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Thomas Kirstein ist der Pressesprecher der Berliner Feuerwehr. Er war auch am 19. Dezember 2016 im Einsatz.
© Doris Spiekermann-Klaas

Berliner Breitscheidplatz: Wie ein Feuerwehrmann den Anschlag erlebte

Er hat 25 Jahre Erfahrung in diesem Beruf. Doch was Thomas Kirstein am Breitscheidplatz erlebte, veränderte ihn. Ein Rückblick auf den Tag, als alles still lag.

Thomas Kirstein ist bereits mehr als 26 Stunden auf den Beinen, als er endlich seine Haustüre aufschließt. Doch schlafen kann er nicht.

Es ist der Morgen nach dem 19. Dezember 2016. Der Morgen nachdem ein LKW in den Weihnachtsmarkt auf dem Berliner Breitscheidplatz gefahren ist. Der Morgen nachdem zwölf Menschen jäh aus dem Leben gerissen und weitere 70 teils schwer verletzt worden sind.

Alle paar Minuten ploppen Nachrichten auf Kirsteins Mobiltelefon auf. Geht's dir gut? Wir haben dich im Fernsehen gesehen! Pass auf dich auf. Wie war der Einsatz — melde dich! Normalerweise hilft es dem Feuerwehrmann, über seine Einsätze zu reden. Zu erzählen, was passiert ist. An diesem Tag nicht.

Ein paar Stunden später schaltet Kirstein den Fernseher ein: Gedenkgottesdienst in der Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Kirche, der erste von vielen. Draußen ist es schon wieder dunkel und Kirsten immer noch wach. Als sich die Sängerin Jocelyn B. Smith an den Flügel setzt und mit ihrer warmen Stimme die Leere füllt, bricht er zusammen und weint.

„Massenanfall von Verletzten am Breitscheidplatz. Alle Fahrzeuge raus.“

Montagabend, 19. Dezember 2016 gegen 19 Uhr. Brandoberrat Thomas Kirstein, der von allen nur „Kirsche“ genannt wird, hatte einen ruhigen Tag in der Feuerwache Urban, Direktion Süd. „Es war nicht viel los, wir sind nicht mal rausgefahren“, erzählt der 41-Jährige. Kirstein ist ein schnörkelloser Typ — kurze dunkle Haare, kräftiger Händedruck, Berliner Schnauze. Die Tagschicht lag hinter, die Nacht noch vor ihm.

Kurz nach acht Uhr am Abend drang die Alarmdurchsage durch alle Berliner Feuerwachen: „Achtung: Massenanfall von Verletzten am Breitscheidplatz. Alle Fahrzeuge raus.“ So etwas war noch nie vorgefallen.

Kirstein kennt sich aus in der Gegend. Das frühere Society unter dem heutigen Bikini war seine Stammdiskothek. Daneben der Irish Pub und der Altberliner Biersalon — vielleicht eine Messerstecherei? Ungewöhnlich für einen Montag. Auf der Fahrt hört er, wie der erste Einsatzleiter am Breitscheidplatz in den Funk ruft: „Mehrere Tote, mehrere Schwerverletzte, schickt alles, was ihr könnt.“

Vor Thomas Kirsteins Augen werden Bilder der Paris-Attentate wach: Er sieht Täter mit Gewehren über den Platz rennen, womöglich an mehreren Orten gleichzeitig, und denkt: „Jetzt sind wir dran.“

Eine unwirkliche Szene

Keine 30 Minuten nach dem Alarm trifft Kirstein am Breitscheidplatz ein. Vor ihm eine unwirkliche Szene: Auf der Budapester Straße ragt ein schwarzer LKW auf die Fahrbahn, drumherum Polizei- und Rettungswagen, dahinter zertrümmerte Weihnachtsmarktbuden. Zuckendes Blaulicht und die Lichterketten der Holzhäuser erhellen das Bild. Im Hintergrund die angeleuchtete Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Kirche, Manifest der Verwundbarkeit der Stadt.

