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In Berlin eher folkloristisch als fromm: Miniatur-Weihnachtsmänner stehen neben einer Miniatur-Quadriga auf dem Miniatur-Brandenburger-Tor.
© Britta Pedersen/dpa

Christentum, Spiritualität, Islam: Wie religiös sind die Deutschen?

Die Entchristlichung der deutschen Gesellschaft geht voran. Immer weniger Menschen wissen um Lehre, Gebet, Liedgut, Ritual. Das hat Folgen - auch im Verhältnis zum Islam.

Die „Vereinigte Evangelisch-Lutherische Kirche Deutschlands“ (VELKD) gab vor kurzem das Erscheinen eines neuen Sammelbandes bekannt. Der Titel lautet „Nach der Volkskirche: Gottesdienst feiern im konfessionslosen Raum“. Am Beispiel von zwei Kirchenneubauten in Leipzig - der katholischen Propsteikirche St. Trinitatis und der Universitätskirche - gehen die Autoren der Frage nach, wie Gottesdienste in einer Stadt gefeiert werden können, in der die große Mehrheit der Bevölkerung keiner Kirche mehr angehört. Dabei sei, wie es heißt, „der ostdeutsche Kontext mit seinen tiefen Säkularisierungsbrüchen ein Sensor für die grundlegenden liturgischen Entwicklungen“. Wie soll religiöse Tradition weitergegeben werden, wenn kaum noch etwas da ist, an das angeknüpft werden kann - kein Wissen um Lehre, Gebet, Liedgut, Ritual?

Die Traditionschristen, die regelmäßig in den Gottesdienst gehen, sterben aus. Im Jahr 1950 gehörten noch mehr als 95 Prozent der Deutschen in Ost und West der katholischen oder evangelischen Kirche an. Nach der Wiedervereinigung waren es 72 Prozent, heute sind es 55 Prozent. Früher fielen die auf, die sonntags nicht in der Kirche waren, heute fallen die auf, die in die Kirche gehen. Regelmäßige Gottesdienstbesucher sind zu Exoten geworden.

Sowohl die Umfragen des Instituts für Demoskopie Allensbach als auch der umfangreiche „Religionsmonitor“ der Bertelsmann-Stiftung („Religiosität und Zusammenhalt in Deutschland“, 2013) belegen den Trend: Die Entchristlichung der deutschen Gesellschaft geht langsam, aber stetig voran. Von einer Renaissance der Religionen kann keine Rede sein. Damit einher geht ein starker Bedeutungsrückgang des Religiösen. Fragen des Glaubens haben für die meisten Menschen, auch wenn sie einer Kirche angehören, eine nachgeordnete Bedeutung. Die Vermittlung von Werten findet überwiegend in Familie, Schule und Freundeskreis statt. Immer mehr Jugendliche wachsen ohne jeden Bezug zur Religion auf. Die Jungen sind deutlich weniger religiös als die Älteren, Frauen religiöser als Männer.

Wie groß sind die Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschland?

Die Kluft zwischen Ost und West ist tief. Während rund 70 Prozent der Westdeutschen einer christlichen Konfessionsgemeinschaft angehören, sind es rund 20 Prozent der Ostdeutschen. Der große internationale Erhebungsverbund „International Social Survey Program“ befragt weltweit Menschen über den Grad ihrer Religiosität. Demnach ist das Gebiet der ehemaligen DDR die gottesfernste Region überhaupt. „Ich glaube nicht an Gott“, sagen dort 52 Prozent der Menschen, in Westdeutschland 10 Prozent, in Russland 7 Prozent, in den USA 3 Prozent. Als Atheisten bezeichnen sich 46 Prozent der Ostdeutschen, bei steigender Tendenz. Religionswissenschaftler sprechen von einem „stabilen areligiösen Milieu“.

