Zukunft der Religion: Das Christentum steht vor einer Revolution
500 Jahre nach Luthers Thesenanschlag wandelt sich das Christentum aufs Neue. Es wächst – in Afrika, Asien und Lateinamerika. Und es wird konservativer, auch charismatischer.
Es wird bunt und fröhlich, fromm und politisch, kritisch und engagiert. Ende Mai feiern die Teilnehmer des Evangelischen Kirchentages in Berlin und Wittenberg das 500. Jubiläum der Reformation. Nun ist zu Martin Luther fast alles gesagt, auch seine Schattenseiten wurden gründlich ausgeleuchtet. Mit den Katholiken wiederum wurden sämtliche Erregungspotenziale schon im Voraus abgeklärt. Der Feier steht also nichts mehr im Weg. Außerdem ist das Interesse an dem Mammut-Ereignis sicher groß genug, um vergessen zu lassen, dass der Osten Deutschlands die mit Abstand gottesfernste Region der Welt ist.
„Ich glaube nicht an Gott“, sagen dort mehr als fünfzig Prozent der Bewohner. Das ist, laut dem „International Social Survey Program“ (ISSP), das weltweit Menschen über Ausmaß und Intensität ihrer Religion befragt, ein Rekordwert. Doch nicht nur der Osten wird religiös zunehmend unmusikalisch. In ganz Deutschland geht die Zahl der Kirchenmitgliedschaften seit Jahren zurück. Die Kenntnis von Riten nimmt ab, und die wenigen sonntäglichen Gottesdienstbesucher wirken zunehmend exotisch.
Seit Luther lieben die Deutschen Musik
Was bleibt? Das Vermächtnis Luthers lässt sich vor allem mentalitätsspezifisch verorten – in der Liebe der Deutschen zum Singen und zur Musik, rund 130 Orchester werden bundesweit aus Steuermitteln finanziert; im florierenden Buchmarkt, der nach den USA der größte ist; in einem manchmal etwas rigiden Moralismus, unter dessen finanzpolitischer Ausprägung Europas katholische Südländer leiden; in demonstrativer Schlicht- und Bescheidenheit, wie sie perfekt von Angela Merkel repräsentiert wird.
Ist die christliche Religion dabei, sich in solch kulturelle Restbestände aufzulösen? Auf Europa, Deutschland und Berlin mag die Diagnose zutreffen. Doch entwickelt sich diese Region atypisch. Schleichend, aber schnell hat im 20. Jahrhundert in der christlichen Welt ein dramatischer Wandel stattgefunden, der sich mit einem epochalen Ereignis wie der Reformation durchaus vergleichen lässt. Zum ersten Mal in seiner Geschichte ist das Christentum eine universale, sehr rasch wachsende Religion geworden. Dieser Christianisierungsschub umfasst sowohl die evangelische als auch die katholische Glaubensrichtung. Es dominiert der globale Süden, die abendländische europäische Kernregion verliert stetig an Einfluss und Bedeutung.
Die nackten Zahlen verdeutlichen den Trend: Vor hundert Jahren lebten mehr als 80 Prozent aller Christen in Europa und Nordamerika, heute wohnen von 2,2 Milliarden Christen zwei Drittel in Asien, Afrika und Lateinamerika. Laut Statistik der „World Christian Encyclopedia“ wird das Christentum im globalen Süden im Jahr 2025 auf 1,7 Milliarden Menschen anwachsen, während es in Nordamerika bei rund 270 Millionen stagniert und in Europa auf 514 Millionen schrumpft. Die stärkste Wachstumsdynamik gibt es wegen der hohen Geburtsraten in Afrika. Hält der religionsdemografische Trend an, könnte das afrikanische Christentum bald den größten Block innerhalb des weltweiten Christentums bilden.
