Sechstagekrieg endete vor genau 50 Jahren: Wie lebt es sich mit dem Nahostkonflikt?
Die Menschen im Westjordanland und in Israel blicken völlig unterschiedlich auf die Ereignisse von 1967. Ein Besuch bei Friedensfreunden, Kämpfern und Überzeugten.
DIE BRÜCKENBAUER
Der Israeli Rami Elchanan (67) aus Jerusalem und der Palästinenser Bassem Aramin (49) aus Jericho sind enge Freunde, engagieren sich für Begegnungen und gegen die Besatzung.
„Mein Name ist Rami und dieser Terrorist hier, das ist Bassem“, sagt der Jerusalemer Rami Elchanan. Er sitzt in einem Hotelsaal in der Altstadt vor einer Pilgergruppe und klopft dem Palästinenser neben sich auf die Schulter. Die Christen aus Chicago lachen. Der Palästinenser, ein Terrorist – Rami spielt mit einem Stereotyp, das er selbst bekämpft.
Der Palästinenser Bassem Aramin aus Jericho ist sein Freund. Mehr noch. „Er ist mein Bruder, in vielerlei Hinsicht ist er mir näher als meine Familie.“ Im dritten Stock über den Dächern jener Stadt, die beide Konfliktparteien für sich beanspruchen, in der sich ihre Heiligtümer befinden und für die sie blutige Kämpfe führen, wollen die beiden zeigen, dass es auch anders geht. Rami erzählt, wie sich am 4. September 1997 Hamas-Terroristen in Jerusalem in die Luft sprengten und fünf Israelis, darunter seine Tochter Smadar, mit in den Tod rissen. Bassem berichtet, wie seine Tochter zehn Jahre später vor ihrer Schule von dem Gummigeschoss eines Soldaten getroffen wurde und starb.
Der Tod der eigenen Kinder hat die beiden zusammengeschweißt. Sie engagieren sich heute bei Parents Circle, einer Organisation, die israelische und palästinensische Familien zusammenbringt, die im Konflikt ein Kind verloren haben. Das Ziel: Brücken bauen. Ist das naiv? Palästinensische Eltern werden mit dem Vorwurf konfrontiert, sie normalisieren die Besatzung. Auch Israelis stoßen auf Unverständnis, weil sie das Leid der Palästinenser anerkennen. „Wir schwimmen gegen den Strom“, sagt Bassem. Und Rami ergänzt: „Es beginnt bei uns, damit wir uns mit Respekt begegnen.“
DIE PRAGMATIKERIN
Die 32-jährige Alla Wainer wohnt mit ihrer Familie in der Siedlung Ariel – weil es dort so idyllisch ist.
Nein, ein politischer Mensch sei sie nicht, sagt Alla Wainer. Dabei sitzt sie mittendrin im politisch höchst umstrittenen Gebiet, in Ariel, einer 1978 erbauten israelischen Siedlung im Westjordanland. Die 32-Jährige ist gerade von einem Geschäftstermin in Jerusalem gekommen, etwas verspätet, die Straßen waren dicht. Ansonsten aber komme man von hier aus schnell überallhin.
Nun sitzt Alla nach Feierabend in der Sonne im Garten des Cafés direkt neben dem Stadthallenbad. Für sie ist Ariel ein besonderer Ort. „Es ist grün, es ist ruhig. Eine tolle Stadt, um Kinder großzuziehen“, sagt sie. Sie hat eine fünfjährige Tochter und einen einjährigen Sohn.
Ariel ist aber auch ein besonderer Ort, weil er 16 Kilometer außerhalb der „grünen Linie“ und hinter der israelischen Sperranlage liegt – also im Westjordanland, in dem die Palästinenser ihren eigenen Staat errichten wollen. Deshalb gelten Siedlungen international als Hindernis für eine Zwei-Staaten-Lösung.