Kirstein steigt aus dem Sprinter, auf seinem Weg zum Einsatzleiter sieht er reglose Menschen unter dem LKW liegen. Er bespricht sich mit seinem Kollegen: „Machst du die Verletztenversorgung? Ich mach’ technische Rettung.“ Der Kollege organisiert die schnelle Versorgung der Verwundeten, Kirstein sorgt dafür, dass das auch möglich ist: Einfahrtschleusen freihalten, ankommende Fahrzeuge koordinieren, den Platz ausleuchten. Als Feuerwehrkräfte im höheren Dienst leiten sie den Einsatz, bis Wilfried Gräfling, der Leiter der Feuerwehr, eintrifft.

Die Einsatzkräfte mussten schnell agieren, Verletzte und Tote bergen, Stromkabel und Gasflaschen sichern.
Die Einsatzkräfte mussten schnell agieren, Verletzte und Tote bergen, Stromkabel und Gasflaschen sichern.
© REUTERS/Fabrizio Bensch

Die ersten Minuten des Einsatzes sind die kritischsten. Die Rettungskräfte, die schon vor Ort sind, reichen nicht aus, um die Lage zu bewältigen. „Man muss priorisieren. Und das sind nicht die, die schreien.“ Kirstein geht den Platz ab: Wo sind Tote, wo sind Verletzte? Die Lage ist schwer zu erfassen, die Buden und Stände sind verwüstet. Holz, Tannenzweige und immer wieder Menschen.

„Wie nach einem Erdbeben.“ Kirstein hat Angst, in dem Durcheinander jemanden zu übersehen. Er ist schon gut eine halbe Stunde vor Ort, als sie in einem Seitengang eine verletzte Frau liegen sehen. „Wir dürfen hier keinen übersehen. Wir gehen hier mehrmals durch.“

Keiner soll alleine sein

Stille. Ruhe liegt über dem Platz. Kaum einer spricht. In den Köpfen dröhnt es, Störgeräusche. Was an Worten rauskommt, ist gedämpft von dem Eindruck der Bilder. „War es der Schock oder die Professionalität – wahrscheinlich irgendwas dazwischen.“

Kirstein muss an vieles gleichzeitig denken: Sind die dicken Stromkabel, die überall am Boden liegen, beschädigt? Was ist mit den Propanflaschen? Ist überall das Gas abgedreht? Und vor allem: Welche Gefahr geht von dem LKW aus? „Wir wussten nicht, ob es einen Zweitschlag geben würde. Wir wussten nicht, ob in dem LKW Sprengstoff ist. Heute ist nichts mehr unmöglich.“ Der Einsatzleiter bestellt Entschärfer und entscheidet: Wir machen weiter.

Kirstein bleibt die ganze Nacht. Auch als die Verletzten schon längst in Krankenhäusern versorgt werden und nur noch Tote geborgen werden können.

Nach und nach wird es leerer am Breitscheidplatz. Wer vor Ort nicht mehr gebraucht wird, fährt zur Feuerwache Moabit. Noch in der Nacht treffen sich dort alle, keiner soll alleine sein. Kollegen, die frei hatten, kommen dazu, Notfallseelsorger sind vor Ort und auch der Chef. „Dieser Zusammenhalt, unglaublich.“ Morgens um halb sechs fährt Kirstein zur Feuerwache, noch ein Telefonat mit dem Chef, dann hat er Dienstschluss.

„Ich hatte echt zu knabbern.“ Er holt sich Hilfe, wie manche seiner Kollegen. Er spricht mit der Einsatznachsorge. Und mit Gott. Gott antwortet nicht. Aber er gibt ihm Kraft, ohne dass er spricht.

"Wir kriegen das hin."

Der Jahrestag tut weh. Mit jedem Tag, den er näher rückt, kriechen auch die Bilder langsam wieder ins Bewusstsein. Als Feuerwehrmann sieht Kirstein vieles, was anderen erspart bleibt. Aber das, was am Breitscheidplatz geschah — die Ursache beschäftigt ihn. „Da wollte jemand so viele wie möglich so schwer wie möglich verletzen. Egal wer's war. Das ist etwas völlig anderes.“ Kirstein weiß, dass man sich auf solche extremen Fälle kaum vorbereiten kann. Ans Aufhören denkt er nicht. „Ich bin Feuerwehrmann, das ist mein Beruf. Und das möchte ich auch immer weitermachen. Wir kriegen das hin.“

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