Tunesien am Scheideweg: Wertlose Freiheit nach dem arabischen Frühling
Sie sind ein stolzes Volk, und sie könnten reich sein in Gafsa. Denn im Süden Tunesiens liegen die wichtigsten Minen des Landes. Die Revolution fegte das Regime hinweg – und hinterließ eine Stadt im Chaos.
Der Wind fegt durch die rostigen Stahlskelette. Zwei Arbeiter waten durch den mehlfeinen Staub, behalten dabei ständig die ratternden Ketten und Schüttelbänder im Auge. Gigantische Stahlzylinder drehen sich an den Gerüsten, in denen das Phosphat für den Export gewaschen wird. Wer sich hier länger aufhält, dem schmerzen hinterher tagelang die Lungen. Entlang der Straßen lagern die grünlich-grauen Halden des wertvollen Minerals, aus dem sich Waschpulver, Farbe, Futtermittel und Dünger produzieren lassen. 6000 Quadratkilometer groß ist Tunesiens Phosphatbecken nahe der Grenze zu Algerien. Hier liegen die wichtigsten Bodenschätze des Landes, doch von Reichtum keine Spur.
Die Menschen in Gafsa mögen arm sein, viele krank, doch sie gelten als ein stolzes Volk. „Wir sind die eigentliche Wiege der tunesischen Revolution“, sagen die Bewohner. Im Januar 2008, drei Jahre vor dem Arabischen Frühling, begann hier in Gafsa der Aufstand gegen das allmächtige Regime in Tunis, lange bevor sich der Gemüsehändler Mohamed Bouazizi in Sidi Bouzid anzündete. Abgeschottet von der Weltöffentlichkeit gingen Tausende von Minenarbeitern gegen Ben Ali auf die Barrikaden – bis dahin die größte Protestbewegung in der tunesischen Geschichte. Doch genauso wie dem 120 Kilometer entfernten Sidi Bouzid hat auch Gafsa und den umliegenden Minenorten ihr Mut zur Revolte bis heute nichts gebracht.
„Wir ersticken, wir brauchen neuen Sauerstoff“, sagt Rihda Labidi. Er hat es sich im Schatten bequem gemacht, mitten in seiner privaten Oase. Sein andalusischer Garten, wie er ihn nennt, hat etwas Unwirkliches. Genauso wie der unerschütterliche Optimismus des 58-Jährigen. Einst war hier eine Müllkippe, die der Unternehmer vor 15 Jahren der Kommune für wenig Geld abkaufte. Mit einer Mauer schloss er den sonst allgegenwärtigen Staub aus und pflanzte 600 Bäume. Breite Flanierwege ziehen sich durch den Palmengarten, vorbei an üppigen Wedeln und exotischen Blumen. Mitten im Park liegt eine Freilichtbühne, daneben ein Puppentheater für Kinder, ein Saalbau mit weißen Dachzinnen für Kino und Konzerte. Der schmale Wohntrakt mit Restaurant für durchreisende Künstler ist noch im Rohbau, der Parkplatz draußen bietet Platz für 1000 Autos.
Gafsa ist eine raue Stadt, auch nach der Revolution
Kultur, Theater, Filme und Konzerte – damit will Rihda Labidi die Hoffnungslosigkeit und Depression in Gafsa bekämpfen, der Kreisstadt mit 360 000 Einwohnern im Kern der Phosphatregion. Labidi will Bill Clinton als Redner für ein Festival einladen, Steven Spielberg engagieren, genauso wie die französischen Chansonsänger Michel Sardou und Enrico Macias. „Gafsa muss in aller Munde sein, muss eine Adresse werden, an der niemand mehr vorbeifährt“, sagt er. Nächstes Jahr geht es los mit seinem Kulturzentrum, und für Labidi wird die Eröffnung seine ganz persönliche Revolution und Genugtuung gegenüber dem Diktator Ben Ali.