Das Leben in Ariel wirkt wohl auch nur deshalb so idyllisch, weil es von Soldaten streng bewacht wird. Sicherheitsleute kontrollieren am Eingang der Stadt die einfahrenden Fahrzeuge. Was andere gruselt, gibt Alla Sicherheit. „Ich weiß, dass wir hier beschützt werden.“
Alla ist in Odessa geboren und kam als Kind nach Israel. Die Familie zog nach Bat Yam, einem Vorort von Tel Aviv, direkt am Mittelmeer. Später wollten sich die Eltern eine neue Wohnung kaufen, Alla war damals 19. „Wir haben überall gesucht. Am Ende aber hat uns Ariel am besten gefallen.“ Die Preise seien fair, der Lebensstandard hoch, man habe hier Ämter, Ärzte, Schulen, ein kleines Einkaufszentrum, sogar eine Uni, an der Alla studiert hat. Hier in Ariel kann sie sich sogar die Miete für ein kleines Häuschen mit Garten leisten, was für viele Familien in Israel finanziell unmöglich ist. Alla lebt wie die meisten der 20.000 Bewohner säkular. Politische oder religiöse Motive, nach Ariel zu ziehen, hatte ihre Familie nicht.
DER IDEOLOGE
Der nationalreligiöse Israel Sadiel, 69, war einer der Ersten,die die Siedlung Kfar Etzion mit aufgebaut haben.
„Heute ist ein besonderer Tag“, sagt Israel Sadiel: Er steht im Archiv des Besucherzentrums der Siedlung Kfar Etzion. „Heute vor genau 50 Jahren wurde dieser Ort befreit“, behauptet Sadiel und meint den Sechstagekrieg, der nach jüdischem Kalender in diesen Tagen stattgefunden hat. Israel eroberte damals auch das Westjordanland. Israel Sadiel nennt es die Befreiung von Judäa und Samaria. So lautet der biblische Name der Region.
Der 69-Jährige trägt eine gehäkelte Kippa, wie sie typisch ist für nationalreligiöse Juden. Er lebt und arbeitet schon seit 50 Jahren hier. Der Kibbuz Kfar Etzion war die erste Siedlung, die 1967 nach dem Sechstagekrieg errichtet wurde. Und Israel Sadiel war einer der Ersten, der mit dabei war.
Palästinenser wollen auf diesem Gebiet ihren eigenen Staat errichten. Doch für Israel Sadiel und die anderen in Kfar Etzion ist das Leben hier die lang ersehnte Rückkehr in das Land ihrer Vorväter: Abraham, Isaak, Jakob, König David und König Salomon. „In der Bibel steht, dass Abraham von Hebron nach Jerusalem gewandert ist“, erzählt Israel Sadiel. „Und da kam er hier vorbei. Wir nennen das den Pfad der Patriarchen.“ Zwar nenne die Bibel keine geografischen Details. Aber es müsse so gewesen sein, ist er überzeugt. Schließlich sei der einfachste Weg stets der entlang der Wasserscheide, und die verlaufe nun mal hier.
Israel Sadiel ist mit dem festen Glauben aufgewachsen, dass dieses Gebiet die Heimat der Juden ist – und sie ein Recht haben, hier zu siedeln. Seine Eltern gehörten der Jugendbewegung Bnei Akiva an. Deren Motto: „Das Volk Israel im Land Israel nach der Thora Israels.“ Schon 1943 bauten die Eltern Kfar Etzion mit auf, mussten aber nach dem Unabhängigkeitskrieg wieder fliehen. Israel Sadiel wurde in Jaffa geboren, verbrachte seine Jugend dort. Bis er 1967 im Radio hörte, wie die Armee ihre Siege verkündete. Anderthalb Monate später kehrte er, wie er sagt, in die Heimat seiner Vorfahren zurück.
DER HOFFNUNGSLOSE
Der Palästinenser Mohammed Abu Garbieh lebt in Ostjerusalem. Der 43-jährige Schuhverkäuferhat den Glauben an eine friedliche Zukunft aufgegeben.
