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Die tschechische Politikerin Vera Jourova ist als Vizepräsidentin der EU-Kommission für die Rechtsstaatlichkeit zuständig.
© picture alliance/dpa

Vize-Chefin der EU-Kommission: „Werden uns Anfang kommenden Jahres mit Polen und Ungarn befassen“

Vera Jourova will Ungarn und Polen über den neuen Rechtsstaatsmechanismus prüfen. Sie sagt: Wer immer an der Macht ist, muss die Grundwerte der EU achten.

Frau Jourova, Ungarn und Polen haben über mehrere Wochen hinweg ein Veto gegen das EU-Finanzpaket für die kommenden Jahre eingelegt. Inzwischen wurde beim letzten EU-Gipfel ein Kompromiss in dem Streit erzielt, in dem es im Kern um den künftigen Rechtsstaatsmechanismus der Gemeinschaft geht. Hat Sie das Veto Ungarns und Polen überrascht?
Im Juli haben alle Staats- und Regierungschefs bei ihrem Marathon-Gipfel in Brüssel gemeinsam eine Grundsatzentscheidung für den Rechtsstaatsmechanismus getroffen. Wir wussten zwar schon damals vor dem Gipfel im Sommer, dass Ungarn und Polen dieser neue Mechanismus nicht gefällt. Aber ich habe trotzdem nicht mit dem Veto gerechnet.

Das Ganze hat eine Vorgeschichte: Ich habe 2018 den Vorschlag gemacht, die Auszahlung von EU-Geldern an die Wahrung rechtsstaatlicher Prinzipien zu knüpfen. Für mich waren damals Sanktionsmöglichkeiten, wie wir sie jetzt zur Verfügung haben, noch ein Traum. Aber der milliardenschwere Corona-Wiederaufbaufonds, auf den wir uns in diesem Jahr verständigt haben, und der mehrjährige EU-Haushalt bringen es mit sich, dass der Schutz der EU-Gelder verstärkt werden muss.

Die Gelder dürfen nicht in Länder fließen, deren Regierungen die Werte der Demokratie ablehnen. Mir war stets klar, dass ich für den neuen Mechanismus die Zustimmung der Staats- und Regierungschefs benötigte. Und die liegt vor.  

Also ein Quantensprung für die EU?
Der Rechtsstaatsmechanismus ist keine Wunderwaffe. Uns stehen zwar nun zusätzliche Sanktionsmöglichkeiten zur Verfügung. Aber wir werden harte Arbeit leisten müssen, damit wir von einer Kürzung von Haushaltsmitteln tatsächlich Gebrauch machen können. Wir werden auch weiterhin alle bereits bestehenden EU-Verfahren zur Überwachung der Rechtsstaatlichkeit in den Mitgliedstaaten anwenden müssen.  

Der Kompromiss mit Ungarn und Polen sieht vor, dass zunächst der Europäische Gerichtshof (EuGH) über den neuen Rechtsstaatsmechanismus urteilen soll. Wann rechnen Sie mit einer Entscheidung des EuGH?
Über die Verfahrensdauer muss natürlich der EuGH entscheiden. Aber meine Prognose lautet, dass es nicht Jahre, sondern nur Monate bis zu einem Urteil dauern wird. Wenn es zu einem Schnellverfahren kommt, dann ist mit einer Dauer von weniger als zwölf Monaten zu rechnen.  

Ist es aber nicht dennoch denkbar, dass Ungarns Regierungschef Viktor Orban bis zu den Parlamentswahlen im Jahr 2022 unbehelligt bleibt?
Wahltermine spielen bei unserer Arbeit keine Rolle. Es ist jetzt schon klar, dass wir uns ab Anfang kommenden Jahres mit der Umsetzung der Verordnung für den Mechanismus und damit auch mit Polen und Ungarn befassen werden.  

