EU-Austritt Großbritanniens: Wie macht man Brexit?
Theresa Mays Regierung befasst sich erstmals mit konkreten Brexit-Optionen. Der CDU-Außenpolitiker Norbert Röttgen will den Briten entgegenkommen - bei der Freizügigkeit der Arbeitnehmer.
Chequers ist der hübsche Landsitz der britischen Premierminister, in Buckinghamshire, weit genug weg vom Londoner Trubel, um ein bisschen zu sich zu kommen. Am Mittwoch hat Theresa May ihr Kabinett um sich versammelt, um ihren schon klassischen Satz „Brexit bedeutet Brexit“ nun auch mit Inhalt zu füllen. Jeder Minister sollte vortragen, was aus der Sicht seines Ressorts der bestmögliche Brexit sei. Die Regierung ist keineswegs einer Meinung, schließlich gibt es viele Möglichkeiten, wie man nach dem Austritt aus der Europäischen Union auch die künftigen Bindungen gestaltet.
Im Kabinett sitzen neben den prominenten Brexitern Boris Johnson (Außenminister), David Davis (Austrittsminister) und Liam Fox (Internationaler Handel) vor allem Politiker, die wie May beim Referendum am 23. Juni für Remain gestimmt hatten. Schatzkanzler Philip Hammond gilt als der Kopf der Kabinettsfraktion, die auch künftig eine möglichst enge Bindung des Königreichs an die EU wünscht.
May will und kann den Austrittsantrag nach Artikel 50 des Lissabon-Vertrags erst stellen, wenn eine Regierungslinie gefunden ist. Da die regierenden Tories seit mehreren Generationen über das politisch, ökonomisch und historisch geeignete Verhältnis Großbritanniens zu Europa streiten und, könnte das noch dauern. In der Runde machte May nur deutlich, dass es kein zweites Referendum geben werde und dass es keinen „Versuch durch die Hintertür“ geben werde, doch in der EU zu bleiben.
Was die Regierung am Abend verkündete, klingt ein bisschen nach „best of both worlds“. Ein Abkommen mit der EU solle sowohl Kontrolle über die Einwanderung als auch „einen positiven Effekt für diejenigen bringen, die Waren und Dienstleistungen handeln wollen“, hieß es in einer Pressemitteilung. Man wolle keine Lösung „von der Stange“, sondern eine maßgeschneiderte Vereinbarung. Gemeint ist eine Form der Kooperation, wie sie schon mit anderen Ländern besteht. Gleichzeitig hieß es, man wolle so bald wie möglich in die offiziellen Austrittsverhandlungen eintreten. Das Parlament müsse dafür nicht um Zustimmung gebeten werden. Zuletzt hatte May verkündet, in diesem Jahr das Verfahren nach Artikel 50 nicht mehr anzuschieben.
"Kontinentale Partnerschaft"
Auch andere machen sich Gedanken über das künftige Verhältnis der Insel zu Europa. Zum Beispiel Norbert Röttgen, einst Bundesumweltminister und heute Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses im Bundestag. Der CDU-Politiker gehört zu den Autoren eines Vorschlags, der vielleicht Gewicht bekommen könnte in den nächsten Monaten. Denn hinter dem Papier steht auch die einflussreiche Brüsseler Denkfabrik Bruegel (wobei alle Mitwirkenden betonen, als Privatleute geschrieben zu haben).
Röttgen glaubt nicht, dass eines der aktuell diskutierten (und wohl auch in Chequers besprochenen) Modelle für Großbritannien taugt – also weder eine enge Einbindung über den Europäischen Wirtschaftsraum wie Norwegen, oder das Schweizer Modell mit Dutzenden von Einzelverträgen, mit denen der Binnenmarktzutritt geregelt wird, noch die Kanada-Lösung, also ein umfangreicher Handelsvertrag ähnlich dem Ceta-Projekt.
Röttgen und seine Mitautoren schlagen daher eine neue Form der Kooperation vor – Kontinentale Partnerschaft genannt. Darin würde Großbritannien mit anderen Nicht-EU-Staaten eine eigene Gruppe bilden, die zwar wirtschaftlich eng an EU und Binnenmarkt gebunden wäre, aber politisch außerhalb der Union stünde. Es gäbe ein Europa der zwei Kreise, einen inneren mit der EU, deren Kern die Euro-Zone ist, und einen äußeren mit den weiteren europäischen Staaten, alle zusammengebunden in der Kontinentalen Partnerschaft.
