Keine Angst vor Technik!: Wie wir, die Grünen, unser Verhältnis zur Wissenschaft neu bestimmen
Häufig habe die Partei eher die Risiken von neuen Technologien betont. Aber es wäre gefährlich, Innovationen vorschnell zu verwerfen. Ein Gastbeitrag.
Robert Habeck ist Bundesvorsitzender von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, Kai Gehring ist Mitglied des Bundestags und Sprecher für Forschung, Wissenschaft und Hochschule.
Seit einem Dreivierteljahr dominiert die Corona-Pandemie unser Zusammenleben und hat den Alltag von Menschen auf der ganzen Welt verändert. In Europa sind wir mitten in der zweiten Welle, und nach wie vor breitet sich das Virus fast ungebremst aus.
In diesen Wochen schaut die Welt auf Forschungslabore wie in Mainz, Cambridge und anderen Städten, wo dieser Tage Impfstoffe entwickelt werden, die möglicherweise das Ende der Pandemie einläuten könnten. Dass wir Grund zu vorsichtiger Hoffnung haben, liegt daran, dass Wissenschaft, Technik und Forschung leistungsfähig sind wie nie zuvor. Darauf können und sollten wir als Gesellschaft aufbauen.
Die Devise sollte sein: handeln und Chancen ergreifen. „Erweitern wir unsere Möglichkeiten“ ist das Motto für das nächste Jahrzehnt, denn es wird das entscheidende sein. Mit unserem neuen Grundsatzprogramm haben wir als Partei eine neue Phase eingeleitet. Deutlich wie nie sprechen wir uns darin für Wissenschaft und Forschung aus.
Das ist umso bemerkenswerter, als wir in den vergangenen Jahrzehnten häufig eher die Risiken von neuen Technologien in den Vordergrund gestellt haben - und das ja zurecht, wenn man die großen Atomunfälle und die immer noch ungeklärten Fragen der Endlagerung sieht.
Allerdings sind wir an einem Punkt angekommen, an dem sich die großen Krisen, insbesondere die ökologischen Krisen, so sehr verschärft haben, dass wir neue Lösungen nicht prinzipiell und von vornherein ausschließen können.
Entsprechend braucht es eine neue Leitlinie im Umgang mit Wissenschaft, Forschung und Technik: Nicht die Technologie, sondern ihre Chancen, Risiken und Folgen stehen im Zentrum. Denn eine Technologie an sich ist weder gut noch böse. Das bedeutet: Forschungsoffenheit, Abwägung und Vorsicht in der Anwendung. Diese neue Leitlinie haben wir in unserem Grundsatzprogramm festgeschrieben.
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In Zeiten, in denen Ungewissheit, Zukunftsangst und die Sorge vor politischen Verwerfungen grassieren, können wir uns als Menschen entscheiden, es anders zu machen. Anstatt die Erfahrungen der Vergangenheit 1:1 auf die Zukunft zu übertragen, können wir die neuen Chancen erkennen und nutzen.
Wir können eine Weltwirtschaft ohne neuen Ressourcenverbrauch schaffen, Sonne und Wind noch viel intensiver und globaler nutzen, wir können alle Produkte so designen, dass das Wort Abfall endgültig der Vergangenheit angehört, wir können mit einem gewissen Recht darauf vertrauen, dass medizinische Fortschritte nicht nur Corona besiegen.
Wir müssen massiv in Wissenschaft und Forschung investieren
Wir können politische Maßnahmen ergreifen, die die Ausbeutung der Natur, das Roden von Regenwäldern, das Auslöschen ganzer Arten beenden. Um das aber zu tun, müssen wir massiv in Wissenschaft und Forschung investieren.
Wissenschaft und Forschung haben uns Werkzeuge an die Hand gegeben, mit denen wir die großen gesellschaftlichen Herausforderungen bewältigen können. Das gilt bei weitem nicht nur für die Klimakrise. Künstliche Intelligenz erkennt Muster in Datenmengen, die vorher undenkbar waren - mit neuen Potentialen für die Wetterprognose, die effiziente Steuerung von Stromnetzen und eine klimagerechte Logistik.
