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Boris Palmer hält nicht viel von wissenschaftlichen Erkenntnissen, wenn sie seiner Meinung widersprechen.
© ZDF
Update

Streit mit Helmholtz-Forscher und Lauterbach: Wie Boris Palmer sich bei Illner erneut angreifbar macht

Grünen-Politiker Palmer hat sich am Donnerstagabend erneut streitbar zur Coronavirus-Krise geäußert. Nicht nur ein Helmholtz-Forscher widerspricht ihm.

Der Tübinger Oberbürgermeister Boris Palmer hat am Donnerstagabend in der ZDF-Sendung „Maybrit Illner“ erneut für Kontroversen gesorgt. Palmer hatte jüngst bereits viel Kritik auf sich gezogen, als er in einem Fernsehinterview sagte: „Wir retten in Deutschland möglicherweise Menschen, die in einem halben Jahr sowieso tot wären.“

Diese Aussage bekräftigte er im ZDF nochmals – und bekam prompt Gegenwind: Der Helmholtz-Forscher Michael Meyer-Hermann kritisierte Palmer dafür. Berechnungen zeigten, dass „die Mehrheit der Leute, die an Corona gestorben sind, im Durchschnitt noch neun Jahre zu leben gehabt hätten.“

Meyer-Herrmann bezog sich dabei wohl auf eine Rechnung des NDR, die ergeben hatte, dass jeder Covid-19-Tote durchschnittlich neun Lebensjahre verloren habe. Das deckt sich mit den Ergebnissen einer Studie der Universität Glasgow, die auf Basis von Patientendaten aus Wales, Schottland und Italien herausgefunden hatte, dass den Toten im Schnitt elf Lebensjahre verloren gingen.

Palmer wischte das Argument mit einem „Ich halte das für falsch“ zur Seite. Meyer-Herrmann blieb nur zu antworten, dass es hier um Fakten und nicht im Meinungen gehe.

In besagtem Fernsehinterview hatte er seine umstrittene Aussage mit der Sorge um armutsbedrohte Kinder vor allem in Entwicklungsländern erklärt, deren Leben durch die wirtschaftlichen Folgen des Lockdowns bedroht sei. „Die weltweiten Zerstörungen der Weltwirtschaft sorgen nach Einschätzung der Uno dafür, dass der daraus entstehende Armutsschock dieses Jahr eine Million Kinder zusätzlich das Leben kostet“, sagte Palmer.

Auf die zunehmende Gefahr hatte das Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen tatsächlich hingewiesen, allerdings zitierte Palmer den Geschäftsführer von Unicef, Christian Schneider, nicht richtig. Der hatte Mitte April gesagt, dass die Pandemie „für Millionen Kinder und ihre Familien in fragilen Staaten, armen Gemeinden und Krisenregionen eine existenzielle Gefahr“ sei.

Sie hätten kaum Möglichkeiten, sich vor Ansteckung zu schützen und oft keinen Zugang zu medizinischer Hilfe. Dass der von Palmer beschriebene „Armutsschock“ allerdings tatsächlich eine Million Kinderleben koste, sagte Schneider nicht.

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Palmer beklagte im ZDF am Donnerstagabend außerdem, dass viele Kritiker der einschneidenden Alltagsbeschränkungen in der Coronavirus-Krise beiseite gedrängt und teils auch diffamiert würden. Das erinnere ihn an die Flüchtlingskrise 2015, als Debatten über die Einreise Hunderttausender Migranten mit „moralisierender Alternativlosigkeit“ abgewürgt worden seien, sagte er.

Auch dem widersprach Meyer-Herrmann, der sagte, dass Deutschland auf den flachen Verlauf der Infektionskurve stolz sein könne. Dass man alles richtig gemacht habe, zeigten allein schon die nicht ausgelasteten Krankenhausbetten. Dass die Proteste zunehmen, während die Lockerungen in Kraft treten, sei ein Beispiel für das „Präventions-Paradoxon“: Wer genügend Vorsorge getroffen habe, muss sich später, wenn die erwartete schlimme Lage nicht eintritt, anhören, dass er es übertrieben habe. 

Palmer stellt sich gegen Lauterbach

„Je mehr wir lockern, desto länger bleibt die Phase der leichten Unterdrückung der Wirtschaft“, sagte Meyer-Hermann, der mit seinem Team des Helmholtz-Instituts für Infektionsforschung gemeinsam mit dem Ifo-Institut für Wirtschaftsforschung eine Studie zu den wirtschaftlichen Folgen der Lockerungsmaßnahmen erstellt hat.

Dass die Menschen das Gefühl hätten, die Maßnahmen richteten sich gegen sie, hält Meyer-Hermann für ein Missverständnis: Gerade Menschen an der Existenzgrenze bräuchten eine Welt, in der das Virus so weit zurückgedrängt ist, dass „wir keine Angst mehr haben müssen“.

Palmer unterstellte zudem den Virologen, dass sie nur auf die Senkung der Infizierten aus seien und andere medizinische sowie ökonomische Kosten nicht sehen würden. „Auch das ist unfair“, schrieb Gesundheitsexperte Karl Lauterbach auf Twitter. Wo er recht hat.

Erst am Donnerstag hatte Christian Drosten im NDR-Podcast gesagt, dass es bei der Abwägung zwischen Gesundheitsschutz und wirtschaftlichen Interessen einen „goldenen Mittelweg“ gebe. Drosten bezog sich auf die Studie des Ifo-Instituts und des Helmholtz-Zentrums. Demnach könne ein umsichtiger, schrittweiser Öffnungsprozess die wirtschaftlichen Kosten minimieren, ohne die medizinischen Ziele zu gefährden.

Schließlich legte sich Palmer auch mit SPD-Politiker Lauterbach direkt an. Er warf ihm vor, dass er alle Leute, die nicht dessen Ratschläge befolgten, für den Tod von 100.000 Menschen verantwortlich wären. „Das ist unfair und stimmt nicht“, entgegnete Lauterbach auf Twitter. „Ich bin nur, ungleich ihm, dagegen, Alte und Kranke für die Wirtschaft für Jahre de facto wegzusperren.“ (mit dpa)

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