Dessen Regime hatte ihn und seinen Bruder vor zwanzig Jahren systematisch am Studium gehindert. Immer zur Examenszeit kam die Polizei und nahm die beiden vorübergehend fest. Mehrere Jahre ging das so, bis die Brüder schließlich aufgaben. Doch sie schworen sich, reich zu werden und später alles nachzuholen, was ihnen an Bildung und Kultur verwehrt worden war. Rihda Labidi wurde Bauunternehmer, heute ist er einer der reichsten Männer in Gafsa.
Vor Jahren hat er sich eine Auszeit in Aleppo gegönnt, als die syrische Stadt noch ein kultureller Mittelpunkt in der arabischen Welt war. Hier studierte Labidi arabische Musik und Kalligrafie. „Ich bin Atheist“, sagt er und nippt an seinem dunkelgrünen Tee nach tunesischer Art und philosophiert dann über Sufismus, die verschiedenen islamischen Rechtsschulen sowie die kulturelle Verödung salafistischer Kreise.
Gafsa hat historische Wurzeln. Die Stadt gibt es schon seit der Römerzeit, in der modernen Geschichte Tunesiens profilierte sie sich als Zentrum der Arbeiterbewegung. Salafisten und Muslimbrüder haben hier wenig zu melden. Sechs Stunden gen Süden dauert die Autofahrt von der Hauptstadt Tunis über rüttlige Landstraßen. Endlose Olivenhaine ziehen unterwegs vorbei. Später kommen Kakteenhecken, verschmutzt mit abertausenden Plastiktüten. Das karge Hinterland von Gafsa in Richtung Sahara musste sogar schon als Afghanistankulisse herhalten in einem Film über Osama bin Laden.
Bei den Aufständen 2008 kamen 34 Menschen ums Leben. Sechs Monate lang hielt der Diktator die 30 000 Einwohner der besonders aufmüpfigen Ortschaft Radayef mit 4000 Polizisten im Würgegriff. Fast vor jede Haustür hatten sich Polizisten rund um die Uhr postiert. 2000 Bewohner wurden festgenommen, die lokalen Streikführer gejagt, verurteilt und ins Gefängnis gesteckt.
Gafsa ist eine raue Stadt, auch nach der Revolution. Ab 21 Uhr traut sich niemand mehr auf die Straße. Die Nacht gehört Kriminellen und Waffenhändlern, die ihre Ware aus Libyen über die nahe Grenze in Richtung Algerien und Mali verschieben. Viele Gewehre bleiben auch im Land. Tunesische Spediteure weigern sich, wegen der Raubkommandos entlang der Überlandstraßen ihre Lastwagen noch in den Süden zu schicken. Das einzige Fünf-Sterne-Hotel der gesamten Region steht leer. Vor drei Jahren war das 160-Zimmer-Haus am Stadtrand oft ausgebucht, sagt Besitzer Bilel Khalifa, der gleichzeitig Vorsitzender der örtlichen Arbeitgebervereinigung ist. Beliebt war sein Haus vor allem bei deutschen Urlaubern, die in den heißen Mineralquellen badeten oder in den nahen Bergen wanderten. Jetzt sind die Becken trocken, die Farbe blättert von den beigen Gipslöwen am Rand. Die Hälfte des Personals musste der Chef entlassen. Gelegentlich bringen internationale Hilfsorganisationen noch gegen hohe Rabatte ihre Leute in dem Prachtbau mit traditioneller Lehmziegelfassade unter. „Lange können wir das nicht mehr durchhalten“, sagt der 38-jährige Chef, der aus einer Unternehmerfamilie stammt. „Wenn sich auch in der Herbstsaison nichts tut, müssen wir schließen.“
Die Polizei verschanzt sich in ihren Büros
Die Arbeitslosigkeit liegt bei 30 Prozent, betroffen sind vor allem die jungen Leute, 40 000 mit nutzlosen Universitätsdiplomen. „Viele sind total demoralisiert“, sagt Ghezla Mhemdi, die zu den Gründerinnen des Vereins für arbeitslose Akademiker gehört. „Gafsa ist wie eine Falle, aus der man nicht mehr herauskommt.“ Denn auch an der Küste, wo zwei Drittel der Tunesier leben, gibt es keine Arbeit mehr. Strandhotels sind geschlossen, die Tourismusbranche ist schwer angeschlagen. Die Freiheit bleibe wertlos, wenn sie nicht mit sozialen und ökonomischen Verbesserungen einhergehe, warnte kürzlich Tunesiens Präsident Moncef Marzouki. Anderenfalls werde Tunesien früher oder später wieder in eine Diktatur zurückfallen. „Auch die zwanzig Prozent Armen brauchen eine Perspektive“, sagte das erste demokratisch gewählte Staatsoberhaupt.
