Covid-19 im Jemen: „Wie ein tödlicher Wüstensturm“
Tankred Stöbe von Ärzte ohne Grenzen über Jemens Pandemie-Drama, die Kriegsopfer und den täglichen Kampf um Menschenleben.
Tankred Stöbe ist Intensivmediziner in Berlin. Seit Jahren hilft er in Krisen- und Konfliktregionen. Von 2007 bis 2015 war er Präsident der deutschen Sektion von „Ärzte ohne Grenzen“.
Herr Stöbe, Sie haben vor Kurzem als Intensivmediziner mehrere Wochen lang in einer jemenitischen Klinik geholfen. Wie muss man sich den Arbeitsalltag dort vorstellen?
Einerseits dramatisch, denn im Traumazentrum in der Stadt Aden, betrieben von Ärzte ohne Grenzen, behandeln wir täglich Dutzende schwerstverletzte Kriegsopfer. Andererseits versucht das Team mit eindrucksvoller Routine, so etwas wie Normalität im Chaos der Gewalt herzustellen.
Dazu gehört in erster Linie, die Menschen wieder gesund zu machen. Einfach ist das nicht. Es gibt immer wieder Bombenexplosionen und schwere Verkehrsunfälle mit vielen Opfern, die ins Krankenhaus eingeliefert werden.
Und dann?
Bemühen sich die Mitarbeiter, trotz des Kriegselends den Menschen zu helfen. Allein 40 Prozent der Patienten kommen mit Schussverletzungen. Andere sind im Straßenverkehr verunglückt. Manche Knochenbrüche gleichen Trümmerfeldern, bei denen ich mir überhaupt nicht vorstellen konnte, dass sie je wieder verheilen können. Aber wenn es die Verletzten ins Traumazentrum schaffen, dann sind die Chancen auf Genesung gut. Neben all dem Schrecklichen gibt es immer wieder auch Gutes. Nur: Der Krieg nimmt kein Ende.
Das heißt?
Im Jemen wird nach wie vor geschossen und gebombt. Zehntausende sind bereits ums Leben gekommen. Millionen wurden vertrieben. Die internationale Unterstützung für diesen Krieg muss sofort enden. Es muss endlich Friedensverhandlungen geben. Dass die Welt diesen Konflikt vergisst und dem Sterben tatenlos zuschaut, ist eine unfassbare Tragik.
Jemens Katastrophe wird jetzt auch noch durch Covid-19 verschärft. Wie hart trifft die Pandemie das bitterarme arabische Land?
Vielleicht kann ein Beispiel die desolate Lage veranschaulichen. Eine Frau namens Samar hatte sich mit dem Coronavirus infiziert. Die 30-Jährige bekam hohes Fieber, Husten, litt unter Atemnot. Es war klar, dass sie in ein Krankhaus musste.
Doch drei Kliniken wiesen sie ab, weil nirgendwo Corona-Patienten akzeptiert wurden. Letztendlich wurde die Jemenitin doch noch in der einzigen Covid-19 Klinik behandelt. Bei der Einlieferung lag ihre Sauerstoffsättigung bei nur 36 Prozent, normal müssten es mehr als 90 Prozent sein.
Das klingt dramatisch.
Die Situation war extrem kritisch. Fünf Wochen verbrachte sie beatmet im künstlichen Koma. Am Ende hat Samar überlebt, aber nur mit viel Glück. Der Jemen war auf das Virus überhaupt nicht vorbereitet. Es fegte wie ein tödlicher Wüstensturm durch das Land.
Es gibt kaum eine Familie, die nicht von der Pandemie betroffen ist. Die offiziellen Zahlen geben das nicht wieder, weil kaum getestet wurde. Die allermeisten Patienten sind ohne gezählt, diagnostiziert oder behandelt zu werden in ihren Häusern erstickt.
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Warum bleiben die Menschen zu Hause, obwohl sie schwer krank sind?
Das hat mehrere Gründe. Wer an Corona erkrankt, wird stigmatisiert. Die Angst vor dem Virus ist groß. Und die Menschen sind schlecht informiert. Aber zur Wahrheit gehört auch: Wohin sollen sich die Infizierten wenden?
Es gibt aufgrund des Krieges so gut wie keine Behandlungskapazitäten. Ärzte ohne Grenzen hat deshalb eine Covid-19-Klinik aufgebaut, deren 40 Betten waren sofort belegt. Die Sterblichkeit war sehr hoch, weil die Patienten zu spät kamen. Durchschnittlich betrug die Liegedauer fünf Tage – aber nicht, weil die Menschen danach genesen waren, sondern weil sie gestorben sind.
Wir hatten anfangs nicht einmal Sauerstoff, mussten die einzelnen Flaschen durch eine vom Krieg heimgesuchte Stadt transportieren. Es fehlt zudem an Schutzausrüstung, Pflegern und Ärzten. Derartige Zustände können wir uns in Deutschland kaum vorstellen.
An das Einhalten von Hygiene- und Abstandsregeln ist nicht zu denken, oder?
Die können in einem Land wie dem Jemen kaum eingehalten werden. Die Familien sind groß, die Menschen leben auf engem Raum und essen zusammen. Und es gibt kein Wasser, Händewaschen ist also eine Illusion. Aber wir dürfen auch nicht außer Acht lassen, dass die tödliche Bedrohung durch den Krieg für die Leute viel greifbarer ist als ein unsichtbares, wenngleich ebenfalls tödliches Virus.
In Deutschland konnten sich Bürger, Behörden und Krankenhäuser auf die Pandemie vorbereiten. All das war im Jemen nicht möglich. Das Virus ist ungebremst in die Gesellschaft hineingerast und hat eine tödliche Spur hinterlassen. Wer im Jemen an Covid-19 erkrankt, hat weltweit wohl die schlechtesten Überlebenschancen. (Das Gespräch führte Christian Böhme telefonisch.)
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