Schon werden Religionskriege prognostiziert
Das Standardwerk zu dieser Entwicklung hat der britische Historiker und Religionswissenschaftler Philip Jenkins, der bis 2011 an der Universität Pennsylvania lehrte, 2002 veröffentlicht. Es heißt „The Next Christendom – The Coming of Global Christianity“. Jenkins prognostiziert eine „neue christliche Revolution“ sowie Religionskriege wie im europäischen Mittelalter, da sich mit der tektonischen Verschiebung der Zentren des Christentums auch dessen Charakter radikal verändert. Es wird konservativer, charismatischer und fundamentalistischer.
„Die Konfessionen, die sich im Süden der Welt durchsetzen – radikale protestantische Sekten, evangelikale oder Pfingstkirchen oder orthodoxe Formen des römischen Katholizismus – sind stramm traditionell oder sogar reaktionär“, schreibt Jenkins. Der katholische Glaube, der sich in Afrika und Asien rasch verbreite, wirke wie eine religiöse Tradition aus der Zeit vor dem Zweiten Vatikanischen Konzil: voller Respekt vor der Macht der Bischöfe und Priester, verhaftet den alten Gottesdienstformen.
Die Speerspitze der Gegenreformation sind indes die Pfingstkirchler. Obwohl diese Bewegung erst Anfang des 20. Jahrhunderts entstand, gehören ihr heute mindestens 400 Millionen Gläubige an. Um das Jahr 2040 könnten es bis zu einer Milliarde sein. Mitglieder von Pfingstgemeinden vertrauen auf die Wirkung des Heiligen Geistes, auf Wunderheilungen und Erweckungserlebnisse. Die Bibel wird wörtlich ausgelegt. In Afrika kommt die Furcht vor Hexen und Dämonen hinzu. Im Kongo etwa wurden 2001 mehr als tausend angebliche Hexen getötet.
„Krankheit, Ausbeutung, Umweltgifte, Alkohol- und Drogenkonsum, Gewalt: Jede dieser Erfahrungen scheint ein Hinweis darauf zu sein, dass man sich im Griff dämonischer Kräfte befindet und nur eine göttliche Intervention die Rettung bringen kann“, schreibt Jenkins. „Die Christen im Süden lesen das Neue Testament und nehmen es sehr ernst; sie sehen darin die Macht Jesu, die sich ihnen in seinen Auseinandersetzungen mit bösen Geistern darstellt, besonders mit solchen, die Krankheiten und Wahnvorstellungen verursachen.“
Tatsächlich verband Jesus das Predigen des Evangeliums oft mit Krankheitsheilungen. „Blinde sehen und Lahme gehen, Aussätzige werden rein und Taube hören, Tote stehen auf und Armen wird das Evangelium gepredigt“ (Matthäus 11,5).
Die Vormacht der Europäer endet
Auch in moralischen Fragen wie Homosexualität und Abtreibung sind asiatische, afrikanische und lateinamerikanische Kirchen meist sehr viel konservativer als deren nördliches Pendant. Wer als Katholik etwa von einem Dritten Vatikanischen Konzil träumt, das die liberalen Reformen vorantreibt, sollte sich – gewissermaßen als Kaltwasserrealitätskur – die Veränderungen im Kardinalskollegium vor Augen halten. Johannes Paul II. wurde bei seiner Wahl 1978 der erste nichtitalienische Papst seit mehr als 450 Jahren. Heute stammen nur nur noch knapp 18 Prozent der stimmberechtigten Kardinäle aus Italien, weniger als fünfzig Prozent aus Europa. Mit Franziskus gibt es seit 2013 einen ersten Papst aus Lateinamerika. Gut möglich, dass sein Nachfolger aus Afrika oder Asien kommt. Von den Bischöfen und Kardinälen aus dem Süden sind liberale Reformen aber kaum zu erwarten. Eher könnten sie versuchen, ihre zahlenmäßig wachsende Macht auch dogmatisch zur Geltung zu bringen. Das heißt: Das Rad würde zurückgedreht.