Doch woher die kommen soll, weiß niemand. Marzouki hat die jahrzehntelang vernachlässigte Minenregion bisher nicht besucht, das hat er mit seinem diktatorischen Vorfahren Ben Ali gemeinsam. Der ließ sich in seinen 24 Machtjahren ein einziges Mal blicken, obwohl die 5000 Minenarbeiter Jahr für Jahr 400 bis 500 Millionen Euro zum Staatsetat beisteuerten.
Der Reichtum aus dem Landesinneren wurde in die Küstenregionen investiert oder vom Clan des Despoten verprasst. Für die Menschen im Phosphatbecken fielen nur roh geziegelte Häuschen mit Wellblechdächern oder unverputzte Betonschachteln ab. Das Trinkwasser schmeckt salzig und seifig. Es gilt bis heute als Tabu, über die hohe Zahl der Krebstoten zu sprechen. Nach wie vor wollen Ärzte und Apotheker ihre Namen nicht nennen, wenn sie über Plagen wie Krebs, Asthma und Hautallergien reden. Ehepaare sind unfruchtbar. Und bei allen, egal ob Jung oder Alt, bildet sich ein rätselhafter brauner Streifen quer über den Zähnen.
„Außer Krankheiten hat uns das Phosphat nichts gebracht“, sagt Hassen bin Abdullah. 2008 einer der Initiatoren des Aufstands, seit neun Jahren arbeitslos, vertreibt er sich die Zeit am liebsten im Café „Zentrum“. Zwei Jahre war der studierte Arabisch-Linguist vor den Häschern Ben Alis auf der Flucht, unter dem Arm trägt er einige Exemplare der Zeitung „Stimme des Volkes“ des linken Volksfrontbündnisses. „Seit der Revolution verwalten wir uns selbst“, sagt der 37-Jährige. „Es gibt keinen Bürgermeister und keinen Stadtrat mehr – man könnte das auch Anarchie nennen.“ Die Polizei zeige sich nicht mehr, verschanze sich in ihren Büros.
Und so gilt als wichtigster Mann im Ort jetzt Gewerkschaftschef Adnane Hajji, dessen dröhnende Stimme ihm natürliche Autorität verleiht. Er hat schon viel erlebt, saß nach dem Minenstreik 16 Monate im Gefängnis, wurde geschlagen und gefoltert. „Doch so etwas wie jetzt, das hat es noch nie gegeben“, sagt er. Den Versammlungsraum in dem schäbigen Gewerkschaftsbau ziert ein kitschiges Ölbild mit sehnigen Arbeiterhänden und gesprengten Ketten. Es riecht nach kaltem Rauch. Zwei Dutzend abgewetzte Stühle reihen sich entlang der Wände, darüber hängen verblichene Porträts früherer Vorsitzender des UGTT, wie sich der tunesische Dachverband der Gewerkschaften nennt. „Wir haben keinerlei Kontakt mehr zu der Regierung in Tunis“, sagt der 55-Jährige, der jahrelang als Grundschullehrer gearbeitet hat. „Wir haben jetzt mehr Freiheit, alles andere aber wird schlimmer und schlimmer.“
Er und seine Mitstreiter fordern, künftig sollten 20 Prozent der Phosphaterträge in der Minenregion bleiben und deren Bewohnern zufließen. Nach ihrer Kalkulation sind das mindestens 80 Millionen Euro im Jahr. Doch niemand in der fernen Hauptstadt will davon etwas hören, auch nicht Präsident Moncef Marzouki. „Alles ist blockiert“, sagt Adnane Hajji und zuckt mit den Achseln. „Wenn nicht bald etwas geschieht, wird alles erneut explodieren.“
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