„Seid ihr denn des Wahnsinns?“: Wie die AfD – fast – ihren Parteichef beschädigte
Nach seiner Wutrede entbrannte ein erbitterter Streit um Parteichef Meuthen. Seine Anhänger setzten sich nur knapp durch. Was bedeutet das für die AfD?
Es ist der Versuch, den Showdown doch noch zu verhindern. „Seid ihr denn des Wahnsinns, eine Debatte über den Parteivorsitzenden zu beginnen?“, ruft der AfD-Politiker Norbert Kleinwächter seinen Parteikollegen zu. Doch ihm schallen Buh-Rufe entgegen. Viele hier im Saal wollen genau das: eine Debatte über AfD-Chef Jörg Meuthen und sein „spalterisches Gebaren“, wie es einige nennen. Meuthen sitzt an diesem Sonntag vorne auf der Tribüne, die Hälfte des Gesichts hinter einer OP–Maske verborgen. Scheinbar unbewegt verfolgt er die Tumulte unter den Delegierten.
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AfD-Parteitage sind immer für eine Überraschung gut. Doch das, was sich beim elften AfD-Bundesparteitag im nordrhein-westfälischen Kalkar abspielte, ist bislang ohne Beispiel – sieht man einmal von jenem Parteitag vor fünf Jahren ab, als die AfD ihren Gründer Bernd Lucke vom Hof jagte.
Mitten in der Pandemie hielt die AfD mit gut 500 angereisten Delegierten einen Präsenzparteitag ab. Mindestabstände, Maskenpflicht am Platz, zehnminütiges Stoßlüften jede Stunde – die im Saal anwesenden Mitarbeiter des Ordnungsamtes verfolgten streng die Einhaltung der Hygieneregeln. Doch anders als von manchen erwartet und von der AfD-Spitze befürchtet, gab es kaum größere Verstöße, die einen Abbruch des Parteitages nötig gemacht hätten.
Dass die Veranstaltung schließlich dennoch aus dem Ruder lief, lag an der Rede von Parteichef Jörg Meuthen. Dieser hatte sich entschieden, den Parteitag mit einer Kampfansage gegen Pöbler, Radikale und Provokateure in den eigenen Reihen zu beginnen. Er will um jeden Preis eine Beobachtung der AfD durch den Verfassungsschutz beenden und führt diesen Kampf seit Monaten. Nun hat er die offene Konfrontation gesucht.
Was genau ist passiert?
Die AfD wollte eigentlich in Kalkar über ihren Kurs in der Sozial- und Rentenpolitik abstimmen. Schon seit Jahren streiten marktliberale und sogenannte nationalsoziale Kräfte in dieser Frage um die richtige Ausrichtung. In der Bundesprogrammkommission hatte man sich auf einen Kompromisspapier geeinigt, das auf dem Parteitag beschlossen werden sollte. Doch während Ko-Parteichef Tino Chrupalla in seiner Rede darauf einging und die AfD als Partei der arbeitenden Bevölkerung positionierte, nutzte Meuthen seinen Redebeitrag für einen Frontalangriff.
Meuthen kritisierte, dass Funktionsträger seiner Partei im Hinblick auf die Pandemie-Maßnahmen von einer „Corona-Diktatur“ sprachen. Unter anderem hatte Fraktionschef Alexander Gauland das Wort im Bundestag verwendet. Meuthen griff auch die Mitglieder der AfD-Bundestagsfraktion an, die das Infektionsschutzgesetz als „Ermächtigungsgesetz“ bezeichnet hatten und einen Schulterschluss mit der sich radikalisierenden „Querdenker“-Bewegung suchten. Die AfD werde keine Erfolge mehr erzielen, wenn sie immer aggressiver, derber und enthemmter auftrete, sagte er. Damit stellte er den Politikstil der AfD in Frage, der in den letzten Jahren immer auf Provokation, Tabubruch und Grenzüberschreitung basierte.
Wie reagierte der Parteitag?
Schon während der Rede Meuthens hagelte es Buh-Rufe. Einige Delegierte hielten die rote Stimmkarte mit dem Wort „Nein“ hoch. Im völkischen Lager von Björn Höcke gab es Wutausbrüche. Am Schluss stand ein Teil der Parteimitglieder auf, um Meuthen stehend Applaus zu spenden, während andere gar nicht klatschten. Die eigentliche Quittung bekam Meuthen aber erst am Sonntag. Als Ventil für den aufgestauten Ärger diente der Antrag „SN-3“ des extrem rechten Freiburger AfD-Politikers Dubravko Mandic, der zuletzt fast aus der Partei geworfen worden wäre. Dieser forderte, der Parteitag möge das „spalterische Gebaren“ von Meuthen und seinen Anhängern missbilligen. Dieses sei verantwortlich für den Absturz in der Wählergunst. Zuletzt kam die AfD in einer Forsa-Umfrage auf sieben Prozent.