„Wer, bitte schön, hat denn hier nicht die Schnauze voll von den Kämpfen?“, fragt der arabische Schuhverkäufer Mohammed Abu Garbieh im Osten Jerusalems. Nur wenige hundert Meter von seinem Laden entfernt sorgen zur gleichen Zeit Dutzende israelische Polizisten dafür, dass aufgebrachte junge Araber nicht auf singende und fahnenschwenkende Israelis losgehen.
Es ist Jerusalemtag, der Tag, an dem besonders patriotische Israelis die „Befreiung Jerusalems“ im Sechstagekrieg vor 50 Jahren feiern. Die Palästinenser sprechen hingegen von der „israelischen Besatzung“, der Festzug nationalreligiöser Israelis durch das arabische Ostjerusalem ist für sie eine Provokation. Vorsorglich hat die Polizei die Straßen abgesperrt und am Damaskustor Stellung bezogen.
Fragt man die Palästinenser auf der Straße, sprechen sie vom Widerstand gegen die Besatzung, sie wollen kämpfen für die Freiheit Palästinas. Mohammed Abu Garbieh, ein 43-jährige Muslim mit braunen Haaren im dunklen Hemd mit lässig hochgekrempelten Ärmeln, will hingegen nur eines: ein normales Leben führen.
„Das ist Gehirnwäsche, das sind alles geplante Aktionen. Die normalen Menschen hier wollen in Frieden leben, ihrer Arbeit nachgehen, Geld verdienen.“ Laut sagen kann er das nicht überall. „Unter Freunden ja, aber ich würde mich jetzt nicht hier auf die Straße stellen und sagen, die Kämpfe haben keinen Sinn. Die würden mich alle lynchen.“
Die Hoffnung, dass ein Leben ohne Auseinandersetzungen hier möglich ist, hat Mohammed Abu Garbieh denn auch längst aufgegeben. Deshalb ist er schon früh aus Jerusalem, wo er geboren und aufgewachsen ist, weggezogen. Erst nach Jordanien, dann nach Dubai und London. Er hat Versicherungswesen studiert und im Ausland gearbeitet – bis sein Vater krank wurde und er wieder zurückkam nach Jerusalem, wo er bis heute das Schuhgeschäft der Familie führt.
Sein Bruder allerdings ist längst nach Kalifornien ausgewandert, eine Schwester lebt im Golfstaat Katar. Und er selbst spielt wieder mit dem Gedanken, ins Ausland zu gehen. „Ich sehe keine Zukunft hier“, sagt Mohammed Abu Garbieh. Und dabei bin ich ein optimistischer Mensch.“
DER SOLDAT
Yaki Chetz kämpfte 1967 als junger Soldat in Jerusalem: Es ging um das Überleben des Staates Israel – und der Kameraden, sagt der 71-Jährige heute.
Als sie Yaki Chetz vor 50 Jahren zum Einsatz nach Jerusalem riefen, ging es ihm nur um eines: die Kameraden zu befreien. „Auf dem Har Hazofim, wo sich die Hebräische Universität befindet, gab es noch eine israelische Stellung, die die Jordanier im Unabhängigkeitskrieg nicht erobert hatten. Dort waren unsere Soldaten umzingelt von der jordanischen Armee“, erzählt er heute, genau an dem Ort, an dem er 1967 gekämpft hat, am Amunition Hill.