In den alten Bundesländern gehen doppelt so viele Menschen wie im Osten Deutschlands mindestens einmal im Monat in den Gottesdienst und beten regelmäßig. Der Anteil der im christlichen Glauben Erzogenen hat sich im Osten auf einem niedrigen Niveau von 10 Prozent eingependelt. Im „Religionsmonitor“ heißt es bilanzierend: „Fehlende religiöse Erfahrung und nicht mehr vorhandenes religiöses Wissen führen ganz offensichtlich dazu, dass vielen Menschen ein Leben ohne Religion als ganz selbstverständlich erscheint.“

Als Atheisten bezeichnen sich knapp die Hälfte der Ostdeutschen. Der Atheismus wird überwiegend als Bereicherung empfunden, nur ein Sechstel sieht in ihm eine Bedrohung, im mehrheitlich konfessionell geprägten Westen sind es mehr als ein Drittel. Interessant sind die unterschiedlichen Vertrauenswerte der jeweiligen Gruppen. Etwa zwei Drittel der hochreligiösen Deutschen und drei Fünftel der Christen sagen, sie würden Konfessionslosen vertrauen. Die aber vertrauen einander nur zu rund der Hälfte. Die Religiösen haben also zu den Konfessionslosen ein höheres Maß an Vertrauen als diese gegenüber den Mitgliedern ihrer eigenen Gruppe.

 Welche Folgen hat die Säkularisierung für die Wertevermittlung?

Die Bereitschaft zum sozialen Engagement ist unter religiös gebundenen Menschen höher als im Bevölkerungsdurchschnitt. Rund ein Drittel der Deutschen übernimmt außerhalb von Familie und Beruf ehrenamtliche Tätigkeiten. Unter denen, die sich selbst als ziemlich oder sehr religiös bezeichnen, tun dies 49 Prozent, unter denen, die sich als gar nicht oder wenig religiös bezeichnen, 29 Prozent. Christen engagieren sich zu 39 Prozent, Konfessionslose zu 28 Prozent.

Grundsätzlich aber orientieren sich die Deutschen immer weniger an religiösen Autoritäten. Werte wie Nächstenliebe oder die Achtung vor dem Leben haben sich längst von ihrem christlichen Ursprung gelöst und gelten als allgemein humanistische Werte. In den großen ethischen Fragen – Recht auf Sterbehilfe, Ehe für alle, Abtreibung – ebnen sich die Unterschiede zwischen konfessionell gebundenen und konfessionslosen Menschen immer mehr ein (eine Ausnahme bilden Katholiken beim Schwangerschaftsabbruch).

Religiosität ist allerdings nicht identisch mit Spiritualität. Immer mehr Deutsche glauben an Wunder, Engel und daran, dass es eine überirdische Macht gibt. Von einer spirituellen Revolution zu reden, die sich außerhalb der Kirchen entfaltet, wäre dennoch übertrieben. Der Aussage „Ich greife für mich selbst auf Lehren verschiedener religiöser Traditionen zurück“ stimmen im Westen ein Drittel, im Osten ein Sechstel der Menschen zu.

Konfessionslos wiederum ist nicht identisch mit atheistisch. Jedes fünfte Nichtkirchenmitglied glaubt an eine höhere Macht, hat das Institut Emnid ermittelt. Umgekehrt verneinen 24 Prozent der Protestanten und elf Prozent der Katholiken die Existenz eines Gottes.

 Was kennzeichnet die Muslime?

Der Anteil der Muslime in Deutschland liegt bei rund fünf Prozent. Es ist die mit Abstand größte nichtchristliche Religion. Zu ethisch kontrovers debattierten Fragen – Homosexualität, Abtreibung, Sterbehilfe – verhalten sich Muslime in Deutschland deutlich weniger liberal als sowohl säkulare als auch religiös gebundene Deutsche. Dafür besitzen sie die stärkste religiöse Identität. Knapp 40 Prozent stufen sich als sehr religiös ein, und fast 90 Prozent halten die Religion für eher oder sehr wichtig (bei den Katholiken sind es 65 Prozent, bei den Evangelischen 58 Prozent).