Großbritannien könnte sich dabei mit den schon assoziierten Ländern Norwegen, Schweiz, Island und Liechtenstein zusammentun, auch die Türkei könnte zu dieser Runde stoßen oder später auch die Ukraine. Diese Länder würden Zugang zum Binnenmarkt bekommen, müssten die EU-Regeln einhalten und zudem in das EU-Budget einzahlen (so wie Norwegen oder die Schweiz es heute schon tun). In einem eigenen Rat könnten sie, so Röttgens Vorstellung, ihre Interessen sammeln und gegenüber den EU-Gremien geltend machen – Mitsprache also, aber keinen formellen Einfluss auf die Entscheidungen in Brüssel.
Der Vorteil: Es gäbe mehr institutionelle Klarheit zwischen den Ländern Europas, die in der EU sind, und denen, die nicht zur Union gehören, aber vom Binnenmarkt profitieren wollen (was ja auch den EU-Mitgliedern nutzt). „Es ist keine einseitig privilegierte Partnerschaft“, sagte Röttgen dem Tagesspiegel, „sondern mit Pflichten verbunden – man bekommt, man bezahlt.“
"Uneingeschränkte Freizügigkeit für London unerfüllbar"
Die Karotte für London ist ein Zugeständnis bei der Freizügigkeit von Personen, neben dem freien Güter-, Dienstleistungs- und Kapitalverkehr eine Säule des Binnenmarkts. Für Röttgen ist das kein Tabu. „Die Einschränkung der Zuwanderung war ein entscheidendes Motiv für das Brexit-Votum, das man nicht einfach ignorieren kann, jedenfalls dann nicht, wenn man weiterhin mit der bislang drittgrößten Volkswirtschaft der EU kooperieren will. Eine weiterhin uneingeschränkte Freizügigkeit ist für London unerfüllbar“, gibt er zu bedenken.
Das Verlangen nach voller Arbeitsnehmerfreizügigkeit „steht einer erfolgreichen und beiderseits nützlichen Kooperation im Weg“. Mit eingeschränkter Freizügigkeit wäre Mays Forderung, Großbritannien müsse mehr "Kontrolle" bei der Zuwanderung haben, wohl grundsätzlich zu erfüllen. In London wird über ein Einwanderungsgesetz mit einem Punktesystem nachgedacht; auch wird darüber gesprochen, den Nachweis eines Arbeitsplatzes vorauszusetzen. Würden EU-Bürger hier eine gewisse Bevorzugung genießen, könnte durchaus ein Kompromiss gelingen.
Doch liegt politischer Sprengstoff in dem Vorschlag. Frankreichs Präsident Francois Hollande und EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker vor allem bestehen auf der Freizügigkeit auch in Zukunft – ohne diese, so ihre Position, werde es für Großbritannien keinen breiten Zugang zum Binnenmarkt geben. Röttgen sieht die Freizügigkeit vor allem als politisches Integrationsmittel, weniger als wirtschaftliche Notwendigkeit des Binnenmarkts.
Brexit-Hardliner - eine Minderheit?
Auch die Brexit-Hardliner in Großbritannien lehnen Kooperationsmodelle wie die von Röttgen ab. Sie haben vor dem Referendum versprochen, dass Großbritannien wieder "souverän" werde. Und daher lehnen sie neben der Freizügigkeit auch die weitere Übernahme von EU-Recht und eine verpflichtende Einzahlung in den EU-Haushalt ab. Vor allem Davis und Fox arbeiten auf eine Kanada-Lösung hin. Darin erkennt der CDU-Mann aber kein Problem. Es handle sich um eine Minderheitsmeinung, die große Mehrheit im Unterhaus wolle eine festere Kooperation in einer Form, „welche den Schaden begrenzt“.
Modelle wie die Kontinentale Partnerschaft dürften derzeit in allen europäischen Hauptstädten auf ihre Möglichkeiten und Grenzen hin abgecheckt werden. Denn beim EU-Gipfeltreffen in Bratislava am 16. September (schon ohne Großbritannien) soll das Nachdenken beginnen, wie ein Europa nach dem Brexit aussehen könnte und wie die EU sich künftig aufstellt. (mit dpa)