Nach dem Brexit-Referendum: Wer zieht in die Downing Street 10?
Zwischen Remain und Brexit: Fünf Kandidaten der Tories bewerben sich um den Posten des britischen Premiers. Wir stellen sie vor.
Großbritannien braucht einen neuen Premierminister. Nachdem Amtsinhaber David Cameron nach dem verlorenen Brexit-Referendum seinen Rücktritt angekündigt hatte, ist es nun an den regierenden Konservativen, einen Nachfolger zu finden. Einer der Favoriten ist am Donnerstag bereits ausgeschieden: Boris Johnson, das Gesicht der Brexit-Kampagne, verkündete, nicht der richtige Mann zu sein, der das Land aus der EU führt.
Der Fahrplan
Das Verfahren, wie der neue Premier gekürt wird, ist klar: Die Parlamentsfraktion bei den Konservativen bestimmt zwei Abgeordnete aus ihren Reihen, über die dann die Parteibasis – etwa 150 000 Männer und Frauen – abstimmt. Das Verfahren hat am Donnerstag mit den Vorschlägen und Eigenbewerbungen begonnen. Fünf Namen stehen auf der Liste: Theresa May, Michael Gove, Stephen Crabb, Andrea Leadsom, Liam Fox. Von Dienstag an stimmen die Tories so lange ab, bis zwei Kandidaten übrig sind. Die letztendliche Entscheidung trifft dann die Basis per Briefwahl. Das dürfte bis September passiert sein.
Die aussichtsreichsten Kandidaten
Die Tory-Fraktion im Parlament besteht zwar überwiegend aus Politikern, die man nicht eben als große Freunde der EU und der Brüsseler Kommission bezeichnen kann. Viele britische Konservative sind aber Vernunfteuropäer, die den Kurs von Premier Cameron als richtig empfanden: für eine Reform der EU, für mehr Marktwirtschaft und weniger Regulierung. Die Fraktion besteht daher mehrheitlich aus Remain-Befürwortern.
Cameron hat zudem versucht, die Partei mehr zur Mitte hin zu orientieren. May, die klare Favoritin der Fraktion, neigt dieser Position zu. Dagegen stemmte sich der Flügel, der bis heute vom Geist Margaret Thatchers beseelt ist – und glaubt, sie hätte nicht nur stramm rechts gesteuert (und damit die Ukip-Partei, die britische AfD, marginalisiert), sondern auch den Brexit gewollt. Sie sind in der Minderheit, aber drei Kandidaten gehören diesem Teil der Partei an: Gove, Fox, Leadsom.
Die eher dünne Mitgliederbasis der Partei ist schwer zu kalkulieren. Thatcher ist auch unter den einfachen Tories noch der leuchtende Stern, aber Cameron war durchaus beliebt. In jedem Fall ist die Neigung zum Austreten aus der EU an der Basis stärker als in der Fraktion. Gove schien dort zuletzt mehr Sympathisanten zu haben als May.
Michael Gove - ein echter Brexiter
Gove ist einerseits eine schillernde Figur, wie sich am Donnerstag gezeigt hat: Nachdem er bislang stets von sich gewiesen hatte, jemals Premier werden zu wollen (und auch zu können), zwang er durch einen Coup Johnson zum Abtreten und kandidiert nun selbst auf dem Brexit-Ticket. Den Austritt aus der EU, so sein Slogan, könne nur ein echter Brexiter verhandeln. Andererseits gilt der 48-Jährige durchaus als kluger Stratege mit einer klaren Linie. Das bedeutet, dass er die gespaltene Partei wenn nicht einen, so doch befrieden muss.
Dass er von der Bildungsministerin Nicky Morgan vorgeschlagen wurde, einer Remainerin, zeigt, dass er daran schon arbeitet. Der frühere „Times“-Journalist wuchs als Adoptivkind in Aberdeen auf, sein Vater betrieb ein Fischereiunternehmen und studierte in Oxford. Gove, der gern nach Bayreuth zum Wagner-Oper-Hören pilgert, gilt als Ideologe, was bei traditionellen Tories nicht gut ankommt, die gern glauben, Konservative seien Pragmatiker.
Aber der amtierende Justizminister ist eben auch der knallharte EU-Gegner, den viele an der Basis sich als Premier wünschen. Zudem ist er ein glühender Nationalist, der an einem rückwärtsgewandten, geschönten Geschichtsbild hängt, das er als Bildungsminister auch den britischen Schülern verabreichen lassen wollte. Europa sollte in den Lehrplänen nur noch am Rande vorkommen. Seither ist er eine Hassfigur bei Linken und Liberalen.
Seine Vision ist es, Großbritannien von Europa abzukehren und das Land wirtschaftlich stärker auf Asien, Afrika und Südamerika auszurichten. Das Königreich soll so vom wachsenden Wohlstand in den Schwellenländern profitieren – vor allem von der dortigen Mittelschicht, die ihr Geld gern in der Londoner City anlegen darf (einem sicheren Hafen, frei von Brüsseler Regulierungen) und die ihren Nachwuchs gern an britischen Privatschulen ausbilden lassen soll. Daher auch der Drang, die Einwanderungspolitik wieder allein national gestalten zu können.
Theresa May - gemäßigte Remainerin
Theresa Mays große politische Leistung besteht darin, dass sie noch im Amt ist: So lange wie sie hat keiner mehr das Innenministerium seit 1951 geführt – es ist traditionell ein Schleudersitz der britischen Innenpolitik. Die zurückhaltende Entschlossenheit, die dafür notwendig ist, gilt als Merkmal ihres Politstils. „Sie wird mehr bewundert als geliebt“, heißt es über die Tochter eines Pfarrers aus Oxfordshire. Seit 1997 ist May Mitglied des Unterhauses, ihren Ehemann Philipp, einen Banker, hat sie beim Studium in Oxford kennengelernt – angeblich wurden die beiden einander damals von Benazir Bhutto vorgestellt. Ihre Karriere ist so gradlinig verlaufen, dass sie sich aus allen Lagern herauszuhalten vermocht hat.
Und auch ihre Haltung zu EU – sie war eine gemäßigte Remain-Befürworterin, will ihr Land aber gleichzeitig von der Europäischen Menschenrechtskonvention lösen – lässt sie nun als ideale Versöhnungskandidatin erscheinen. Ihre politischen Ziele gehen über die Partei hinaus: Sie will, schrieb sie in der Begründung für ihre Kandidatur, „aus Großbritannien ein Land machen, das für alle funktioniert“. Sie machte aber auch deutlich, dass sie sich an des Ergebnis des Referendums halten wolle: „Brexit ist Brexit.“
Die Chancen der anderen Kandidaten
Nichts ist ausgeschlossen, das zeigen die überraschenden Entwicklungen der vergangenen Tage. Doch die Chancen der übrigen drei Kandidaten sind vor allem deshalb gering, weil sie für keine anderen innerparteilichen Strömungen stehen als Gove oder May.
Andrea Leadsom, die Energieministerin, und Liam Fox, der ehemalige Verteidigungsminister, sind – wie Gove – große Euroskeptiker. Und Stephen Crabb, der Arbeits- und Rentenminister, war ein zu klarer Befürworter des Verbleibs in der EU, als dass er nun Brexit-Unterstützer für sich gewinnen könnte. Crabb, der gern auf seine Jugend in einer schottischen Sozialwohnung verweist, ist zudem unerfahren – er ist erst seit März Minister.