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Tolerante Töne. Nach dem Erfolg gibt sich Wahlsieger Ekrem Imamoglu versöhnlich.
© IOnur Gunal/AFP

Nach der Wahl in Istanbul: Wie der Sieg der Opposition die Türkei spaltet

Die Freude der Opposition über den Erfolg bei der Wahl in Istanbul ist groß. Doch Sieger Imamoglu fordert Rücksicht gegenüber den Verlierern. Das hat Gründe.

Mehmet lächelt breit über das ganze Gesicht. "Schluss mit dem Sultanat", sagt der Imbissverkäufer in der Istanbuler Innenstadt. „Die Bauern haben die Nase voll, die Normalbürger und die Kleinhändler auch.“

Der Sieg des Oppositionspolitikers Ekrem Imamoglu bei der Wiederholung der Bürgermeisterwahl am Bosporus hat einen Neubeginn eingeleitet, auf den viele Menschen in der 16-Millionen-Metropole und in der ganzen Türkei gewartet haben. Imamoglu steht für dieses Versprechen einer neuen Zeit. Doch mit Zuversicht allein ist es nicht getan – die Türkei ist nach wie vor ein tief gespaltenes Land.

„Wir wollen uns nicht mehr streiten, wir wollen unsere Träume wahrmachen“, sagt ein Wahlhelfer der Opposition, der am Wahltag die Stimmenauszählung in einem Istanbuler Wahllokal beobachtete und abends müde ins Bett fiel – und so die ausgelassenen Feiern in der Stadt verpasste.

Sie skandieren: Alles wird gut!

Hunderttausende Imamoglu-Fans tanzten auf den Straßen und fuhren mit Autokorsos durch die Straßen.

Manche schwenkten stolz Bier- und Sektflaschen: eine Stichelei gegen die islamisch-konservative Partei AKP von Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan, der viele Istanbuler in den vergangenen Jahren unter anderem mit der Verschärfung von Alkohol-Vorschriften geärgert hatte.

Eine Flasche Bier nach einem Wahlsieg ist sicher nichts Schlimmes, doch in der polarisierten türkischen Gesellschaft wird sie als Zeichen des Triumphes über den islamischen Gegner verstanden – und zwar von beiden Seiten. Imamoglu rief seine Wähler deshalb gleich bei seiner ersten Rede nach dem Sieg dazu auf, beim Feiern Rücksicht auf die Gefühle des unterlegenen Lagers zu nehmen.

Der Kandidat der AKP kommt immerhin auf 45 Prozent

Denn die Türkei am Beginn der neuen Ära besteht nicht nur aus ausgelassenen Menschen auf den Straßen. Der geschlagene AKP-Kandidat Binali Yildirim erhielt gegen Imamoglu immerhin die Stimmen von 45 Prozent der Wähler. Viele von ihnen sind nun verunsichert und fürchten die Rache triumphierender Säkularisten.

Präsident Recep Tayyip Erdogan musste in Istanbul eine herbe Niederlage einstecken.
Präsident Recep Tayyip Erdogan musste in Istanbul eine herbe Niederlage einstecken.
© Murad Sezer/Reuters

Wie tief der Graben zwischen beiden Lager in der Türkei nach wie vor ist, zeigt sich am Tag nach Imamoglus Erfolg auch in Silivri westlich von Istanbul. In einem Saal im dortigen Hochsicherheitsgefängnis beginnt der Prozess gegen den Bürgerrechtler Osman Kavala und mehr als ein Dutzend weitere Angeklagte wegen der Gezi-Proteste von 2013.

Den Beschuldigten wird vorgeworfen, die Proteste damals organisiert zu haben, um Erdogan zu stürzen. Das Verfahren kam nur deshalb zustande, weil Erdogan und die auf Regierungslinie gebrachte Justiz jede Art von Dissens als staatsgefährdende Machenschaft sehen und verfolgen. „Jetzt müssen hier wieder demokratischere Zustände her“, meint ein mittelständischer Unternehmer in Istanbul, der Imamoglus Sieg als neuen Aufbruch begrüßt.

Erdogan geht schwierigen Zeiten entgegen

Nach Imamoglus Sieg muss sich Erdogan überlegen, wie er mit dieser Art von Kritik umgeht. Nicht nur deshalb steht er vor schwierigen Zeiten. Der 65-jährige hat sich mit der Entscheidung, Imamoglus ersten und sehr knappen Wahlsieg gegen Yildirim im März anzufechten und die Neuwahl durchzusetzen, kolossal verrechnet.

Der Präsident hatte offenbar nicht erwartet, dass viele Bürger dies als zutiefst ungerecht empfinden und der AKP eine Ohrfeige verpassen würden. Nun plant Erdogan laut Medienberichten eine Kabinettsumbildung, um den Wählern seinen Willen zur Erneuerung zu demonstrieren.

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