Vielleicht wäre über diesen Antrag gar nicht verhandelt worden, aber nach Meuthens Rede brauchte es eine Aussprache. Meuthen habe der Partei schweren Schaden zugefügt, sagte AfD-Vizechef Stephan Brandner. Der AfD-Abgeordnete und Höcke-Verbündete Jürgen Pohl warf Meuthen „Arroganz“ vor und rief: „Ihre Zeit in der AfD ist vorbei!“ Und der Landesvorsitzende von Sachsen, Jörg Urban, erklärte: „Herr Meuthen, diese Diskussion spaltet unsere Partei noch weiter.“ Immer wieder brüllten Delegierte ins Mikrofon und redeten sich in Rage.
Was viele im Saal besonders aufbrachte, war, dass Meuthen über die radikalisierte „Querdenker“-Bewegung gesagt hatte, einige dort könnten nicht einmal geradeaus denken. „Meuthen hat es sich gestern mit hunderttausenden Corona-Maßnahmengegnern verdorben“, schimpfte die brandenburgische AfD-Politikerin Birgit Bessin. „Aber wir sind die, die diesen Menschen eine Stimme geben.“ Bessin gilt als Anhängerin des offiziell aufgelösten „Flügels“ in der AfD.
Meuthen-Anhänger lobten dessen Rede hingegen als „Führung“. Schließlich trat der Meuthen-Verbündete Kay Gottschalk ans Mikrofon und beantragte, von der Abstimmung abzusehen – eine Möglichkeit für Meuthen das Gesicht zu wahren. Eine knappe Mehrheit von 53 Prozent schloss sich dem an. 47 Prozent hielten dagegen. Man kann annehmen, dass das den Mehrheitsverhältnissen in der AfD entspricht.
Zerlegt die AfD sich selbst?
Von jeher kämpfen in der AfD radikale Kräfte gegen jene, die wenn auch nicht im Inhalt, dann zumindest in Auftreten und Ton gemäßigter sein wollen. Einst paktierte Parteichef Meuthen selbst mit den Radikalen. Doch in diesem Jahr hat er die Auflösung des „Flügels“ und den Rausschmiss von dessen Strippenzieher Andreas Kalbitz bewirkt. Der Streit um dieses Vorgehen hat die Partei noch tiefer gespalten und alle gezwungen eine Seite zu wählen.
Während früher der Schulterschluss zwischen vermeintlich gemäßigten und radikalen Kräften ein Erfolgsrezept der AfD gewesen sein mag, blockieren sich die beiden Strömungen jetzt gegenseitig. Im Ergebnis, das beklagen viele Funktionäre, habe die AfD immer noch nicht den Hauch einer Strategie für das Superwahljahr 2021. Und auch beim Thema Corona weiß die Partei noch immer nicht, was sie will: Beispielhaft zeigt sich das am erbitterten Streit um die Annäherung an die „Querdenker“-Bewegung auf der Straße, die zum Teil noch radikaler ist als die AfD.
Meuthens Bilanz aus diesem Parteitag ist gemischt: Er hat seine Mehrheit im Bundesvorstand ausbauen können, weil sich bei der Nachwahl der freigewordenen Posten hauchdünn die weniger radikalen Kandidaten durchsetzen konnten. Gleichzeitig weiß er, dass diese Mehrheit auf tönernen Füßen steht, weil er nur noch gut die Hälfte der Partei hinter sich hat.
Aber auch für die Radikalen in der Partei ist es kein Freudentag. Denn sie wissen, dass die Attraktivität der AfD in der Vergangenheit auch in ihren Siegen begründet lag. Die Umfragewerte zeigen, wie schwer es für die AfD werden wird, ihren Erfolg von 2017 kommendes Jahr zu wiederholen. Galionsfigur Höcke hat sich auf dem Parteitag nicht aus der Deckung gewagt. Kein einziges Mal hat er das Wort ergriffen. Sein Nimbus ist ebenfalls beschädigt. Ein Satz von Meuthen dürfte den Delegierten noch länger in den Ohren klingen: „Entweder wir kriegen hier die Kurve und zwar bald, oder wir werden als Partei in ganz schwere See geraten und gegebenenfalls scheitern.“