Innovationen in der Landwirtschaft können bei der Bekämpfung des Welthungers helfen
Innovationen in der Landwirtschaft ermöglichen - trotz aller Rückschläge - eine Welt ohne Hunger. Medizinischer Fortschritt hat unser Leben länger und gesünder gemacht als je zuvor. Und während die Anwendung der herkömmlichen Gentechnik im Agrarbereich zu neuen Problemen geführt hat, konnten mit ihrer Hilfe bei Medizin und biotechnologischen Anwendungen Fortschritte erzielt werden.
Für neue gentechnische Verfahren gilt den genannten Prinzipien entsprechend: offen sein für die Forschung, aber vorsichtig bei der Anwendung; die Zulassungsverfahren müssen streng sein, das Vorsorgeprinzip gewahrt und Risikoprüfungen vorgenommen werden.
Nur in Freiheit und Unabhängigkeit können Forscherinnen und Forscher die Tür aufstoßen in ein besseres Morgen. Politik muss dafür aktiv den richtigen Rahmen setzen. Sie muss die Innovation fördern, und zugleich den Schutz unserer gesellschaftlichen Werte sicherstellen und Gefahren für Mensch und Umwelt ausschließen. Das bedeutet, allen Talenten die gleiche Chance auf beste Bildung zu ermöglichen. Die digitalen und physischen Infrastrukturen schaffen, damit in jedem Dorf innovative Start-ups und Experimentierräume erblühen können. Und einen ordnungspolitischen Rahmen setzen, der sozialen, ökologischen und digitalen Innovationen zum Durchbruch in der Praxis verhilft.
Aber nicht alles was möglich ist, darf Wirklichkeit werden. „Wir müssen uns fragen, ob die Menschheit wirklich davon profitiert, die Geheimnisse der Natur zu enthüllen, ob sie dafür bereit ist, oder ob ihr dieses Wissen schaden wird“, schrieb Pierre Curie angesichts der Verleihung des Nobelpreises an seine Frau, Marie Curie, und ihn. Letztlich bejahte er diese Frage.
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Aber Vorsicht ist geboten. Denn Technologien und Erfindungen haben oft auch Schattenseiten. Die industrialisierte Landwirtschaft ist mitverantwortlich für das massive Artensterben auf unserem Planeten. Künstliche Intelligenz kann missbraucht werden von autokratischen Regimen, um Dissidenten vollumfänglich zu überwachen. Für den Atommüll haben wir noch kein Endlager. Nicht zu reden von Plänen des Geoengineerings wie der Düngung der Meere, um durch Algenwachstum CO2 zu binden, oder Partikel in der Atmosphäre auszubringen, um Sonnenlicht zu reflektieren. Wollen wir das alles? Was verlieren wir? Was gewinnen wir?
Unsere Partei hat eine lange Tradition mit der Abwägung wissenschaftlicher Erkenntnisse. Als Atomkonzerne die Verheißungen neuer Technologien predigten und Risiken verschwiegen, haben wir protestiert. Nimmt bestellte Auftragsforschung das Ergebnis einer Forschungsfrage schon vorweg, fordern wir Unabhängigkeit. Wenn für Pharmakonzerne nicht Patientenwohl, sondern Gewinne im Mittelpunkt stehen, widersprechen wir.
Der Maßstab müssen immer Mensch und Umweltschutz sein
Umgekehrt stärken wir unabhängige Grundlagenforschung, erneuerbare Energien, fossilfreie Antriebe und haben die Möglichkeiten der Digitalisierung immer positiv begleitet. Maßstab der grünen Wissenschaftsethik ist dabei immer der Mensch in seiner Würde und Freiheit sowie der Schutz unserer Umwelt. Die Technologiefolgenabschätzung und die Verzahnung von Fortschrittsmöglichkeiten mit ethischen Fragestellungen sind zwei Seiten derselben Medaille.
Uns stehen gewaltige Möglichkeiten zur Verfügung. Angesichts der Herausforderungen, die vor uns stehen, sollten wir nichts vorschnell verwerfen. Es kommt vielmehr darauf an, Potentiale und Gefahren abzuwägen und demokratisch über den Einsatz zu entscheiden. Aber nicht geleitet von Angst, sondern von Fakten, Werten und Zuversicht.
Kai Gehring, Robert Habeck