Coronavirus legt die Hauptstadt lahm: Wie sich Berlin in Quarantäne begibt
Deutschlands größte Metropole verordnet sich Isolation: Schulen, Kneipen, Kinos werden geschlossen, alle Veranstaltungen ab 50 Personen verboten. Ein Überblick.
- Ronja Ringelstein
- Jörn Hasselmann
- Susanne Vieth-Entus
- Fatina Keilani
- Robert Kiesel
- Tilmann Warnecke
- Amory Burchard
Nach langem Zögern ringt sich der Senat zu drastischen Einschränkungen des öffentlichen Lebens durch. Der Regierende Bürgermeister Michael Müller (SPD) teilte am Samstagabend mit: „Diese weiteren Maßnahmen werden jeden von uns in unserem Alltag massiv beeinträchtigen. Aber sie sind dringend nötig, um die Verbreitung des Coronavirus zu verlangsamen“. Schulen und Kitas werden bis 19. April geschlossen. Kulturleben und Sport kommen komplett zum Erliegen.
Am Freitag verkündete Maßnahmen wurden am Sonnabend noch einmal drastisch verschärft. Berlin verbietet alle öffentlichen und nicht-öffentlichen Veranstaltungen ab 50 Personen. Die Verordnung gelte ab sofort, teilte ein Sprecher der Senatskanzlei mit. Kneipen, Bars, Kinos und Clubs sowie öffentliche und private Sportstätten müssen ab sofort schließen Das gilt auch für Fitness-Studios, Bordelle und Casinos.
Auch für Krankenhäuser gibt es strenge Regeln. Nur Patienten unter 16 Jahren und Schwerstkranke dürfen noch besucht werden. Das Gleiche gilt für Pflegeheime. Das sind immense Herausforderungen für die Stadt, ihre Bewohner und ihre Besucher.
Welche Schultypen schließen wann?
Den Anfang machen am Montag die beruflichen Schulen. Für die übrigen Schultypen gilt am Montag noch die Schulpflicht. Die Schulen wollen den Tag nutzen, um die Schüler besser mit Lernmaterial auszustatten und – soweit vorhanden – Absprachen für das Lernen über digitale Lernplattformen zu treffen.
Ab Dienstag werden alle Schulen bis Ende der Osterferien am 19. April schließen. Dies teilte Bildungssenatorin Sandra Scheeres (SPD) mit. Noch am Donnerstag hatte sie erklärt, dass erst einmal nur Schulveranstaltungen ausfallen sollten.
Was wird mit den Prüfungen?
Die Prüfungen sind „sicherzustellen“, lautet die Ansage der Bildungsverwaltung. Das betreffe neben den schriftlichen Prüfungen auch die mündlichen und die dezentralen Prüfungen für die Berufsbildungsreife, den Mittleren Schulabschluss und das Abitur.
Schulleitungen, Lehrkräfte und das übrige pädagogische Personal sollen in ihren Schulen präsent bleiben, die Schüler online mit Material versorgen und deren Hausaufgaben korrigieren. Nicht nur Lehrer mit kleinen eigenen Kindern hoffen, dass sie auch von zu Hause arbeiten können: „Den Schülern ist es ja egal, ob der PC des Lehrers in der Schule oder in der Wohnung steht“, meinte eine Schulleiterin.
Warum zögerte die Senatorin so lange?
Aus der Wissenschaft kamen unterschiedliche Signale in Bezug auf die Wirksamkeit von Schulschließungen. Ähnlich wie die Bundesbildungsministerin und mehrere Kultusminister kam Scheeres offenbar zu der Auffassung, dass die fehlende Betreuung für die Kita- und Schulkinder zu viele zusätzliche Problem aufwerfen würde.
Wie werden Schüler zu Hause unterrichtet?
Bundesweit gibt es unterschiedliche Lösungen für digitale Lernformen. So wurde der „Lernraum Berlin“ entwickelt, eine Onlineplattform, in der Lehrer im Auftrag der Bildungsverwaltung das sogenannte virtuelle Klassenzimmer ermöglichen wollen. Tausende Lehrer sind dort angemeldet, aber die Schulen sind noch weit davon entfernt, ihre Schüler flächendeckend zu Hause mit Material oder gar interaktiven Lernformen versorgen zu können. Die Möglichkeiten sollen aber jetzt ausgebaut werden.
