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Not gegen Elend. Mehr als eine Million Flüchtlinge sind seit 2015 auf griechischen Inseln angekommen.
© Filip Singer/dpa

Flüchtlinge in Griechenland: Wie der Ausnahmezustand auf Lesbos zum Alltag wurde

Nach der Flüchtlingskrise erholt sich die griechische Insel Lesbos langsam. Doch der Bürgermeister fürchtet, dass die echten Herausforderungen noch bevorstehen.

Keine Zelte mehr, keine Müllhaufen – auch die vielen Freiwilligen sind verschwunden. Die Not der Flüchtlinge auf der griechischen Insel Lesbos hat die kleine Hafenstadt Mytilini einst auf die Titelseiten von Zeitungen in der ganzen Welt gebracht. Jetzt erinnert in der historischen Altstadt kaum noch etwas an die humanitäre Krise, die das Leben hier so lange geprägt hat. Und dennoch: Wer heute an Lesbos denkt, denkt an die Flüchtlinge, sagen sie auf der Insel.

Dabei kommen längst nicht mehr so viele Flüchtlinge wie noch vor zwei Jahren. Die Balkanroute ist geschlossen, das Rücknahme-Abkommen von EU und Türkei nach wie vor in Kraft. Doch bei den Migranten, die dort sind, wächst die Verzweiflung.

„Die Lage scheint sich derzeit zu entspannen, aber wenn man genauer hinschaut, ist es nicht so einfach“, sagt Achilleas Tzemos. Er ist Projektkoordinator von Ärzte ohne Grenzen auf Lesbos. Viele seien in überfüllten Lagern untergebracht – mit ungewisser Zukunft, was zu schweren psychischen Problemen führe. Vor wenigen Wochen zündete sich ein Syrer auf der benachbarten Insel Chios an – er überlebte nur knapp. Drei Tage davor hatte sich ein anderer in der Nähe von Athen erhängt.

Seit 2015 sind mehr als eine Million Flüchtlinge über Griechenland nach Europa gekommen. In der Hochphase landeten an einem Wochenende bis zu 10000 Menschen an Lesbos’ Küsten, hungrig und erschöpft von der Überfahrt. In der Regel warteten sie ein paar Tage, bevor sie eine Fähre Richtung Festland bestiegen, von wo aus sie nach Schweden oder Deutschland weiterreisten. Nun müssen sie bleiben, bis ihre Asylgesuche entschieden sind.

Anwohner berichten von Diebstählen

Bei Moria, einem Dorf rund acht Kilometer nördlich von Mytilini, sind Tausende Migranten in einem ehemaligen Gefängnis untergebracht. Das mit Stacheldraht eingezäunte Camp war ursprünglich die zentrale Erstaufnahmeeinrichtung, wo Flüchtlinge registriert wurden. Inzwischen ist es zu einer Dauerunterkunft für rund 2400 mehrheitlich männliche Flüchtlinge geworden. Viele trinken, um die Zeit totzuschlagen. Frustrierte Anwohner berichten von Diebstählen, es gab Brände und Schlägereien.

Doch immer wieder gibt es auch die anderen Momente. Wie im provisorischen Restaurant vor den Toren Morias, wo Einheimische und Flüchtlinge zusammen einen Ouzo trinken, zu traditioneller griechischer Musik tanzen. Oder der Tag, als ein junges Paar, das sich im Camp kennengelernt hat, vor dem Hotelzimmer eines Freundes Eheringe austauscht und selbstgemachten Kuchen und Limonade mit den anderen Flüchtlingen teilt.

Die fremdenfeindlichen Übergriffe, die es im Rest des Landes gab, waren auf der Insel selten. Doch Lesbos’ Bürgermeister Spyros Galinos warnt, dass der Friede umso brüchiger werde, je länger die Probleme ungelöst blieben: „Seit diese gigantische Krise Lesbos getroffen hat, sind nicht die Menschen das Problem, die vor dem Krieg fliehen. Es sind die Schmuggler und die politischen Kämpfe, die auf ihrem Rücken ausgetragen werden.“

Lesbos’ Bürgermeister Spyros Galinos wirbt um Akzeptanz bei den Einheimischen. Doch die sehen ihre Existenz bedroht.
Lesbos’ Bürgermeister Spyros Galinos wirbt um Akzeptanz bei den Einheimischen. Doch die sehen ihre Existenz bedroht.
© Talitha Brauer

In seinem Büro in Mytilini, erzählt Galinos, wie sehr er für Verständnis werben musste. Die extreme Rechte habe ihm vorgeworfen, die Insel an Fremde zu verkaufen, überall Lager zu bauen und ganz Lesbos in ein Gefängnis zu verwandeln, sagt er. „Ich musste in jedes Dorf gehen und erklären, dass das nicht stimmt.“ Aus Protest gegen weitere Flüchtlingscamps marschierten Einwohner von Moria im vergangenen Jahr durch Mytilini und nannten den Bürgermeister einen Verräter. Das ist die eine Seite.

Auf der anderen stehen Flüchtlingshelfer, die Galinos ebenfalls Vorwürfe machen. Er handle nicht im Sinne der Flüchtlinge. Sie kritisieren Razzien und Festnahmen, auch sie haben schon gegen ihn demonstriert.

Die Unzufriedenheit ist groß, auch weil die Wirtschaft auf der Insel sich nur langsam erholt. Die Bilder von Not und Elend, die um die Welt gingen, brachten viele Touristen dazu, ihren Urlaub zu stornieren. Insgesamt ist die Zahl der Touristen in Griechenland zwar von 25 Millionen im Jahr 2015 wieder auf knapp 28 Millionen im vergangenen Jahr gestiegen. Allerdings kann das Tourismusministerium nicht sagen, wie viele nur gekommen sind, um zu helfen. Berühmt für Olivenöl, Käse und Ouzo, macht der Tourismus rund die Hälfte der Wirtschaftsleistung Lesbos’ aus; die meisten Besucher sind Griechen, die sich für die Kirchen, Archäologie und Heilquellen interessieren.

