Vor der Landtagswahl: Wie tickt Niedersachsen?
Ebbe und Flut, die Gebrüder Grimm und Dieter Bohlen: Niedersachsen lebt den Wechsel und liebt seine Gegensätze. Am Sonntag wird hier ein neuer Landtag gewählt.
Ministerpräsident David McAllister nennt es das schönste Bundesland der Welt, andere lieber das „Atomklo Deutschlands“. Eins ist Niedersachsen also ganz sicher: eine der abwechslungsreichsten Regionen in Deutschland.
Was isst und was ist Niedersachsen?
Ein Blick in die „Genussboxen“ genügt, um sich einen Eindruck von Niedersachsens Vielfalt zu verschaffen: Schinken aus dem Harz, Bockbier aus Einbeck, Honig aus der Heide, Matjes aus Cuxhaven, Edel-Bitterschokolade aus Peine und natürlich „Echter Tee aus Ostfriesland“ sowie die berühmten Leibniz-Butterkekse aus Hannover bietet die landwirtschaftliche Marketinggesellschaft als „ideales Businessgeschenk zu vielen Anlässen“ an – in diversen Kombinationen zu jeweils 41,95 Euro zuzüglich Versand.
Die „kulinarischen Botschafter“ vertreten das Land und die diversen Landstriche. Diese reichen von Deutschlands nördlichstem Mittelgebirge über die Lüneburger Heide bis zur Nordseeküste mit den ostfriesischen Inseln. Sieben bewohnte Eilande sind es, behaupten die einen. Nur sechs, darauf beharren andere. Sie zählen Wangerooge, die östlichste und nach etlichen Sandabbrüchen inzwischen kleinste Insel, nicht zu Ostfriesland. Eigensinn, regionale Verwurzelung, manchmal auch Sturheit sagt man den Bewohnern nach. Als „sturmfest und erdverwachsen“ bezeichnet die inoffizielle Hymne, das Niedersachsen-Lied, die Einwohner.
„Wo sonst in Deutschland können Sie an einem Tag morgens im Meer baden und nachmittags die Skipisten runtersausen?“, fragt Ministerpräsident David McAllister (CDU) in bester Werbemanier, aber ungeachtet jahreszeitlicher Witterungsbedingungen. Jedenfalls sei Niedersachsen für ihn „das schönste Bundesland der Welt“.
Woher kommt Niedersachsen?
Die regionalen Eigenheiten und Animositäten rühren von der seit dem Mittelalter wechselvollen Geschichte her. Im Zentrum stand dabei immer das Königreich Hannover.
Nach dem Zweiten Weltkrieg fassten die britischen Besatzer dann auf Vorschlag des späteren ersten Ministerpräsidenten Hinrich Wilhelm Kopf (SPD) das Territorium Hannover weitgehend mit den Gebieten der Herzog- und Fürstentümer Oldenburg, Braunschweig und Schaumburg-Lippe zum Bundesland Niedersachsen zusammen. Bis heute prägen sorgsam gepflegte „Feindschaften“ in Politik, Sport und Gesellschaft das zusammengewürfelte Gebilde. Die Osnabrücker zieht es zum Einkaufen eher ins westfälische Münster als in die Landeshauptstadt Hannover, die Oldenburger fühlen sich mehr mit Bremen verbunden, die Lüneburger blicken nach Hamburg.
Die niedersächsische CDU hält sich neben dem Landesverband Hannover auch noch die eigenständigen Landesverbände Braunschweig und Oldenburg, deren Vorsitzende sogar im Bundesvorstand vertreten sind. Die vier großen SPD-Bezirke Hannover, Braunschweig, Weser-Ems und Nordniedersachsen waren über Jahrzehnte zerstritten und haben sich selbst gelähmt.
Bereits heute blickt die Polizei bange auf den voraussichtlichen Aufstieg von Eintracht Braunschweig in die erste Fußball-Bundesliga; bei den Derbys mit Hannover 96 drohen heftige Großeinsätze.
Gibt es ein Niedersachsen-Gen?
Wovon lebt Niedersachsen?
„Wenn VW hustet, bekommt ganz Niedersachsen Grippe“, lautet ein bekannter Spruch, der die Abhängigkeit des Landes vom Wolfsburger Autokonzern beschreibt. Mit dem Werk am Stammsitz und vier weiteren Dependancen in Emden, Braunschweig, Hannover und Salzgitter ist VW größter Arbeitgeber des Landes, er bietet hier insgesamt rund 100 000 Menschen einen direkten Job. Niedersachsen hält 20 Prozent der Aktien und stellt mit dem Ministerpräsidenten und dem Wirtschaftsminister zwei Aufsichtsräte, kann mit seiner Sperrminorität wichtige Entscheidungen wie Werksschließungen blockieren. Als die EU-Kommission dies mit ihrer Klage gegen das VW-Gesetz ändern wollte, standen Landesregierung, Opposition und Gewerkschaften wie eine Eins hinter dem Konzern. Bei der – letztlich erfolgreichen – Abwehrschlacht gegen die vom Sportwagen-Hersteller Porsche geplante Übernahme war es genauso.
