Steigende Schülerzahlen in Deutschland: Wie reagiert die Bildungspolitik?
Eine Studie sagt 1,1 Millionen mehr Schüler für das Jahr 2025 voraus. Bisher war die Politik von sinkenden Zahlen ausgegangen.
In Deutschland werden wieder mehr Kinder geboren, zudem wandern viele junge Familien zu. Das wird für die Schulen enorme Folgen haben: Ging die Politik bisher davon aus, dass die Schülerzahlen hierzulande weiter sinken, dürfte sich die Entwicklung jetzt umdrehen. Zehntausende zusätzliche Lehrkräfte, Tausende neue Schulen werden gebraucht. Diese Rechnung macht eine neue Studie der Bertelsmann-Stiftung auf.
Wie viele Schüler werden erwartet?
8,3 Millionen Kinder und Jugendliche werden laut der Studie im Jahr 2025 zur Schule gehen. Das sind 300000 mehr als vor zwei Jahren – und 1,1 Millionen Schüler mehr, als die Kultusministerkonferenz bislang für 2025 prognostiziert hat (siehe Grafik).Dass die Zahlen steigen werden, zeichnete sich schon dieses Jahr ab. Unlängst meldete das Statistische Bundesamt, dass an den allgemeinbildenden Schulen 0,3 Prozent mehr Kinder und Jugendliche als im Vorjahr lernen – es ist der erste Anstieg seit der Jahrtausendwende. Für die Bildungsforscher und Studienautoren Klaus Klemm und Dirk Zorn ist das „der verhaltene Beginn eines Trends, der enorm an Fahrt gewinnen dürfte“.
Ihre Analyse beruht auf einer Fortschreibung der aktuellen Bevölkerungsvorausberechnung des Statistischen Bundesamtes, die sie um die jüngsten Geburtenzahlen der „Milupa-Geburtenliste“ ergänzt haben, einer jährlichen Erhebung des Babynahrungsherstellers. Aus der Sicht von Klemm und Zorn unterschätzen die Statistiker des Bundesamtes immer noch die anziehende Geburtenrate.
Laut ihrer Studie werden die Schülerzahlen im Jahr 2025 um vier Prozent höher als heute liegen, im Jahr 2030 sogar um acht Prozent höher. Naturgemäß spüren das die Grundschulen als erste: Im Jahr 2025 erwarten die Bildungsforscher 3,2 Millionen Grundschüler, das sind 400000 mehr als heute. In der Sekundarstufe I wird der große Boom nach 2025 beginnen. Von dann 4,1 Millionen Schüler (was in etwa dem derzeitigen Stand entspricht) wird die Zahl auf 4,5 Millionen im Jahr 2030 steigen.
Lediglich für die Sekundarstufe II gehen die Bildungsforscher von leicht rückläufigen Zahlen bis 2030 aus. Denn die steigenden Geburtenraten werden bis dahin noch keine massiven Auswirkungen auf die Oberstufe haben: 2017 Geborene feiern dann erst ihren 13. Geburtstag. Klemm und Zorn erwarten auch nicht, dass es die Mehrheit der zugewanderten Jugendlichen in die Oberstufe schafft.
Welche Folgen hat das für die Schulen?
In der Grundschule und Sekundarstufe I müssten viel mehr Lehrkräfte unterrichten als heute. Will man die Klassen nicht vergrößern, werden im Jahr 2025 mehr als 24000 zusätzliche Grundschullehrkräfte gebraucht, heißt es in der Studie. Entsprechend müssten bis dahin 2400 neue Grundschulen eröffnet werden, um alle Schüler unterzubringen. Ein großer Kraftakt wäre also vonnöten – umso mehr, als seit der Jahrtausendwende wegen Schülermangels 1800 Grundschulen geschlossen wurden. Für die Sekundarstufe I rechnen Klemm und Zorn im Jahr 2030 mit 27000 zusätzlichen Lehrkräften. Dass vielerorts schon jetzt Lehrer fehlen, eine Pensionierungswelle bevorsteht, Schulen marode sind, mache die Sache nicht einfacher. Insgesamt kalkulieren Klemm und Zorn für das Jahr 2030 mit 4,7 Milliarden Euro höheren Bildungsausgaben als heute.
Wie sich die zusätzlichen Kapazitäten auf die einzelnen Bundesländer verteilen, weist die Studie nicht aus: Wanderungseffekte vorherzusagen, sei zu schwierig. Klar sei jedoch, dass die Stadtstaaten mit besonders vielen zusätzlichen Schülern rechnen müssten, und zwar in allen Schulformen mit einem Anstieg von fast 30 Prozent bis 2030.
Wie reagieren Parteien und Verbände?
Die Herausforderung richtet sich vor allem an die Länder (sie sind für die Lehrer zuständig) und die Kommunen (welche für Schulgebäude und zum Teil die Ausstattung verantwortlich sind). Der Bund ist im schulischen Bildungsbereich weitgehend außen vor, was im Grundgesetz festgeschrieben ist (oft als „Kooperationsverbot“ bezeichnet). Der Kern des Problems ist die Unterfinanzierung in Ländern und Kommunen. Das könnte eine andere Steuerverteilung zu deren Gunsten ändern, zumal der Bund seit Jahren Überschüsse macht. Bundesregierung und Bundestag ziehen aber gezielte Mitfinanzierungen vor, auch wenn diese bedeuten, dass sich dann 17 Regierungen auf die Verteilung der Mittel verständigen müssen. So gibt es bereits das Sieben-Milliarden-Programm für finanzschwache Kommunen, aus dem auch Schulbausanierungen finanziert werden können. Noch nicht geschlossen ist der Digitalpakt, in den der Bund fünf Milliarden Euro zuschießen will, um die digitale Infrastruktur in Schulen auszubauen.