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An vielen Schulen mangelt es noch an technischen Voraussetzungen. Gleichwohl sieht Birgit Eickelmann, Pädagogik- Professorin der Uni Paderborn mit dem Schwerpunkt digitale Bildung, einfache Möglichkeiten selbst für Schulen, die nicht über große digitale Konzepte verfügen: Für den Anfang reiche es womöglich aus, dass Lehrkräfte Aufgaben per Mail verschicken und Ergebnisse zurücksenden: „Die Kinder und Jugendlichen haben ja dann ihre Schulbücher und sind auch untereinander vernetzt.“ Die nun gewonnene Zeit könne das Kollegium nutzen, um ausgefeiltere Konzepte zu erarbeiten.
Wie geht es weiter mit der Quarantäne von Schulangehörigen?
Für einige der von Quarantäneauflagen betroffenen Schulen enden die Beschränkungen demnächst, für andere fangen sie erst an. Besonders betroffen ist aktuell die Sophie-Scholl-Schule in Schöneberg: Da ein Mitarbeiter positiv getestet wurde, müssen 1150 Schüler sowie 150 Pädagogen bis 20. März in häusliche Quarantäne.
Falls in dieser Zeit neue Infektionen nachgewiesen werden, verlängert sich die Frist. In diesem Fall stünden die Lehrer nicht zur Verfügung, wenn Ende März die Abiturprüfungen beginnen.
Gibt es eine Notbetreuung für Kinder von Ärzten, Pflegepersonal, Polizei und Feuerwehr?
Für bestimmte Berufsgruppen soll es die Möglichkeit geben, die Kinder betreuen zu lassen. Rund 15 Prozent der Erwerbstätigen gehören zu den relevanten Berufsgruppen, allein in den Kitas beträfe das etwa 25.000 Kinder – 15 Prozent der Kapazitäten sollen deshalb offen gehalten werden, bevorzugt in der Nähe von Krankenhäusern.
Bei der Not-Betreuung in Kitas und Schulen vollzog der Senat am Sonnabend eine Kehrtwende. Wenn ab Dienstag der reguläre Kitabetrieb wegen der Coronakrise endet, können alle Kitas weiterhin eine Notbetreuung anbieten. Der Zwang zu einer zentralen Betreuung in wenigen ausgewählten Einrichtungen entfällt.
Der Senat reagierte damit am Sonnabend auf die Mahnungen des Charité-Virologen Christian Drosten, der die zunächst kommunizierte Zentralisierung als „kontraproduktiv“ bezeichnet hatte. Die Infektion werde „befeuert“, wenn Kinder in neuen Gruppen zusammengefasst würden, erklärte Drosten.
Daraufhin hatte sich Jugendsenatorin Sandra Scheeres (SPD) erneut mit Vertretern von Kita-Trägern beraten und die Beschlüsse vom Freitag revidiert. Man habe dabei die neuen Einschätzungen von Professor Drosten berücksichtigt und nehme „Anregungen der Kita-Träger aus der täglichen Praxis auf“, betonte Scheeres.
Die Betreuung solle nun „grundsätzlich in der vertrauten Kita stattfinden“. Anspruch hätten aber nur die Eltern, die in systemrelevanten Berufen arbeiten und keine andere Möglichkeit einer Kinderbetreuung organisieren könnten. Es müssen beide Kriterien zutreffen. Welche Berufe als „systemrelevant“ gelten, will die Senatsverwaltung für Inneres noch am Wochenende festlegen.
Mediziner, Rettungskräfte und Pflegepersonal zählen wohl neben anderen zu „systemkritischen Berufen“, für die eine Kinderbetreuung weiter möglich sein muss. In Bayern bleibt ebenfalls eine Notbetreuung in Grundschulen und Kitas bestehen – allerdings nur, wenn beide Elternteile zu einer systemkritischen Berufsgruppe gehören – sonst muss der andere das Kind betreuen.
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Johanna Knüppel, Sprecherin des Bundesverbandes Pflegeberufe DBfK, verwies darauf, dass es „allgemeingültige Lösungen“ nicht geben werde – die Kinderbetreuung müsse jeder Arbeitnehmer individuell regeln und mit seinem Arbeitgeber besprechen, auch in den Pflegeberufen.
Für viele heißt die Notfallbetreuung: Oma und Opa. Die genau sollten nun aber nicht in Anspruch genommen werden, da gerade die älteren Menschen vor dem Coronavirus geschützt werden müssen: „Es ist darauf zu achten, dass die Kinder danach nicht von Personen im Alter von über 60 Jahren betreut werden, weil diese Personengruppe besonders stark gefährdet ist“, erklärte Paul Fresdorf, bildungspolitischer Sprecher der FDP-Fraktion.
