„Maximalforderungen“: Wie der Migrationspakt fast gescheitert wäre
Manche Staaten wollten Rechtsbindungen und Abschiebeverbote, zeigen Regierungsdokumente. Der Kompromiss: das Hohelied auf Einwanderung als Wohlstandsquelle.
Die zwischenstaatlichen Verhandlungen zum umstrittenen Globalen Migrationspakt im vergangenen Jahr standen offenbar kurz vor dem Scheitern. Grund waren „Maximalforderungen“ einiger Länder der Vereinten Nationen (UN), die den Vertrag rechtsverbindlich ausgestalten und eine „deutliche Besserstellung irregulärer Migranten“ erreichen wollten. Dies geht aus der internen Protokollen der deutschen Delegation für das Auswärtige Amt hervor, die das Außenamt auf Grundlage des Informationsfreiheitsgesetzes (IFG) jetzt an den Tagesspiegel herausgegeben hat.
Tagesspiegel veröffentlicht Protokolle der deutschen Delegation
Um welche Länder es sich handelt, wird in den Dokumenten unkenntlich gemacht. Zur Begründung heißt es, es seien sonst nachteilige Auswirkungen für die internationalen Beziehungen zu befürchten. Es dürfte sich in der Regel um Herkunftsländer von Einwanderern handeln. Die Schwärzungen sind dennoch schwer nachvollziehbar, da die sechs Verhandlungsrunden zwischen Februar und Juli 2018 in New York nach Angaben des Auswärtigen Amts (AA) öffentlich zugänglich gewesen sein sollen. Der Tagesspiegel veröffentlicht die freigegebenen Dokumente und hat gegen die Schwärzungen Widerspruch eingelegt.
Die EU-Staaten markierten eine "rote Linie" bei Rückführungen
Offenbar kam es bei den Verhandlungen zu Konfrontationen. Einige Staaten hätten ihre Forderungen in der Schlussphase deutlich erhöht und „gingen teilweise weit hinter bereits vereinbarte (Kompromiss-)Positionen zurück“, heißt es im Bericht zur fünften und damit vorletzten Verhandlungsrunde Anfang Juni 2018. So sei „jegliche Unterscheidung zwischen regulären und irregulären Migranten“ abgelehnt worden. Gefordert worden sei auch „die Streichung der nicht-rechtsverbindlichen Natur des Pakts“ sowie von „Souveränitätsklauseln“. Abschiebungen müssten verboten werde, es dürfe „keine Kriminalisierung“ geben.
Zwar seien diese Positionierungen auch taktischen Überlegungen geschuldet, aber sie verdeutlichten, „dass für viele Delegationen aus Herkunftsländern das Ende der Flexibilität naht“. Ein „Scheitern der Verhandlungen“ bleibe eine Option, „falls nicht alle Delegationen die in der letzten Verhandlungsrunde nötige Kompromissbereitschaft zeigen“. Die Möglichkeit zur individuellen Rückführung irregulärer Migranten bedeute für die EU-Staaten und andere Zielländer jedoch eine „rote Linie“.
Das Auswärtige Amt beklagte eine Kampagne
Der „globale Pakt für eine sichere, geordnete und reguläre Migration“ war im Dezember in Marokko mit den Stimmen der Bundesrepublik sowie 151 weiteren UN-Mitgliedstaaten angenommen worden. Mehrere EU-Staaten, darunter Österreich und Italien, enthielten sich, obwohl sie den Pakt zuvor teilweise unterstützt hatten. Kritisiert wurde insbesondere eine drohende Einschränkung der staatlichen Souveränität, mangelnde Unterscheidungen von legaler und illegaler Migration und eine fehlende Begrenzung der Einwanderung.
Gegner des Pakts in Deutschland, allen voran die AfD, hoben hervor, dass er zahlreiche Verpflichtungen enthalte und zumindest indirekt auch rechtlich bindend wirke, etwa bei gerichtlichen Entscheidungen über Migranten. Das AA beklagte eine Kampagne gegen den Pakt und zahlreiche Desinformationen; dem Amt wiederum wurde vorgeworfen, zu wenig Öffentlichkeitsarbeit betrieben und viel zu spät auf Kritik reagiert zu haben.