Schon als sich die Wirtschaftskrise verschärfte, sank die Besucherzahl. Aber mit der Flüchtlingskrise brachen die Buchungen völlig ein. Lesbos habe 60 Prozent der Charterflüge verloren, statt 30 pro Woche im Jahr 2015 habe es nur noch elf im vergangenen Jahr gegeben, sagt Periklis Antontou, Präsident der Hotelier-Vereinigung. Die Zahl der Kreuzfahrtschiffe sei ebenfalls um bis zu 70 Prozent zurückgegangen. In diesem Jahr sei noch kein einziges angekommen. „Wir haben unseren Ruf zerstört, das ist das Problem. Selbst die Griechen in Deutschland glauben uns nicht, wenn wir sagen, dass es der Insel gut geht“, sagt Antontou.

Doch so richtig glauben da selbst die Einheimischen nicht dran. Ioanis Palaiologou etwa betreibt sein Café seit 27 Jahren. „Man muss doch nur durch die Straßen laufen, um zu sehen, wie viele Geschäfte geschlossen wurden. Die restlichen überleben nur knapp“, sagt er. „Die Menschen haben kein Geld mehr, das sie ausgeben können.“ Früher seien die Kunden gekommen, um ein Kilo Kaffee zu kaufen, jetzt fragten sie, was sie für einen Euro kaufen könnten. Die Arbeitslosenrate in Griechenland liegt derzeit bei 23,5 Prozent, immer mehr Menschen leben unter der Armutsgrenze, Renten werden gekürzt, Steuern angehoben. „Ich habe nichts gegen Migranten“, sagt Palaiologou. Als eine Gruppe Schwarzer an seinem Laden vorbeiläuft, sagt er, dass er mit Flüchtlingen mitfühle, die schwierige Zeiten durchmachten. Aber ihm fehlen eben die Kunden. Eine Frau hält nur kurz an, als sie an seinem Café vorbei- geht. Sie regt sich auf, dass der Bürgermeister sich vor allem um Flüchtlinge kümmere. Die Einheimischen aber habe er im Stich gelassen. „Dies ist eine Flüchtlingsinsel geworden“, sagt sie, „mit Lesbos hat das nichts mehr zu tun.“

Sie schweigen aus Angst, als Nazis zu gelten

Wie in anderen westlichen Ländern ist die Angst vor einer Islamisierung groß. Viele sagen, dass sie sich nicht trauen, ihre Sorgen auszusprechen, aus Angst, dann als Nazi oder Rassist bezeichnet zu werden. Da inzwischen weniger Frauen und Kinder und immer mehr alleinstehende Männer ankommen, sind viele verunsichert. Und sie fürchten, dass der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan seine Drohung wahrmachen und die Grenzen wieder öffnen könnte.

„Am Anfang wurde Lesbos weltweit berühmt für seine humanitäre Hilfe“, sagt der Geschäftsmann Angelos Fotiadis Mouzalas. „Dann passierte etwas anderes: Die Menschen sympathisierten sich, aber sie wollten nicht mehr kommen.“ In einem Fernsehinterview erzählt er, wie er und seine Nachbarn anfangs Familien mit Essen unterstützten, Wasser anboten. Aber dann sei es zu Auseinandersetzungen gekommen, die sich auf ihr Zuhause ausgewirkt hätten. „Wir leben hier, niemand kümmert sich um uns. Wir haben Kinder, unser Leben ist in Gefahr, sie haben angefangen, mit Steinen aufeinander zu werfen, kamen in unsere Häuser.“ Er verlange nur Respekt für das Land, das sie aufgenommen habe.

Viele Flüchtlinge sind auf Lesbos im völlig überfüllten ehemaligen Gefängnis von Moria untergebracht.
Viele Flüchtlinge sind auf Lesbos im völlig überfüllten ehemaligen Gefängnis von Moria untergebracht.
© Talitha Brauer

Auf der anderen Seite, „wenn Sie eine Mutter mit vier Kindern sehen, was würden Sie tun?“, fragt er. „Wir haben sie aufgenommen, haben sie duschen lassen, ihnen Bett und Nahrung gegeben.“ Und als eines der Mädchen das dreckige Geschirr zurückgab und zum Dank „Ich liebe dich“ sagte, seien ihm die Tränen gekommen – aber er sei auch wütend geworden über die ganze Situation, für die er nicht verantwortlich sei. Die alte Olivenölfabrik seiner Familie neben einem Flüchtlingscamp sei im vergangenen Jahr durch ein Feuer zerstört worden. Schaden: 200000 Euro. Später platzt ihm noch ein Immobiliendeal, weil der Interessent Bilder des Feuers im Flüchtlingscamp gesehen hatte. „Die Leute investieren ihr Geld nicht da, wo Probleme sind“, sagt Mouzalas. Nun will er Bücher über die Geschichte und Natur von Lesbos veröffentlichen und Partnerstädte finden, die dabei helfen, die Insel als den Ort zu bewerben, an dem Julius Cäsar seine erste Schlacht kämpfte und der griechische Philosoph Aristoteles im vierten Jahrhundert vor Christus Tiere studierte.

Bürgermeister Galinos geht davon aus, dass die Großzügigkeit und Geduld seiner Mitmenschen sich auszahlen wird. „Alles, was dich nicht tötet, macht dich stärker“, sagt er.

Die Autorin ist Stipendiatin der Robert- Bosch-Stiftung. Übersetzung: J. Schäuble

Perla Trevizo

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