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Ein Beamter der Bundespolizei steht am Grenzübergang vom französischen Petite-Rossell ins saarländischen Grossrosseln.
© dpa/Oliver Dietze

Widersprüchlicher Umgang mit dem Virus: Wie die EU in der Coronakrise versagt

Statt gemeinsam agieren die EU-Staaten im Umgang mit dem Coronavirus einzeln und ohne Koordination. Experten warnen vor möglicherweise fatalen Folgen.

Die Corona-Pandemie betrifft inzwischen alle europäischen Länder schwer. Doch statt gemeinsam zu verhindern, dass das Virus sich weiter ausbreitet, sowie gemeinsam zu koordinieren, wie Erkrankte bestmöglich versorgt werden können, werkelt jeder Staat vor allem an eigenen Lösungen. Die beinhalten Exportverbote, Grenzschließungen sowie mitunter Maßnahmen, die sich widersprechen.

Grund dafür ist auch die Konstruktion der EU. Die umfasst zwar einen gemeinsamen Binnenmarkt, doch wenn es um Gesundheitspolitik geht, hat die Union kein Mitspracherecht. Laut den EU-Verträgen entscheiden hier fast ausschließlich die Mitgliedsstaaten. Und das in den vergangenen Wochen sehr unterschiedlich.

Etwa wenn es darum geht, medizinischen Vorräte aufzustocken oder gar zu teilen, Bürger auf das Coronavirus zu testen oder festzulegen, wie dessen Ausbreitung verhindert werden soll, per Isolierung oder durch die Infizierung eines bestimmten Bevölkerungsanteils.

Grenzen schließen? Die Epidemie-Agentur findet das falsch

Das isolierte Handeln europäischer Staaten beginnt bereits an ihren Grenzen. Die haben inzwischen viele Länder geschlossen. Das sei eine falsche Entscheidung, teilt die Epidemie-Agentur der EU, das Europäische Zentrum für die Prävention und die Kontrolle von Krankheiten (ECDC) auf Nachfrage dem Journalistenteam „Investigate Europe“ mit: „Die verfügbaren Beweise unterstützen nicht die Empfehlung von Grenzschließungen, die erhebliche Nebenwirkungen verursachen werden sowie soziale und wirtschaftliche Störungen in der EU.“

Stattdessen sei „Zusammenarbeit der Schlüssel zu allen grenzüberschreitenden Gesundheitsbedrohungen, einschließlich Covid-19“. Eine Sichtweise, die Forscher auch andernorts unterstützen.

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„Man muss versuchen, so einheitlich wie möglich zu handeln, um einer Epidemie in Europa entgegnen zu können“, sagt der ehemalige Direktor des niederländischen Zentrums für die Kontrolle von Infektionskrankheiten, Roel Coutinho, dem niederländischen Sender NOS. Doch statt einer gemeinsamen Linie, habe nun jedes Land seine eigene Politik und die sei laut Coutinho mitunter verwirrend.

Das wird vor allem an drei Punkten deutlich: wie Europas Staaten ihre Bevölkerung testen, wie sie Gesunde und Infizierte voneinander trennen und wie sie medizinische Ausrüstung beschaffen. Bei allem handelt auch die Europäische Union kaum oder zu spät – aufgrund eines Konstruktionsfehlers oder einer unglücklichen Einschätzung der Lage.

I. Wen die EU-Staaten testen

Ob in Norditalien, Süddeutschland oder Westfrankreich überall mangelt es an Kapazitäten, um flächendeckend zu testen. So muss jeder Staat beschränken, wen er testet und wen nicht. Die Kriterien dafür unterscheiden sich massiv. Vergleichbare Daten sind so kaum zu bekommen. In Italien werden nur Menschen überprüft, die Symptome einer Lungenentzündung zeigen oder Kontakt mit bestätigten infizierten Fällen hatten.

In Deutschland oder Portugal werden meist nur jene getestet, die Covid-19-Symptome haben und mit einer infizierten Person Kontakt hatten oder aus einem Risikogebiet zurückgekehrt sind. Frankreich und die Niederlande testen vor allem Personen mit schweren Symptomen, Griechenland vor allem ältere Menschen. WHO-Direktor Adhanom nennt das „Brandbekämpfung mit verbundenen Augen“.

Das Ergebnis sind im Endeffekt Daten, die über Grenzen hinweg kaum vergleichbar sind. Die könnten dabei helfen, infizierte und gesunde Menschen voneinander fernzuhalten. Doch was, wenn nicht klar ist, wer das Virus in sich trägt und wer nicht?

II. Gesellschaft isolieren oder infizieren

In den vergangenen Wochen wurde das öffentliche Leben in vielen Teilen Europas weitgehend heruntergefahren – doch nicht überall.

