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Eine Stadt unter Schock. Rettungskräfte am Breitscheidplatz, dahinter ein umgeknickter Christbaum mit Weihnachtsstern.
© Pawel Kopczynski/Reuters

Breitscheidplatz in Berlin: Wie rede ich jetzt mit den Kindern?

Der erfahrene Traumatologe Christian Lüdke sagt, wie wir mit unseren Kindern reden sollten und was wir nicht tun dürfen: Angst zeigen.

Herr Lüdke, wir reden hier nicht über die unmittelbaren Opfer und ihre Angehörigen, sondern über die Frage: Wie spreche ich jetzt mit Kindern nach den Ereignissen am Berliner Breitscheidplatz?

Auch wenn es schwerfällt: Reden Sie möglichst ohne Emotionalität. Kinder sollten in dieser Situation nicht merken, ob Eltern sehr wütend oder ängstlich sind. Man sollte sachlich mit ihnen reden, knappe, klare Informationen. Die Eltern sind stabile Personen für Kinder, dieses Gefühl sollte nicht erschüttert werden.

Als Paris von Anschlägen erschüttert wurde, rieten Sie, man solle sagen, das sei dort passiert, also weit weg, aber nicht bei uns. Jetzt ist es in Berlin passiert, also bei uns, was sage ich jetzt?

Im Grunde können Sie dabei bleiben. Sie können sagen, das ist jetzt an diesem Ort dort passiert, aber hier bei uns, in deiner Kita, in deiner Schule, in deinem Fußball-Verein wird das nicht passieren.

Diese Notlüge ist erlaubt?

Es ist eine Zwischenform der Wahrheit, denn alles andere würde Panik schüren. Kinder gehen immer davon aus, wie sie etwas erleben, weniger was sie erleben. Wenn sie in Berlin leben und nicht am Breitscheidplatz waren, dann ist das für sie genauso weit weg wie Paris oder Nizza.

Ich will keinesfalls befürworten, Kinder jeden Horror- und Gewaltfilm sehen zu lassen. Aber die Realität sollte man Kindern zumuten. Sie müssen ja lernen, mit ihr zu leben.

schreibt NutzerIn charlybrensberger

Aber ältere Kinder ab zehn oder zwölf Jahren machen sich doch schon sehr viele Gedanken und bekommen viel mit. Ist das nicht naiv, wenn ich so tue, als könne das hier nicht passieren?

Nein. Sie sollen ja darüber reden, aber eben aufpassen, wie sie es sagen. Man kann beispielsweise vergleichen, sagen, dass die Wahrscheinlichkeit sehr gering ist, dass einem so etwas passiert. Man kann fragen, was glaubst du, wie wahrscheinlich ist es, dass wir im Lotto gewinnen. Das kann man machen, es ordnet die Dimension ein.

Christian Lüdke, 56, hat viele Opfer von Terroranschlägen betreut, zuletzt auch Mitarbeiter einer Fast-Food-Kette nach dem Amoklauf in München.
Christian Lüdke, 56, hat viele Opfer von Terroranschlägen betreut, zuletzt auch Mitarbeiter einer Fast-Food-Kette nach dem Amoklauf in München.
© Therapon/privat

Wie ist es bei kleineren Kindern?

Grundsätzlich würde ich nicht mit ihnen darüber reden, es sei denn, sie bekommen das mit oder fragen selbst. Dann gilt das, was ich gesagt habe: Keine emotionalen Details.

Wir haben mit einem Zwölfjährigen gesprochen, der sagte, irgendwie sei das ja jetzt normal. Was heißt das?

Das ist eine ziemlich realistische Einschätzung, sozusagen die traurige Wahrheit, wenn das Kind sagt, das sei irgendwie normal, nimmt er dem Ereignis das Bedrohliche.

Sind Kinder da pragmatischer als wir Erwachsenen?

Kinder verarbeiten anders. Sie sind oft sehr kreativ, das habe ich nach den Attentaten in New York 2001 erlebt. Sie malen, denken sich Geschichten aus, versuchen durch Spielen Lösungen zu finden. Wenn ein Kind beispielsweise nachspielt, dass ein Lastwagen irgendwo hineinrast, würde ich das nicht unterbinden. Das Kind sucht in seiner Fantasie nach Lösungen.

Was hilft jetzt?

Zuwendung, Zärtlichkeit, Körperkontakt. Aber auch Geschichten, die vielleicht schwierig sind, aber gut ausgehen am Ende. Das überträgt das Kind auf sich.

Kann es Verhaltensauffälligkeiten geben?

Ja. Aber die kommen meistens zeitverzögert. Darauf sollten Eltern achten. Manchmal werden Kinder aggressiv oder sie verstummen, aber erst nach einer ganzen Weile. Da muss man wachsam sein.

Wie geht nun eine ganze Stadt mit einem solchen Ereignis um?

Vielleicht muss man erst einmal ganz generell sagen, dass wir natürlich so etwas wie archaische Angst in uns tragen. Früher konnten wir nur in Gruppen überleben, wenn ein Teil der Gruppe plötzlich weg war, dann bekamen unsere Vorfahren Angst, die Angst wiederum war eine Überlebensstrategie. Ein bisschen haben wir das noch in uns. Wenn also zwölf Menschen einer Stadt getötet werden, dann ist ein verstärktes Angstgefühl völlig normal.

Aber diese Angst ist nicht nachhaltig?

Für die ganz große Mehrheit nicht. Sie erhöht erst einmal vor allem unsere Aufmerksamkeit, unser Mitgefühl, unsere Identität zur Gruppe. Damals in New York war allerdings das Sicherheitsgefühl einer ganzen Stadt erschüttert.

Das kann also passieren?

Ich denke nicht mehr. Die Berliner werden nicht in Panik verfallen. Denn die Menschen wussten insgeheim, dass es passieren kann, nur eben nicht wann. Die Menschen haben gesehen, was in Paris passiert ist oder anderswo. Sie waren sozusagen gewarnt, haben durch diese Informationen quasi Bewältigungsstrategien unbewusst trainiert. Außerdem wird auch das Gemeinschaftsgefühl neu erweckt, es gibt meist Trotzreaktionen. Das ist auch gut für die Identität einer Stadt.

Sind die sozialen Medien aus Trauma-Sicht gut oder schlecht?

Eher schädigend. Denn es geht darum, was Menschen hilft. Und es helfen gesicherte Informationen. Das ist im Netz nicht gewährleistet, weil sie Gerüchte und Falschmeldungen rasant schnell verbreiten.

Christian Lüdke, 56 Jahre, ist klinischer Hypnosetherapeut und Traumatologe. Er hat Opfer und Angehörige vieler Anschläge betreut. Am 11. September 2001 war er in New York und hat später 25 Familien begleitet.

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