Die Bertelsmann-Studie dürfte nun im Wahlkampf die Debatte befeuern, ob und wie weit der Bund mehr tun soll. Während die Union zurückhaltend bleibt und im Wahlprogramm vor allem mehr Geld für Sanierungen andeutet, hat der SPD-Bildungspolitiker Ernst Dieter Roßmann die Forderung seiner Partei nach einer Nationalen Bildungsallianz bekräftigt. Um dem Bund mehr Mitfinanzierung auch bei Bildungsinhalten oder Lehrkräften zu ermöglichen, soll das Kooperationsverbot fallen. Das fordert auch Özcan Mutlu von den Grünen. Er schlägt mehr Geld für Ganztagsbetreuung und Schulsozialarbeit vor. Die Linke will ein bundesweites Schulneubauprogramm. FDP-Generalsekretärin Nicola Beer plädierte für Investitionen in die Aus- und Fortbildung von Lehrern. Bildung müsse zu einem deutschen „Mondfahrtprojekt“ werden.
Auch die Gewerkschaften fordern ein schnelles Handeln. Der Verband Bildung und Erziehung spricht sich für eine „Lehrerausbildungsoffensive“ aus. Der Philologenverband fordert, sofort die Streichungen von Lehrerstellen zu stoppen. Die GEW-Vorsitzende Marlis Tepe mahnt, die Prognose berücksichtige noch gar nicht eine bessere personelle Ausstattung, um die Inklusion zu meistern, oder um Ganztagsschulen auszubauen. Dafür sei noch viel mehr Geld nötig.
Was sagen die Kultusminister?
Normalerweise lassen sich die Kultusminister etwas Zeit, bis sie auf neue Trends reagieren. Und so gingen sie bisher von einem anderen Szenario aus. Sie rechneten damit, dass die Schülerzahlen weiter zurückgehen. Ihre aktuelle Vorhersage stammt aus dem Jahr 2013 – da zeichneten sich die steigende Geburtenrate und die hohen Flüchtlingszahlen nicht ab. In ihren Planungen hatten die Kultusminister daher eine „demographische Rendite“ eingepreist: Würden bei zurückgehenden Schülerzahlen die aktuellen Budgets nicht gekürzt, bleibe genug Spielraum für mehr Qualität in der Schule. Diese demografische Rendite sei „obsolet“, warnt Klemm.
In einer Stellungnahme zweifelte die Kultusministerkonferenz (KMK) die Zahlen von Bertelsmann nicht an. Man sei auch nicht vollkommen überrascht, sagte ein KMK-Sprecher. Wegen der neu nach Deutschland zugewanderten Schüler habe man die Vorausberechnung der Schülerzahlen schon Mitte 2015 so lange ausgesetzt, bis sich die Situation „wieder stabilisiert hat“. Die KMK habe bereits beschlossen, im Herbst 2017 eine neue Vorausberechnung der Schülerzahlen bis 2030 einzuleiten. Der Gesamtbericht soll im Sommer 2018 vorliegen. Im Herbst 2018 will die KMK dann aktualisierte Berechnungen präsentieren, wie viele Lehrkräfte die Länder einstellen müssen.
Wie steht Berlin da?
In der Studie wird Berlin positiv hervorgehoben. Es gehöre zu den Städten, „die sich bereits der neuen Realität stellen“. Der Senat rechne mit fast 87000 neuen Schülern bis zum Schuljahr 2024/25 und habe Planungen für neue Schulgebäude aufgenommen. Nach Angaben von Bildungssenatorin Sandra Scheeres (SPD) sollen in diesem Zeitraum 42 neue Schulen entstehen, davon seien 20 in der Planung. Der Neubau und die Sanierung von Schulen gilt als eines der wichtigsten Vorhaben des Senats, der dafür viel Geld in die Hand nimmt: Für die „Berliner Schulbauoffensive“ sind in den nächsten zehn Jahren 5,5 Milliarden Euro eingeplant.
Der Senat hat eine Task Force Schulbau eingesetzt, zu der Vertreter von mehreren Senatsverwaltungen und Bezirken gehören. Auch gibt es schon ein Konzept, wie die neuen Schulen aussehen sollen – zumindest theoretisch. Das Modell der „Berliner Lern- und Teamhäuser“ sieht vor, statt herkömmlicher Flurschulen mit aneinander gereihten Klassenzimmern Schulen zu bauen, die aus kleineren Einheiten mit Unterrichts-, Team- und Gemeinschaftsräumen bestehen. Ob und wann diese Empfehlungen umgesetzt werden, ist aber unklar, da es dazu noch keinen Senatsbeschluss gibt. Auch sonst läuft nicht alles glatt: Zwar will der Senat neue Gesellschaften gründen, die größere Bauprojekte anstelle der Bezirke übernehmen. Doch dagegen regt sich Widerstand.