Am vergangenen Montag richtete sich der niederländische Premier Mark Rutte an seine Nation. Es habe absolute Priorität, die Risiken für besonders gefährdete Menschen zu minimieren, sagte er. Deshalb sollten sich Menschen selbst isolieren, Bars wurden geschlossen, ebenso Fitnessstudios sowie Restaurants, auch Schulunterricht findet bis auf Weiteres keiner statt.

Doch gewollter Nebeneffekt sei es „zugleich kontrollierte Herdenimmunität aufzubauen“, sagte Rutte. Dabei sollen sich eine bestimmte Zahl von Menschen infizieren, um sich, so die Hoffnung, zu immunisieren.

Später allerdings betonte er, die Strategie der Niederlanden sei missverstanden worden und verwies auf zahlreiche Schutzmaßnahmen. Trotzdem waren die Regeln im Nachbarland bisher vergleichsweise locker. Die Regierung wollte eine Sperre des öffentlichen Lebens möglichst lange vermeiden. Erst am gestrigen Montagabend beschloss sie dann doch, Treffen in der Öffentlichkeit von mehr als drei Personen zu verbieten. Geschäfte dürfen aber weiterhin geöffnet bleiben, in Fabriken wird gearbeitet.

Am lautstärksten überlegte die britische Regierung, mit „Herdenimmunität“ zu experimentieren. Vor solchen Experimenten warnt die WHO. Oberste Priorität solle es haben, Menschen zu testen und Infizierte zu isolieren.

III. Medizinische Ausrüstung horten oder teilen

Widersprüchlich ist auch, wie die EU-Staaten ihre medizinische Ausrüstung verwalten. So mangelt es einigen Ländern an Reinigungsmitteln, Handschuhen, Schutzmasken oder Beatmungsgeräten.

Auf einer polnischen Auktionsplattform wurden Masken für bis zu 100 Euro gehandelt, bis die Regierung das Geschäft verbot. Da ein Engpass droht, haben nun an mehreren Orten im Land sogar Privatpersonen begonnen, Masken zu nähen. Statt auf Heimarbeit zu setzen, ordern einige Staaten ihre Masken weiter aus China, andere lassen sie im eigenen Land fertigen.

In Frankreich hat der Staat alle Masken beschlagnahmt. Laut Gesundheitsminister Olivier Véran verfüge das Land derzeit über 100 Millionen Masken. Doch weil selbst die in wenigen Wochen nicht reichen könnten, produzieren nun französische Unternehmen.

Auch in Deutschland stellen nun Firmen Masken her, die freie Kapazitäten haben. Ein Thüringer Matratzenhersteller will 400.000 Masken fertigen, in Baden-Württemberg plant ein Bekleidungsunternehmen, 100.000 Atemschutzstücke pro Woche herzustellen.

Wie unterschiedlich und isoliert die EU-Staaten agieren, wurde bereits Anfang März deutlich. In Italien hatte sich das Coronavirus bereits begonnen, rasant zu verbreiten, da bat die italienische Regierung die EU darum, das EU-Katastrophenschutzverfahren zu aktivieren. Das ermächtigt die EU-Kommission grenzüberschreitende Unterstützung in Krisenfällen zu organisieren. „Aber bedauerlicherweise antwortete nicht ein einziger EU-Mitgliedsstaat“, schrieb Italiens EU-Botschafter, Maurizio Massari, wenige Tage später in einem Gastbeitrag im Magazin „Politico“.

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Im Gegenteil: Deutschland verhängte kurz darauf einen Exportbann für medizinische Schutzausrüstung. Selbst Privatpersonen, die versuchten nur wenige Schutzmasken per Paket in die norditalienischen Krisengebiete zu schicken, bekamen etwa auf der Seite des Logistik-Konzerns DHL eine Warnung angezeigt. Die „Ausfuhr und Verbringung bestimmter medizinischer Schutzkleidung aus Deutschland“ sei untersagt, hieß es da.

Die EU-Kommission kritisierte kurz darauf die Bundesregierung. Denn eine solche Anordnung widerspricht den Gesetzen des Binnenmarkts. Ende vergangener Woche wurde das Embargo aufgehoben – auf der Seite der DHL allerdings wurde der Hinweis nur mit Verzögerung entfernt.

Nach Recherchen von „Investigate Europe“ gibt es in fast allen europäischen Staaten noch ausreichend Beatmungsgeräte. Nur in Spanien und Italien fehlt es bereits an Ausrüstung. Doch die Staaten gehen eigene Wege, wenn es darum geht, zusätzliche Technik zu schaffen.

