Türkische Regierungsgegner Altan und Ilicak: Die Freude über die Freilassung könnte zu früh kommen
In der türkischen Führung gibt es Streit über die juristische Aufarbeitung des Putschversuchs von 2016. Das beeinflusst Prozesse gegen Regierungskritiker.
Nach mehr als drei Jahren im Gefängnis genießen die Journalisten Ahmet Altan und Nazli Ilicak ihre ersten Tage in Freiheit. Ein Gericht in Istanbul hatte die beiden prominenten Gegner von Präsident Recep Tayyip Erdogan am Montag zwar zu hohen Haftstrafen verurteilt, die lange Untersuchungshaft jedoch angerechnet und die Freilassung angeordnet.
Selbst die Vereinten Nationen freuten sich. Er sei froh, dass Altan die Haftanstalt in Silivri bei Istanbul verlassen habe, kommentierte David Jaye, UN-Sonderberichterstatter für die Meinungsfreiheit. „Natürlich hätte er nie eingesperrt werden dürfen“, fügte Jaye hinzu.
Die Erleichterung ist möglicherweise verfrüht. Altan und Ilicak könnten erneut festgenommen werden, zumal Fälle wie ihrer zum Teil eines internen Streits in der Regierung in Ankara mit ungewissem Ausgang geworden sind.
Abrechnung mit der türkischen Justiz
Absurde Vorwürfe der Staatsanwaltschaft haben dem 69-jährigen Altan und der 74-jährigen Ilicak mehr als drei Jahre ihres Lebens geraubt. Die beiden sollen zusammen mit Altans Bruder Mehmet wenige Tage vor dem Putschversuch gegen Erdogan von 2016 in einer Fernsehsendung „unterschwellige“ Botschaften an die Putschisten geschickt haben. Beweise dafür legte die Anklage nicht vor.
Zudem wurde Altan ein Artikel zur Last gelegt, in dem er das Ende von Erdogans Regierung voraussagte. Damit habe Altan einen Staatsstreich angedeutet, argumentierte die Staatsanwaltschaft. Offenbar könne sich die Anklage nicht vorstellen, dass Erdogan abgewählt werden könne, konterte Altan in seiner Verteidigungsrede kurz vor der Freilassungsentscheidung.
Bei seinem Auftritt vor Gericht rechnete Altan mit der türkischen Justiz ab. „Sie können mich so lange einsperren, wie Sie wollen, aber das macht mir keine Angst“, sagte er dem Richter. „Wenn die Regierung mich mit diesen Begründungen hinter Gittern hält, dann fällt das auf jene zurück, die mich einsperren.“
Altan, ein angesehener Romanautor, Kolumnist und ehemaliger Chefredakteur einer investigativen Tageszeitung, war im vergangenen Monat mit dem Geschwister-Scholl-Preis des Landesverbands Bayern im Börsenverein des Deutschen Buchhandels ausgezeichnet worden. Er wird die Auszeichnung bei der Preisverleihung am 25. November jedoch nicht persönlich entgegen nehmen können, weil er trotz Freilassung mit einem Ausreiseverbot belegt wurde.
Anders als bei Altans Bruder Mehmet, der freigesprochen wurde, stehen bei Ahmet Altan und Ilicak noch Urteile von Berufungsgerichten über die Freilassung an, wie der Journalist Gökcer Tahincioglu auf der Nachrichtenplattform T24 schrieb. Sie kamen frei, obwohl Altan zu mehr als zehn Jahren und Ilicak zu fast neun Jahren Haft verurteilt wurde. Ob die Entscheidung Bestand haben werde, sei noch unsicher, schrieb Tahincioglu.
Endet die Hexenjagd?
Bei der Freilassung dürfte es politische Überlegungen gegeben haben; die türkische Justiz ist in den vergangenen Jahren größtenteils auf Regierungslinie gebracht worden.
Ankara habe wegen der Prominenz von Altan und Ilicak unter großem Druck gestanden, sagte Kristian Brakel, Leiter der Türkei-Vertretung der Heinrich-Böll-Stiftung, dem Tagesspiegel in Istanbul.
Möglicherweise ist die Freilassung ein Signal, dass Ankara die Ära der Hexenjagd nach dem Putschversuch hinter sich lassen will. Immer noch sitzen zehntausende Menschen in Haft, weil sie angeblich Verbindungen zur Bewegung des islamischen Predigers und mutmaßlichen Putschführers Fethullah Gülen gehabt haben sollen. Oft genügte eine Denunziation oder ein Konto bei einer Gülen-Bank zur Verurteilung.
Der Umgang mit den Massenverhaftungen und der Entlassung von mehr als hunderttausend Staatsbeamten seit dem Putsch ist in der Regierung umstritten. Bülent Arinc, ehemaliger Parlamentspräsident und heutiges Mitglied eines Beratergremiums im Präsidialamt von Ankara, hatte in jüngster Zeit beklagt, er schäme sich, wenn eine ehemalige hohe Beamtin heute als Putzfrau arbeiten müsse. Die Hälfte seines Gehalts als Erdogan-Berater wolle er Opfern der Verfolgungswelle spenden, sagte Arinc in einem Interview. Dass die Regierung mit Präsidialerlassen mutmaßliche Gegner aus dem Staatsapparat gejagt habe, sei ein Fehler gewesen.
Arinc wird innerhalb der Regierungspartei wegen seiner Haltung scharf kritisiert, und auch Erdogan sagte, er habe die Äußerungen seines Beraters „mit Bedauern“ registriert. Darüber werde jetzt intern gesprochen. Die AKP hat seit dem Putschversuch einen Opfer- und Täter-Mythos aufgebaut, der eine Aufarbeitung von Missständen wie denen im Prozess gegen Altan und Ilicik schwierig macht.
Susanne Güsten