Wie planen Hochschulen und Universitäten?
Die Berliner Hochschulen hatten bereits am Mittwoch bekanntgegeben, dass der Start des Sommersemesters vorerst auf den 20. April verschoben ist. Die Maßnahmen wurden aber am Freitag noch einmal verschärft, wie die Wissenschaftsverwaltung mitteilte. Jetzt heißt es, dass alle Präsenzveranstaltungen „bis auf weiteres“ eingestellt werden. Inwiefern Lehrveranstaltungen mit Hilfe von Videokonferenzen, Livestreams oder zuvor aufgezeichneten Online-Vorlesungen stattfinden können, wird noch geprüft.
Klargestellt hatten die Hochschulen zuvor schon, dass Konferenzen und sonstige wissenschaftliche Veranstaltungen für das gesamte Sommersemester, also bis zum 20. Juli, abgesagt werden. Dienstreisen sind seit Freitag insgesamt verboten – nicht mehr nur in Risikogebiete. Der Verwaltungsbetrieb soll aufrechterhalten bleiben, der Forschungsbetrieb nur „in begründeten Einzelfällen“.
Es soll aber mehr Personen als bisher ermöglicht werden, im Homeoffice zu arbeiten. Nachdem zunächst nur die Bibliothek der Technischen Universität geschlossen wurde, machen jetzt alle Lesesäle der Hochschulen für den Publikumsverkehr dicht. Die Mensen und die Museen der Wissenschaftseinrichtungen werden geschlossen, der Hochschulsport wird eingestellt.
Ob und in welcher Form Prüfungen stattfinden können, ist noch ebenso ungeklärt wie die Frage der Online-Angebote in der Lehre. Günter M. Ziegler, Präsident der Freien Universität, sagte dem Tagesspiegel zwar, die FU sei auf die vorübergehende Aussetzung der Präsenzlehre „vorbereitet“. Er gibt aber auch zu, „dass wir kurzfristig nicht unser volles Lehrprogramm im Netz werden darstellen können“.
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Die Präsidentin der Humboldt-Universität, Sabine Kunst, sagte: „Mobile Aufzeichnungssets für Lehrende sind bestellt.“ Sie sollen das Equipment ergänzen, mit dem schon seit Jahren Vorlesungen in den Hörsälen aufgezeichnet werden. „Damit haben wir einen Fundus aufbereiteter Lehrveranstaltungen, das heißt aber nicht, dass wir sofort flächendeckend auf Online-Lehre umstellen können.“
Kunst fordert von Bund und Ländern ein Paket von Sofortmaßnahmen. Die Streamingplattformen im Deutschen Forschungsnetz müssten umgehend so ausgebaut werden, dass sie nicht zusammenbrechen, wenn viele Hochschulen gleichzeitig darauf zugreifen. Die Hochschulen bräuchten aber auch finanzielle Unterstützung. Der seit langem geforderte Digitalpakt für die Hochschulen müsse umgehend aufgelegt werden. Die Corona-Krise sei auch „eine große Chance, die Lücke bei der Digitalisierung der Hochschullehre zu schließen“.
Wie lange sind Kultur- und Nachtleben stillgelegt?
Bis zum 20. April sollen alle Maßnahmen evaluiert werden. Führten sie nicht zu einer deutlichen Verlangsamung der Ausbreitung des Coronavirus, müsse über eine Verlängerung oder Verschärfung nachgedacht werden, sagte Müller.
Wie geht es mit Berlins öffentlichem Nahverkehr weiter?
Am Freitagabend erklärte Berlins Bürgermeister Müller: „Wir haben besprochen, dass wir den ÖPNV aufrechterhalten.“ Allerdings solle dieser „der öffentlichen Nachfrage“ angepasst werden. Bereits jetzt geht man in Senatskreisen von fünf bis zehn Prozent weniger Passagieren im ÖPNV aus.
Das Verbot von Veranstaltungen, Versammlungen und Messen sowie der stillgelegte Bildungsbetrieb würden „automatisch“ eine „Reduzierung der Nachfrage des ÖPNV“ bringen. Von einer Konzentration auf Bahnen zulasten der Busse, wie am Freitagmorgen vom Regierenden Bürgermeister vorgeschlagen, war keine Rede mehr.