Werden Christen in Europa und Nordamerika womöglich bald von evangelikalen und pfingstkirchlichen Strömungen aus dem Süden missioniert? Ein solcher Prozess lässt sich in der Tat beobachten. Viele evangelikale Gemeinden in Afrika haben es sich zum Ziel gesetzt, Zweigstellen in Europa und den USA zu errichten. Man spricht von einer „afrikanischen Revanche“. Unterstützt werden sie dabei von Migrationsbewegungen. Rund die Hälfte aller Migranten, etwa 105 Millionen von 214 Millionen weltweit, sind Christen. Die Intensität des Glaubens nimmt in der Fremde meistens zu.
Wie sollen liberale Christen, geübt in der historisch-kritischen Exegese, auf diese Entwicklung reagieren? Abschottung? Dialog? Das Weltchristentum gerate „unter den Einfluss eines anti-intellektuellen Fundamentalismus“, warnt ein Kommentator des „Boston Globe“. In der „New York Times“ wiederum setzte sich 2011 der Kolumnist David Brooks („Creed or Chaos“) mit dem Phänomen auseinander. Viele Amerikaner befürworteten einen Glauben, „der spirituell, aber nicht dogmatisch, pluralistisch und nicht exklusiv“ sei. Das Problem sei nur, dass die Religionen, die wachsen, „theologisch rigoros, beschwerlich in der Praxis und eindeutig in der Trennung zwischen wahr und falsch“ seien.
Ja, das afrikanische Christentum sei äußerst doktrinär und extrem konservativ, so Brooks. „Aber ich war einmal in einer von Aids geplagten Stadt in Südafrika. Ein vager Humanismus hätte die Menschen dort nicht dazu gebracht, ihr Verhalten zu ändern. Die harten theologischen Ansagen der Kirchenfrauen dagegen – richtig und falsch, Erlösung und Verdammnis – schienen einen größeren Effekt zu haben.“
In Afrika ist der Glauben vital
Fünf Jahre lang haben kanadische Wissenschaftler untersucht, warum konservative christliche Kongregationen in ihrem Land eher wachsen als schrumpfen. Das Ergebnis wurde vergangenes Jahr in der „Review of Religious Research“ publiziert. Das Forscherteam kam zu einem ähnlichen Ergebnis wie 1972 der Methodisten-Priester Dean M. Kelley in seinem Buch „Why Conservative Churches are Growing: A Study in Sociology of Religion“. Starke religiöse Bewegungen, so Kelley, forderten etwas von ihren Mitgliedern in Bezug auf Glauben und Verhalten. Außerdem verstünden sie sich als getrennt von der säkularen Kultur. Daraus resultiert ein ausgeprägtes Gemeinschaftsgefühl, das von spirituell Suchenden offenbar nachgefragt würde.
Im globalen Süden – besonders in Afrika – geht christliche Vitalität einher mit der nachlassenden Bedeutung von Ideologien und Nationalstaatlichkeit. Religion, meint Jenkins, werde zur prägenden Kraft für jede Art von Massenmobilisierung, Bischöfe und Kardinäle würden zu politisch-moralischen Instanzen. Die Folge seien Religionskämpfe zwischen Christen und Muslimen wie in Nigeria, Indonesien, den Philippinen, im Sudan.
Kreuzzug gegen Dschihad: Das erinnert fatal an Samuel Huntingtons Theorie vom „Zusammenprall der Kulturen“. Zumindest eine andere These widerlegt der Christianisierungsschub – dass nämlich mit der Moderne, mit Technologie und Urbanität, die Intensität der religiösen Sinnsuche nachlasse und sich die Tendenz zum Säkularismus verfestige.
Deutschland feiert 500 Jahre Reformation, während sich die christliche Welt in einem revolutionären Umbruch befindet. Gestern ist heute – und doch ganz anders.
Malte Lehming