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Wo liegen Ihre Bedenken im Fall Polens und Ungarns?
Gegen beide Länder laufen bereits Verfahren nach Artikel 7 des EU-Vertrages, die theoretisch zu einem Entzug der Stimmrechte führen können. Im Fall Polens geht es unter anderem seit 2015 um die Reform des Justizsystems. Auch in Ungarn gibt es viele Missstände, die eine korrekte Verwendung von EU-Subventionen gefährden könnten. Die EU-Betrugsbekämpfungsbehörde Olaf hat empfohlen, Ermittlungen bei einigen Fällen aufzunehmen. Aber diese Empfehlungen verliefen seitens der ungarischen Behörden im Sande.  

Gegen Polen läuft gegenwärtig unter anderem ein Vertragsverletzungsverfahren wegen eines Gesetzes, das Disziplinarmaßnahmen gegen missliebige Richter erlaubt. Wie ist da der Stand?
Dieses Verfahren wurde Anfang Dezember eröffnet. Wenn in Polen unsere Bedenken hinsichtlich der Disziplinarkammer nicht aufgenommen werden, dann werde ich nicht zögern, den Fall Anfang des kommenden Jahres an den Europäischen Gerichtshof weiterzuleiten. Ich will hier keine Zeit verlieren.  

EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hat versprochen, dass vom 1. Januar an jeder Fall eines möglichen Bruchs des Rechtsstaatsprinzips gemäß dem neuen Mechanismus notiert wird. Wer wird in der Kommission dafür verantwortlich sein? Sie oder EU-Justizkommissar Didier Reynders?
Wir beide. Wir arbeiten auf dem großen Feld der Rechtsstaatlichkeit gut zusammen. Das hat sich schon im zurückliegenden Jahr bewährt, als wir den ersten Rechtsstaatsbericht veröffentlicht haben, der die Situation in allen 27 Mitgliedstaaten beschreibt. Wir haben auch zusammengearbeitet, als die Verordnung für den neuen Mechanismus noch einmal gemäß den Wünschen der Mitgliedstaaten überarbeitet wurde.  

Was entgegnen Sie Kritikern, die einwenden, dass die EU-Kommission voraussichtlich sehr zurückhaltend sein wird, wenn es um die tatsächliche Einleitung von Rechtsstaatsverfahren gehen wird?
Ich teile diese Einschätzung nicht. Aber wir dürfen an ein Thema, wo es um Werte und die Verwendung substanzieller EU-Gelder geht, auch nicht so herangehen, wie dies Aktivisten tun. Der neue Rechtsstaatsmechanismus ändert nichts daran, dass wir an die EU-Verträge gebunden sind. Wir dürfen und werden weder Willkür noch Intransparenz an den Tag legen.  

Welche Rolle spielen die Mitgliedstaaten bei der Diskussion um die Rechtsstaatlichkeit?
Ich muss schon sagen, dass die Kommission bei der Verfechtung der Rechtsstaatlichkeit innerhalb der gesamten EU lange Zeit ziemlich allein dastand. Aber die Situation hat sich geändert: Als seinerzeit die Artikel-7-Verfahren gegen Polen und Ungarn in Gang gesetzt wurden, hat die Diskussion unter den Mitgliedstaaten über die gemeinsamen Werte in der EU richtig eingesetzt.

Zudem haben wir mit dem EU-weiten Rechtsstaatlichkeitsbericht, den wir erstmals im September vorgelegt haben, auch unser Repertoire um ein weiteres wichtiges Instrument erweitert.

Dabei ist doch klar: Das Prinzip der Rechtsstaatlichkeit ist entscheidend für gegenseitiges Vertrauen unter den Mitgliedstaaten und damit für das Funktionieren der Gemeinschaft. Es hat nichts mit Ideologie zu tun. Oder damit, ob man nun politisch links oder rechts steht.  

Genau das behauptet aber Orban.
Da bin ich komplett anderer Meinung. Als Tschechin kann ich sagen: Als die neuen Mitgliedstaaten in Mittel- und Osteuropa der EU im Jahr 2004 beitraten, waren sich alle einig darin, dass die Grundwerte der EU allgemeingültig sind. Wer immer – unabhängig von der politischen Couleur – an die Macht kommt, muss diese Werte beachten. 

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