung. Allein, und die Zweifel daran sind größer geworden in den vergangenen Tagen: Glaubt man es ihnen?
Im Kampf um das Ruhrgebiet wird diese Frage entscheidend sein. Guido Reil steht auf Platz 26 der Landesliste. In den Landtag schafft er es nur, wenn die AfD auf mehr als zehn Prozent kommt. Darum wird er bis zuletzt wieder an seinem Stand stehen, Würstchen verteilen und auf die Genossen schimpfen. Stephan Duda wird auch da sein, auch er mit Würstchen, und erzählen, dass vieles gerade besser wird. Hier, in Karnap, im Essener Norden, wo jeder der beiden nun für sich allein kämpft.
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Robert Pausch