Das Narrativ zur Migration dürfe ausschließlich positiv sein, hieß es
In den Unterlagen zeigt sich auch, welche Zugeständnisse die EU-Staaten offenbar gemacht haben. So hätten einige Länder gefordert, „das Narrativ zu Migration müsse neu definiert werden und dürfe ausschließlich positiv sein: Medienunternehmen, die negativ berichten, müsse etwaige öffentliche Förderung entzogen werden“, heißt es im Delegationsbericht zur vierten Runde in New York im Mai 2018.
Tatsächlich scheinen die Zielländer derartigen Wünschen entgegengekommen zu sein. So heißt es in der verabschiedeten Textfassung: „Migration war schon immer Teil der Menschheitsgeschichte, und wir erkennen an, dass sie in unserer globalisierten Welt eine Quelle des Wohlstands, der Innovation und der nachhaltigen Entwicklung darstellt.“ In der Ursprungsfassung („zero draft“) war diese Aussage zunächst nur in abgeschwächter Form lediglich als eine Möglichkeit wiedergegeben worden („darstellen kann“).
Die Regierung verweigerte Details zu Kompromissen
Im Abkommen verpflichten sich die Staaten zudem, eine „unabhängige, objektive und hochwertige Berichterstattung“ über Migration zu fördern. Medien dagegen, „die systematisch Intoleranz, Fremdenfeindlichkeit, Rassismus und andere Formen der Diskriminierung gegenüber Migranten fördern“, solle die staatliche Finanzierung gekappt werden. Kritiker hatten darin einen Eingriff in die Pressefreiheit gesehen; außerdem wurde befürchtet, die Regelung könne staatliche Zensurmaßnahmen legitimieren.
Offiziell wollte die Bundesregierung nichts über Details zu den eingegangenen Kompromissen bekannt geben: „Zahlreiche Elemente, die im deutschen Interesse sind, konnten dabei umgesetzt werden, dafür gab es an anderer Stelle Zugeständnisse“, hatte das Auswärtige Amt im November pauschal erklärt. Nähere Informationen dazu würden gegenüber Medienvertretern ausschließlich vertraulich und nur „im Hintergrund“ erfolgen, hieß es weiter. Darauf hat der Tagesspiegel verzichtet, da eine öffentliche Berichterstattung nach diesen Maßgaben ausgeschlossen wird. Das AA greift bei Antworten auf Presse-Anfragen regelmäßig auf diese Praxis zurück und macht behördlich so bezeichnete „Verwendungsvorgaben“ für erteilte Informationen. Auch offizielle Auskünfte zu Details der Delegationsberichte wurden damals verweigert.
Delegierte ziehen trotz allem eine positive Bilanz
In der jetzt nach dem IFG herausgegeben diplomatischen Korrespondenz ziehen die Delegierten trotz der Konflikte in der Schlussphase nach den sechs Verhandlungsrunden eine positive Bilanz. „Insgesamt haben wir alle unsere Forderungen im Text verankern können, wenn auch nicht in allen Fällen in der gewünschten Intensität. Der Text sei weiterhin „ausdrücklich nicht rechtlich, aber politisch bindend“.
Eine Verbesserung sei dabei auch die erreichte „Selbstverpflichtung, eigene Staatsangehörige ordnungsgemäß und unkonditioniert rückzuübernehmen“. Der Forderung nach einer Gleichbehandlung regulärer und irregulärer Migranten „konnten wir uns erfolgreich entgegenstellen.“
Das Außenministerium teilt mit, dass in New York erste Konsultationen zur Weiterverfolgung und Überprüfung des Migrationspakts begonnen hätten. Nach wie vor seien „zahlreichen Desinformationen“ zum Vertragswerk im Umlauf. „Neue Kampagnen sieht das Auswärtige Amt nicht“.
32 Seiten Korrespondenz: Die internen Protokolle zum Migrationspakt können Sie hier als PDF herunterladen.