Mitunter müssen nun Privatunternehmen entscheiden, welcher Staat wann neue Beatmungsgeräte bekommt. Eines davon ist das Lübecker Familienunternehmen Dräger. Dort hat die Bundesregierung kürzlich 10.000 Geräte bestellt. Doch sie ist nicht die einzige. Aufträge gibt es auch aus anderen Ländern. Nun muss eine firmeneigene Task Force entscheiden, in welcher Abfolge die Aufträge abgearbeitet werden.

Die abwesende EU

Am 8. März verkündete Italiens Premier Giuseppe Conte in Rom einen historischen Einschnitt. Erstmals in der europäischen Nachkriegsgeschichte sollte eine gesamte Region, der Norden Italiens, abgeschottet werden.

Wenige Stunden später trat im 1000 Kilometer entfernten Brüssel EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen vor die Presse. Aber über das Virus sprach sie kaum, stattdessen attestierte sie ihrer Kommission in deren ersten 100 Amtstagen herausragende Arbeit geleistet zu haben. Später wird von der Leyen der „Bild“-Zeitung sagen: „Ich glaube, wir alle, die wir keine Experten sind, haben das Virus zunächst unterschätzt.“

Doch wie gefährlich die Pandemie werden könnte, hätte von der Leyen da bereits wissen können. Denn schon im Januar hatte das Europäische Zentrum für die Prävention und die Kontrolle von Krankheiten (ECDC) begonnen, mit den italienischen Behörden zusammenzuarbeiten. Die EU-Agentur für Infektionskrankheiten hatte sechs Risikobewertungen für das Coronavirus vorgelegt. Aber kaum einer beachtete die Berichte, deren Empfehlungen nicht bindend sind.

Geschlossen. Viele europäische Staaten - hier ein Foto von der tschechisch-polnischen Grenze - setzen auf Abschottung.
Geschlossen. Viele europäische Staaten - hier ein Foto von der tschechisch-polnischen Grenze - setzen auf Abschottung.
© Radek Petrášek/CTK/dpa

Dabei hatte die Europäische Union das ECDC einst geschaffen, um nationale Regierungen bei Gesundheitsfragen zu beraten. Ziel des Zentrums sei es Staaten „durch die Bereitstellung von Daten, Beratung und Risikoanalysen zu Krankheiten und Epidemien“ zu unterstützen, sagt Kommissionssprecher Massimo Gaudina. „Bei den spezifischen Problemen des Coronavirus wurde es sofort aktiviert.“

Doch nicht nur hier blieb die EU machtlos. Denn die Mitgliedsstaaten ignorierten weitere Empfehlungen. So sagte Kommissionssprecher Eric Mamer vergangenen Montag vor einem fast leeren Presseraum: „Wir empfehlen, Schengen nicht zu schließen, da die Ansteckung jetzt in allen Ländern stattfindet, so dass eine Schließung der Grenzen sinnlos ist.“ Doch bis zum späten Nachmittag des Tages hatten bereits zwölf Staaten ihre Grenzen geschlossen, darunter Spanien, Frankreich, Österreich, Ungarn sowie Deutschland.

Am Donnerstag unternahm die Europäische Kommission einen weiteren Versuch, den Mitgliedsstaaten zu helfen – mit einem EU-Katastrophenschutzverfahren. Dabei handelt es sich um einen Dringlichkeitsmechanismus, um medizinische Ausrüstung zu erwerben, zu lagern und zu verteilen.

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Die Kommission ruft dabei Unternehmen direkt an und versucht, Vereinbarungen auszuhandeln. Erste Verträge für Schutzmasken und medizinische Ausrüstung sollen dann Ende März unterzeichnet werden. Wenn dieser erste Schritt auf EU-Ebene getan ist, werden in Deutschland Schulen und Kitas bereits 14 Tage lang geschlossen sein und Menschen seit einer Woche fast in vollkommener Isolation leben, und in besonders stark betroffenen Ländern wie Italien werden weiterhin täglich hunderte Menschen gestorben sein.

[Redaktioneller Hinweis: „Investigate Europe“ ist ein Journalistenteam aus neun Ländern, das gemeinsam Themen von europäischer Relevanz recherchiert und die Ergebnisse europaweit veröffentlicht.
Das Projekt wird von der Schöpflin-Stiftung, der Rudolf-Augstein-Stiftung, der Hübner & Kennedy-Stiftung, der norwegischen Fritt-Ord-Stiftung, der Open Society Initiative for Europe, der portugiesischen Gulbenkian Foundation, der italienischen Cariplo-Stiftung und privaten Spendern unterstützt. Außer den Autoren tragen Wojciech Ciesla, Thodoris Chondogiannos (Reporters United Greece), Daphne Dupont-Nivet (Investico), Ingeborg Eliassen, Juliet Ferguson, Maria Maggiore, Leila Minano, Elisa Simantke und Harald Schumann zu den Corona-Recherchen von Investigate Europe bei.]

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