Heute wird Israel als starke Nation wahrgenommen. Damals gab es große Unsicherheit. „Uns saß der Holocaust im Nacken. Ich bin in Tel Aviv unter europäischen Einwanderern aufgewachsen, und viele hatten die Nummern aus den Konzentrationslagern auf dem Arm tätowiert. Wir wussten: Das werden wir nie wieder zulassen.“ Yaki Chetz war damals 21 Jahre alt und Reservist bei den Fallschirmjägern. Die Jordanier schossen am Amunition Hill aus Schützengräben, rund 150 Mann. „Wir hatten mit der Hälfte gerechnet. Wir hatten keine guten Informationen, wir hatten nur diese eine Luftaufnahme.“
Yaki kramt ein Schwarz-Weiß- Bild aus seiner Tasche, auf dem selbst die Universität auf dem Berg nur schemenhaft zu erkennen ist. Mehr als vier Stunden dauerten die Kämpfe. 71 Jordanier und 36 Israelis wurden getötet . Doch sie konnten die Kameraden auf dem Har Hazofim befreien. In diesen Tagen feiern Juden in Jerusalem die Vereinigung der Stadt und die Eroberung der Klagemauer.
Doch all das war Yaki Chetz damals egal. „Wir haben Freunde verloren, mit denen wir Seite an Seite gekämpft haben.“ Gleich nach dem Ende der Kämpfe strömten viele Israelis nach Jerusalem an die Klagemauer, beteten, sangen und feierten. „Ich konnte mich damals nicht mitfreuen. Ich war einfach nur wahnsinnig traurig.“
Musik, erzählt Yaki, wollte er danach ein Jahr lang nicht mehr hören, schon gar nicht das Lied „Jerusalem aus Gold“, das 1967 zum Nationalschlager wurde. Die Trauer ist nie ganz verschwunden, ist mit den Jahren aber zum Teil einer Fröhlichkeit gewichen.
Heute fährt Yaki Chetz regelmäßig von seinem Wohnort im Norden nahe Haifa nach Jerusalem, um Besucher durch die Gedenkstätte zu führen. „Die Jordanier, auf die wir hier trafen, waren Elitetruppen, sie waren die besseren Soldaten. Aber wir haben sie besiegt. Diesen Kampfgeist müssen wir an die neue Generation weitergeben.“
DIE AKTIVISTIN
Janna Jihad, 11, gilt als jüngste palästinensische Journalistin und Symbol des Aufstandes gegen die Besatzung des Dorfes Nabi Saleh.
Das Mädchen mit dem langen Zopf und dem Palästinensertuch um den Hals hat sich einige Dutzend Meter von der Konfliktlinie entfernt positioniert. Auf der einen Seite stehen palästinensische Demonstranten mit Fahnen und jugendliche Halbstarke, die Steine werfen. Auf der anderen Seite befinden sich israelische Soldaten, die mit Gummigeschossen zurückschießen.
Ein Onkel führt die Kamera, und das Mädchen erzählt in nahezu perfektem Englisch: „Wir versuchen, unsere Nachricht an die ganze Welt zu senden, dass wir niemals aufgeben.“ Und: „Wir werden erleben, was Freiheit bedeutet, wir werden erleben, was es heißt, dass Palästina frei ist.“
Es sind die Worte der elfjährigen Janna Jihad, die manche als jüngste Journalistin Palästinas bezeichnen, die aber vielmehr eine blutjunge Aktivistin ist. Janna Jihad ist für viele zu einem Symbol des Kampfes gegen die Besatzung geworden, der an manchen Orten, wie hier in Nabi Saleh, noch immer geführt wird – obwohl sich bisher nichts verändert hat, zumindest nicht zum Besseren.
Janna Jihad ist mit alldem aufgewachsen, der Kampfgeist wurde ihr gewissermaßen in die Wiege gelegt. Ihr Heimatdorf Nabi Saleh im Westjordanland hat mit wöchentlichen Protestmärschen gegen die Besatzung seit Dezember 2009 Berühmtheit erlangt. Janna war damals drei Jahre alt. Anfangs blieben die Kinder zu Hause, später nahmen die Eltern sie mit zu ihren „friedlichen“ Protesten, wie sie es nennen – auch wenn die Steinschleudern immer mit dabei sind. Ob sie Angst hat? „Klar. Jeder, der sein Leben liebt, hat doch Angst“, sagt das junge Mädchen. Doch Aufgeben kommt für sie nicht infrage. „Weil wir hier frei leben wollen, wie normale Menschen.“