Weniger einig sind sich Politik und Gesellschaft, wenn es um den zweiten großen Wirtschaftszweig, die Landwirtschafts- und Ernährungsbranche geht. Als „Agrarland Nummer eins“ in Deutschland bezeichnet sich Niedersachsen gern selbst, liegt bei der Schweinemast ebenso vorn wie bei der Erdbeerernte.
Der ländliche Raum insbesondere im Westen ist übersät mit Megaställen und Großschlachtereien. Bilder von zusammengepferchten Hühnern sowie Berichte von dioxinbelasteten Eiern und verunreinigten Futtermitteln verunsichern die Verbraucher, sie rufen nach einer nachhaltigen Agrarwende und mehr Tierschutz. Die großen Landwirte und Ernährungsbetriebe halten Arbeitsplätze und Wettbewerbsfähigkeit als Argumente entgegen.
Gibt es ein Niedersachsen-Gen?
Der Satiriker Günther, der Treckerfahrer, alias Dietmar Wischmeyer, stellt den typischen Niedersachsen gerne überspitzt als einen bräsigen Bauern dar, der in seinen Holzpantinen durch tiefe Gülle stapft. Die Bewohner des Landes führen gegen dieses Image gern ihren Erfindungsreichtum, ihre Innovationsfreude und ihren Mut zu ungewöhnlichen Ideen ins Feld.
„Warum wir alles erforschen müssen?“, fragt die Initiative Innovatives Niedersachsen in ihrer vielfach gelobten Anzeigenkampagne und liefert die selbstironische Antwort gleich mit: „Das kriegen wir auch noch raus.“ Das Wörtchen „Vorreiter“ im Zusammenhang mit Niedersachsen ist inzwischen so abgegriffen, dass den Redenschreibern in der Staatskanzlei ein Quasi-Tabu verordnet wurde. Als Vorreiter jedenfalls darf sich Jägermeister-Chef Günter Mast fühlen, der 1973 als Sponsor dem Verein Eintracht Braunschweig Schriftzug und Hirschkopf des Kräuterlikörs als Trikotwerbung verpasste und damit eine Revolution auslöste. Die Audio-CD ging 1982 erstmals in Hannover-Langenhagen in Serie. Aygül Özkan wurde in Niedersachsen Deutschlands erste türkischstämmige muslimische Ministerin. Im Innenministerium von Hannover arbeitet Bibiana Steinhaus, Deutschlands erste Schiedsrichterin, die bei den männlichen Fußballprofis pfeift.
Eine gewisse politische Aufmüpfigkeit liegt den Landeskindern vielleicht im Blut, seitdem sich die Göttinger Sieben, eine Gruppe von Professoren um die Gebrüder und Märchensammler Wilhelm und Jacob Grimm, 1837 gegen die Obrigkeit aufgelehnt hatten. Legendär ist längst auch der seit nunmehr 35 Jahren währende Widerstand im Wendland gegen das geplante Endlager für radioaktive Abfälle im Salzstock Gorleben. Im Land liegen auch das marode Bergwerk Asse mit seinen rostenden Fässern voller Strahlenmüll sowie das genehmigte Endlager Schacht Konrad. „Niedersachsen ist das Atomklo Deutschlands“, kritisieren Umweltaktivisten.
Niedersachsens Landespolitik ist von langfristigen Wechseln zwischen SPD- und CDU-geführten Regierungen geprägt. Vielleicht ist dieser permanente Kampf um knappe Mehrheiten eine Erklärung dafür, warum das Land so viele Spitzenpolitiker hervorgebracht hat. Alt- Kanzler Gerhard Schröder (SPD), Bundesarbeitsministerin Ursula von der Leyen (CDU), SPD-Chef Sigmar Gabriel, sein FDP-Kollege Philipp Rösler, Grünen-Bundestagsfraktionschef Jürgen Trittin – sie und viele mehr haben hier in Niedersachsen ihre politische Karriere gestartet. Nicht zu vergessen Ex-Bundespräsident Christian Wulff, dessen Affären um Gratis-Urlaube und Hauskredite in seiner Zeit als niedersächsischer CDU-Ministerpräsident zum Rücktritt führten.
Ruhm und – manchmal auch zweifelhafte – Ehre haben sich auch andere Landeskinder erworben. Der Komiker Otto Waalkes wurde mit Sketchen und Filmchen über seine ostfriesische Heimat berühmt und reich.
Und auch für Pop-Künstler scheint der Norden ein erfolgreiches Pflaster zu sein. Lena, gefeierte Gewinnerin des Europäischen Song-Wettbewerbs, legte in Hannover ihr Abi ab. Der Sänger, Musikproduzent und Proll-Moderator Dieter Bohlen hat in Göttingen studiert und lebt in Tötensen südlich von Hamburg. Heinz-Rudolf Kunze („Dein in mein ganzes Herz“) gibt jetzt Ex-Präsident Wulff freundschaftliche Ratschläge.
Und die Kultband Scorpions überlegt mal wieder, ob sie sich endgültig auflösen oder besser doch wiedervereinigen soll. „Wind of Change“ eben.