Die Türkei und Deutschland: Wie man Erdogans Provokationen dechiffrieren muss
Erdogans Türkei findet immer neue Provokationen gegen die Bundesrepublik. Wie sind die zu interpretieren? Und was könnte die Antwort sein? Eine Analyse.
Die Dechiffrierung des türkischen Verhaltens wird dieser Tage zur großen Herausforderung für die Bundesregierung. Möglicherweise gehört sie auch mit zu dem, was die türkische Führung beabsichtigt hatte, als sie Geheimdienstunterlagen weitergab – um aller Welt deutsche Hilflosigkeit vor Augen zu führen, der Entwicklung Herr zu werden.
Zur Erinnerung: Im Februar bereits übergab der Chef des türkischen Geheimdienstes MIT eine Liste mit hunderten Namen, Adressen und Fotos an den Chef des Bundesnachrichtendienstes, Bruno Kahl. Allerdings geschah das nicht im Rahmen eines offiziellen Treffens, sondern eher konspirativ am Rande der Münchner Sicherheitskonferenz. Auf der Liste sind in großer „Detailtiefe“ Anhänger der Gülen-Bewegung aufgeführt, die Ankara für den Putsch gegen die regierende AKP mit dem umstrittenen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan an der Spitze verantwortlich macht. Weil sich aber auch Namen deutscher Abgeordneter auf der Liste finden, reagiert die Öffentlichkeit jetzt besonders empört, was ihre Parteien in Handlungsnot bringt.
Das alles ist inzwischen gewissermaßen dekonspiriert, bezeichnenderweise unter Mithilfe des BND. Was genau den türkischen Geheimdienst trieb, muss hingegen noch aufgeklärt werden. Einerseits ist eine solche Form der Übergabe von Geheimdienstmaterial untereinander nicht gänzlich unüblich. Hier aber ist der Fall heikler – und politisch: BND-Präsident Kahl hat schon deutlich gemacht, dass seinem Dienst bisher keine Beweise für die Verstrickung von Gülen-Anhängern in den Putsch vorliegen. Außerdem wird die Bewegung in Deutschland nicht als terroristisch oder extremistisch eingeschätzt. Mehr noch: Im BND lautet die Einschätzung seit Längerem, dass es sich um einen Vorwand für Erdogan handelt, damit er seine Macht ausdehnen kann.
Der Skandal hinter dem Skandal
Das wiederum korrespondiert mit der kritischen politischen Beurteilung in der Bundesregierung über das Verfassungsreferendum zur Stellung des Präsidenten. Die bekannt gewordenen Maßnahmen der Einschüchterung innerhalb und außerhalb der Türkei dienen demnach als Mittel zum Zweck, die Mehrheit dafür zu sichern. Deutschland wird wegen der vielen hier lebenden wahlberechtigten Türken als wichtig angesehen. Vor diesem Hintergrund erklärt sich die Skepsis des Bundesinnenministers als des deutschen Sicherheits- und Verfassungsministers. Thomas de Maizière meint, dass die Türkei nicht „naiv“ Listen weiterreiche, sondern vermutet dahinter eine weitere Stufe der Provokation. Dazu passend wollen auch im Bundestag Fachkreise nicht ausschließen, dass Ankara den BND als Auslandsgeheimdienst dazu bringen wollte, im Inland seine Nachforschungen zu überprüfen. Dann aber hätte die Bundesrepublik bloßgestellt werden können – weil das nach deutschem Recht nicht statthaft ist, sondern wenn überhaupt Aufgabe des Verfassungsschutzes.
Des Weiteren allerdings stellt sich die Frage nach innen – wie vom Grünen-Abgeordneten Özcan Mutlu geäußert –, warum die Betroffenen zum Teil erst nach so vielen Wochen von der Liste erfahren haben. Mutlu spricht von einem „Skandal hinter dem Skandal“ und fordert Aufklärung. Für dieses Ansinnen bildet sich gerade eine größere Koalition.
Das Kanzleramt verfolgt die Entwicklung, die Züge einer neuen Affäre trägt, insofern mit Sorge, als sie in jedem Fall eine Verschärfung im Verhältnis zur Türkei Erdogans bedeutet. Dass die Generalbundesanwaltschaft ermittelt, wird in Regierung wie Parlament sehr begrüßt, auch als demonstrativer Nachweis funktionierender Gewaltenteilung. Politisch wird aber in allen Fraktionen über mögliche Sanktionen nachgedacht, wirtschaftliche bei den EU-Hinführungshilfen in Milliardenhöhe oder beim Rüstungsexport.
Stephan-Andreas Casdorff