Wenden sich durch die Erfahrung mit stark religiösen Muslimen nun deutsche Nichtmuslime verstärkt wieder dem Christentum zu? Nein, die religiöse Selbstbehauptung drückt sich eher in einer Art Kulturstolz aus. Die Frage „Wie sehr ist Deutschland durch das Christentum und christliche Werte geprägt?“ bejahen heute 63 Prozent (stark oder sehr stark), vor fünf Jahren waren es nur 48 Prozent.

Der Religionsmonitor der Bertelsmann-Stiftung veröffentlichte im Jahr 2015 eine Sonderauswertung zum Islam. Demnach sind Muslime in Deutschland eng mit Staat und Gesellschaft verbunden – unabhängig von der Intensität ihres Glaubens. Der Aussage, dass die Demokratie eine gute Regierungsform ist, stimmen 90 Prozent der hochreligiösen sunnitischen Muslime zu. Ebensoviele bejahen den Satz, man sollte allen Religionen gegenüber offen sein. Deutsche Muslime mit türkischen Wurzeln denken häufiger über Glaubensfragen nach und sind insgesamt liberaler als Muslime in der Türkei.

Der offenen Haltung vieler Muslime in Deutschland steht allerdings, laut Religionsmonitor, eine zunehmend ablehnende Haltung der Mehrheit der Bevölkerung gegenüber. Muslime litten unter einem negativen Image, das durch die kleine Minderheit radikaler Islamisten (weniger als 1 Prozent aller Muslime) geprägt werde. Islamfeindlichkeit „als salonfähiger Trend“ sei keine gesellschaftliche Randerscheinung mehr. Überfremdungsgefühle seien auch dort verbreitet, wo kaum Muslime leben.

Je besser es ihnen geht und je höher sie gebildet sind, desto aufgeschlossener sind die Deutschen gegenüber allen Religionen. Offener ist auch, wer konfessionell gebunden ist, häufiger betet und sich selbst als religiös einschätzt. Wer dagegen religiösen Menschen misstraut, ist auch dem Islam gegenüber negativer eingestellt. Bei solchen, die religiösen Menschen voll und ganz vertrauen, überwiegt sogar der Anteil, der den Islam als bereichernd empfindet.

Nicht etwa fromme, praktizierende Christen opponieren gegen den Islam, sondern es sind vorwiegend Vertreter stark säkularisierter Gruppen, die die Debatte vorantreiben. Eigene religiöse Alltagserfahrungen sind ein wichtiger sozialer Faktor für eine positive Entwicklung des Islambildes. In Fragen des Glaubens und der Toleranz – von Beschneidungs-, Verschleierungs- und Minarettbau-Verbotsinitiativen bis zum Rechtsradikalismus - hat sich in Deutschland eine große Ökumene aus Christen, Muslimen und Juden gebildet.

 Wie sind die Trends im globalen Maßstab?

Mit 2,3 Milliarden Mitgliedern ist das Christentum die größte Religionsgemeinschaft der Welt. In Europa nimmt die Zahl der Gläubigen ab, aber in Asien, Afrika und Lateinamerika steigt sie rasant. Laut Statistik der „World Christian Encyclopedia“ wird das Christentum im globalen Süden im Jahr 2025 auf 1,7 Milliarden Menschen anwachsen, während es in Nordamerika bei rund 270 Millionen stagniert und in Europa auf 514 Millionen schrumpft. Der Christianisierungsschub umfasst sowohl die evangelische als auch die katholische Glaubensrichtung. Die abendländische europäische Kernregion verliert stetig an Einfluss und Bedeutung.

Global gesehen bleibt also auch künftig der Glaube die Norm und der Nichtglaube die Ausnahme. Das freilich ist für jene, die in Deutschland Gottesdienst im konfessionslosen Raum feiern, wenn überhaupt, dann nur ein schwacher Trost.

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