Großbritannien nach dem Brexit: Die enttäuschte Liebe der jungen Europäer
No more Cool Britannia: Viele junge Europäer können nicht verstehen, warum ihre ehrliche Zuneigung zu Großbritannien auf der Insel so wenig Resonanz findet. Ein Gastbeitrag zum Brexit.
„I love you, you love me“: Überall in Europa wird 10- bis 18-Jährigen die englische Sprache eingepaukt. In fast allen Ländern ist inzwischen Englisch die erste und oft einzige Fremdsprache, die man in der Schule noch lernt. Kaum etwas ermöglicht den freien Austausch von Menschen und Ideen im heutigen Europa so sehr wie die Fähigkeit, sich auf Englisch als der modernen lingua franca zu verständigen.
Großbritannien hat von dieser Dominanz der englischen Sprache ungeheuer profitiert – nicht nur in wirtschaftlicher, sondern vor allem auch in kultureller Hinsicht, was das Image des Landes europa- und weltweit betrifft. Seit dem Zweiten Weltkrieg, als England allein der NS-Herrschaft widerstand, galt es den übrigen Europäern ohnehin als Hort der Freiheit und Demokratie.
Für Generationen wurde der englisch geprägte Lebensstil zur Leitkultur
Langfristig aber wohl ebenso wichtig war die populärkulturelle Entwicklung, die in den 1960er Jahren von Großbritannien ausging und auf ganz Europa ausstrahlte: Beginnend mit den Beatles und Rolling Stones, wurde für Generationen junger Europäer der englisch geprägte Musik- und Lebensstil zu einer Art europäischer Leitkultur. „Cool Britannia“ (ein 1967 als Song-Titel zuerst geprägter Begriff) wurde zum Ideal; eine anglophile Grundstimmung durchzog seither den Kontinent. Kaum ein deutscher Gymnasiast, der nicht London schon mindestens einmal besucht hätte. Zehntausende junge Skandinavier zog es nach Großbritannien.
Von den Defiziten, den sozialen Spaltungen der britischen Gesellschaft war dabei selten die Rede. Das Liebenswerte der englischen Kultur und Lebensart stand im Vordergrund, bewundert wurde die für das Land typische Verknüpfung von altehrwürdiger Tradition und innovativer Weltoffenheit. Die Briten ihrerseits haben dieses Selbstbild kräftig mitinszeniert. Doch keine noch so teure Imagekampagne hätte für sich genommen den positiven Nimbus erzeugen können, der als kulturhistorisches Phänomen in den letzten 60 Jahren um Großbritannien entstanden ist.
Ein Gefühl verschmähter Zuneigung
Die außergewöhnliche kollektive Liebe, die Europas Jugend den Briten seit Jahrzehnten entgegenbringt, ist nun mit einem Schlage bitter enttäuscht worden. Das Mehrheitsvotum der Briten (genauer: der Engländer, nicht der Schotten) zum Austritt aus der EU lässt vor allem jüngere Kontinentaleuropäer ratlos und ernüchtert zurück; ein Gefühl verschmähter Zuneigung macht sich breit. Warum wollen die Engländer nicht mehr dazugehören, warum dieser historische Bruch?
In den Anfängen der europäischen Bewegung ging man ganz natürlich davon aus, dass die Sowjetunion und Großbritannien als Weltmächte in das künftig vereinte Europa nicht zu integrieren waren. Erst später, als die Briten ihr Weltreich verloren hatten, wurde das Vereinigte Königreich 1973 Mitglied der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG), des Vorläufers der EU. Und obgleich die Londoner Regierung stets ein schwieriger Partner blieb, sind die jüngeren Europäer wie selbstverständlich in dem Bewusstsein aufgewachsen, dass England dazugehört als nicht wegzudenkender Teil des großen Projekts von Europa. Der Gedanke einer Trennung der Briten vom Kontinent: dafür fehlte die Vorstellungskraft – und man sucht nach den Gründen.
Furcht vor einem deutsch dominierten Europa
Dass viele, vor allem ältere Engländer weniger liebevoll auf das übrige Europa blicken, war realistischen Zeitgenossen klar. Zu den Franzosen herrscht ungeachtet der historischen Entente cordiale von jeher ein gespanntes Verhältnis. Und wie wach das alte Misstrauen gegen Deutschland geblieben ist, wissen wir nicht nur aus den Tagen der Wiedervereinigung 1989/90, als Margaret Thatcher und ihre Berater über die Deutschen wenig Vorteilhaftes zu sagen hatten. Auch jetzt, in der Brexit-Kampagne, spielte die Furcht vor einem deutsch dominierten Europa eine nicht zu unterschätzende Rolle.
Hunderttausende junger Polen halfen, die Wirtschaft anzukurbeln
Viele junge Deutsche werden trotz allem nicht verstehen, warum ihre ehrliche Zuneigung zu Großbritannien und seiner Kultur bei einem Großteil der Engländer so wenig Resonanz findet. Am stärksten betroffen von diesem Gefühl der verschmähten Liebe aber sind heute die jungen Polen, die es in Scharen nach England gezogen hat. Auch hier muss man zur Erklärung in die jüngere Geschichte zurückgreifen: Als 2004 die Osterweiterung der EU erfolgte, entschied die damalige britische Labour-Regierung, dass man – anders als die meisten EU-Staaten – den neuen Europa-Bürgern aus Osteuropa von Anfang an die volle Freizügigkeit gewähren würde.
Hunderttausende kamen ins Land und halfen, die britische Wirtschaft anzukurbeln. Heute leben 850 000 Polen in Großbritannien – zu viele, wie nicht wenige Engländer finden. Das migrationspolitische Eigentor von 2004 hat insofern zu der Stimmung beigetragen, die zum Brexit führte. Die neue Fremdenfeindlichkeit in England bekommen vor allem die Polen zu spüren: für diese traditionell mit England verbundene Nation eine schwere Demütigung, die letztlich auf Großbritannien zurückfällt.
No more Cool Britannia
Insgesamt ist es ein gewaltiger Imageverlust, den England erleidet. Auf einmal zeigen sich hässliche Züge: ein kleinlich-nationaler Egoismus und xenophobe Ausbrüche, die man dieser weltoffen erscheinenden Nation nicht zutraute. Der Blick der Welt auf das Land hat sich verändert. No more Cool Britannia.
England kehrt zurück zu seiner jahrhundertealten Politik der splendid isolation. In einer Zeit ohne Kolonien und Weltreich aber wird sich zeigen müssen, ob der Inselstaat zu solchem Alleingang noch fähig ist. Die Jugend Europas wird ihm ohnehin durch die Vorherrschaft der englischen Sprache verbunden bleiben. Und vor allem: Die jüngeren Briten, die mit großer Mehrheit gegen den Brexit gestimmt haben, werden im Herzen Europa zugewandt bleiben. Auf jede Trennung kann eine Wiedervereinigung folgen.
Die Autorin ist Doktorandin im Fach Alte Geschichte an der Universität Oxford.
Helena Winterhager