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Regimegegner müssen ihre Haft oft weit von ihrem Heimatort antreten.
© Tolga Bozoglu, dpa

Weite Wege: Wie die Türkei Angehörige von Regimegegnern schikaniert

Politische Gegner werden möglichst weit ihren Heimatorten inhaftiert, um die Besuche von Angehörigen zu erschweren.

Selahattin Demirtas wartete in seiner Zelle umsonst auf seine Eltern: Unterwegs zum Besuchstermin im Gefängnis von Edirne verunglückten die Angehörigen des inhaftierten Kurdenpolitikers in diesem Monat auf der Autobahn. Die betagten Eltern, eine Schwester und mehrere weitere Angehörige wurden ins Krankenhaus eingeliefert, während Demirtas hilflos in seiner Zelle saß und sich vor „Wut und Trauer“ verzehrte, wie seine Ehefrau sagte.

Das Unglück beleuchtet die grausame Praxis der türkischen Behörden, ihre politischen Gegner möglichst weit entfernt von ihren Heimatorten zu inhaftieren, um Besuche ihrer Angehörigen zu erschweren. Immer wieder verunglücken Eltern, Kinder oder Eheleute von Gefangenen auf der Fahrt zu Besuchsterminen, manche tödlich – doch die Regierung lässt sich vom Flehen der Familien nicht erweichen.

Die Familie Demirtas hatte noch Glück im Unglück – zumindest überlebten alle Insassen ihres Kleinbusses den Unfall, nachdem ein Reifen geplatzt war. Nicht alle Familien von politisch Inhaftierten kommen mit dem Leben davon. Der junge Lehrer Burak Aydin verlor im vergangenen Jahr seine Mutter, seinen Bruder, die Schwägerin und den achtjährigen Neffen, als diese auf dem Rückweg von einem Besuchstermin verunglückten. Der 27-jährige Aydin sitzt wegen des Vorwurfs von Verbindungen zur Bewegung von Fethullah Gülen, dem ehemaligen Verbündeten von Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan, im Gefängnis – und zwar im südostanatolischen Mardin, rund 750 Kilometer weit von seiner Heimat am Schwarzen Meer.

Verunglückt auf dem Weg zum Besuchstermin

Vergeblich flehte auch der Lehrer Evren Civelek immer wieder die Behörden an, ihn in ein anderes Gefängnis zu verlegen, um seiner Frau und den kleinen Kindern die 350 Kilometer weite Anreise von Düzce ins zentralanatolische Keskin zu ersparen. Drei Eingaben reichte er 2018 bei der Staatsanwaltschaft ein; alle wurden abgeschmettert. Seine Familie verunglückte wenig später auf dem Weg zum Besuchstermin: Civeleks Mutter, seine beiden kleinen Töchter und sein Schwiegervater starben, seine Frau wurde schwer verletzt. Im Gefängnis, wo ihr Mann noch 25 Jahre bleiben soll, verliere er nun den Verstand, sagt seine Frau, die seit dem Unfall behindert ist.

Den Kurdenpolitiker Demirtas halten die türkischen Behörden besonders weit von seiner Familie eingesperrt – in Edirne an der bulgarischen Grenze, mehr als 1500 Kilometer weit entfernt von seiner Heimatstadt Diyarbakir. Seine Ehefrau Basak Demirtas steht an Besuchstagen vor Morgengrauen auf, fliegt quer durchs Land von Diyarbakir nach Istanbul und muss von dort aus noch 250 Kilometer mit dem Auto fahren. Anschließend hetzt sie zurück, um den letzten Rückflug zu erreichen und um Mitternacht wieder bei den Kindern in Diyarbakir zu sein. 3000 Kilometer am Tag, einmal die Woche, seit drei Jahren. Und alles, obwohl Demirtas nach einem Urteil des Europäischen Menschenrechtsgerichtshofes überhaupt nicht hinter Gittern sein sollte.

In der Türkei sitzen fast 50000 Menschen wegen politischer Vorwürfe im Gefängnis. „Viele betagte Mütter und Väter haben ihre Kinder seit Jahren nicht mehr sehen können“, schrieb Basak Demirtas nach dem Unfall auf Twitter. „Ich rufe Politik und Öffentlichkeit auf, diese Folter zu beenden.“

Susanne Güsten

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