Nach Informationen des Tagesspiegels hatte der Senat in den vergangenen Tagen bei der BVG abgefragt, wo die wichtigsten Verkehrsströme sind und an welchen Punkten wie viele Menschen einsteigen. „Wir warten jetzt auf Entscheidungen“, sagte eine Sprecherin. Sollte die BVG die Anweisung bekommen, den Busverkehr ganz einzustellen, sei dies die gleiche Situation wie an den Streiktagen.
Auch bei Straßenbahn und U-Bahn könne leicht zum Beispiel jede zweite Fahrt gestrichen werden. Allerdings würden zu volle Bahnen wiederum die Ansteckungsgefahr erhöhen. Noch am Donnerstag hatte Verkehrssenatorin Günther im Verkehrsausschuss erklärt, der ÖPNV solle „so lange wie möglich aufrechterhalten werden“, damit medizinisches Personal und Polizisten an ihren Arbeitsplatz gelangen können.
In einem ersten Schritt hatte die BVG am Mittwoch das Einsteigen beim Fahrer und den Ticketverkauf durch ihn gestoppt. Falls es zu Betriebseinschränkungen durch kranke Fahrer gebe, seien Notfallpläne vorhanden, so Günther. Nach BVG-Angaben sei noch keiner der 15 000 Mitarbeiter am Coronavirus erkrankt.
Wie steht es mit Desinfektionsmitteln im Nahverkehr?
Die BVG will das nicht. Über ihren Twitter-Kanal @BVG–Kampagne („Weil wir dich lieben“) teilte die BVG kurz und flapsig mit: „Ist aktuell nicht geplant. Wer aber will, kann sich natürlich Desinfektionsmittel mitnehmen selbst. Auch Handschuhe können für das Festhalten und Öffnen von Türen relevant sein.“
Die S-Bahn teilte am Freitag mit, dass ab sofort alle Türen fast aller Züge sich am Bahnsteig automatisch öffnen. So müssen Fahrgäste nicht mehr mit der Hand den Knopf zum Öffnen drücken und es kommt etwas Luft in die Wagen. Nur bei den Zügen der DDR-Baureihe 485 funktioniert das nicht, sie fahren auf den Linien S46, S47, S8 und S85. Die BVG wird ihre Türen nicht automatisch öffnen, da das in den meisten U-Bahnen nicht funktioniert.
Kann es auch zu einer völligen Einstellung des ÖPNV kommen?
Experten sehen das kritisch. Dann wären viele Ortsteile am Stadtrand völlig abgehängt – etwa Kladow, die beiden Spandauer Großsiedlungen Falkenhagener Feld und Heerstraße, Hakenfelde und die Reinickendorfer Ortsteile Konradshöhe und Tegelort. Diese Teile in der Stadt hatten 2019 besonders unter dem Verdi- Streik beim Busbetrieb der BVG gelitten.
In den Ostbezirken sei die Situation etwas besser, erläuterte ein Verkehrsplaner, da dort noch die Straßenbahn eine wichtige Funktion hat. Ortsteile wie Müggelheim, Rahnsdorf, Biesdorf-Süd und Kaulsdorf-Süd seien jedoch nur per Bus zu erreichen – und auch das Klinikum Buch.
Wie werden Risikopatienten zu Hause jetzt geschützt?
Die ambulanten Pflegedienste versuchen, ihr Angebot an die neue Situation anzupassen – und das heißt: es zu beschränken, wo es geht. Für die einzelnen Hausbesuche wurden die Sicherheitsmaßnahmen bei einigen Anbietern erhöht, bei den meisten nicht.
Viele sparen an Mundschutz und Handschuhen, wenn kein Infektionsrisiko besteht – auch um die Vorräte nicht zu schnell schrumpfen zu lassen.
Wie ist die Lage in Brandenburg?
Brandenburg bereitet die geordnete Schließung der Schulen und Kitas ab Mittwoch bis zum Ende der Osterferien vor. „Ich weiß, dass wir damit auch in den Alltag vieler Menschen eingreifen“, sagte Ministerpräsident Dietmar Woidke (SPD). Für Kinder von Ärzten, Schwestern oder Pflegern, von Mitarbeitern in Behörden, bei Polizei und Feuerwehr wird eine Notbetreuung eingerichtet. Das ist das Ergebnis einer Corona-Krisen-Telefonkonferenz der Landesregierung mit den Landräten und Oberbürgermeistern der kreisfreien Städte.
Der Semesterstart der staatlichen Hochschulen wird auf 20. April verschoben. In Brandenburg sind bislang keine Einschränkungen im Nahverkehr geplant.