Nach Verzicht von Boris Johnson: Wer wird neuer Premier in Großbritannien?
Wer folgt David Cameron nach? Nach dem Brexit-Votum tobt bei den britischen Konservativen ein turbulenter Machtkampf. Statt Boris Johnson tritt der Hardliner Michael Gove an. Eine Frau hat gute Aussichten.
Eine Woche nach dem Brexit-Referendum in Großbritannien überschlagen sich die Ereignisse in London. Sowohl Konservative als auch Labour erleben bittere Machtkämpfe. Boris Johnson, das Gesicht der Kampagne für den Austritt aus der Europäischen Union und Favorit für das Amt des Premierministers nach David Camerons Rücktritt, erklärte am Donnerstag überraschend, dass er nicht der richtige Mann sei. Als Grund nannte Johnson nur „Umstände im Parlament“ – was darauf hindeutet, dass der als umtriebig und unberechenbar geltende frühere Londoner Bürgermeister massiv an Unterstützung in der Fraktion der Konservativen verloren hat.
Offenbar gewannen viele Abgeordnete den Eindruck, dass er die Austrittserklärung und die nachfolgenden Verhandlungen mit nicht mit dem Eifer betreibt, den die EU-Gegner erwarten. Ein Artikel im "Daily Telegraph" vom Montag erregte offenbar Verdacht - Johnson skizzierte darin sein Programm, das aber Hardlinern als zu soft erschien, sowohl beim EU-Austritt als auch beim Hintergrundthema der ganzen Brexit-Kampagne, der Zuwanderungspolitik.
Statt Johnson warf einer der radikalsten Anhänger des Austritts seinen Hut in den Ring, der bei beiden Themen weniger Manschetten hat – der Justizminister Michael Gove, der als „Mastermind“ der Austrittskampagne gilt. Er hatte den populären Johnson im Februar als Stimmenfänger mit ins Boot geholt.
Er habe auf Johnson als Kandidat der Tories gesetzt, sagte Gove nun, sei jedoch „widerstrebend“ zur Erkenntnis gelangt, dass dieser weder Führungskraft besitze noch ein Team für die anstehende Aufgabe bilden könne. Daher entschied er sich selbst für eine Kandidatur, die er offenbar ohne direkte Rücksprache mit Johnson vor dessen Erklärung publik machte. Gove galt schon in Camerons Umfeld als schillernde „Brutus“-Figur. Ein Johnson-Anhänger kommentierte den Vorgang mit dem Satz: "Dagegen wirkt House of Cards wie die Teletubbies."
Theresa May macht auf vernünftig
Als aussichtsreiche Kandidatin gilt auch Innenministerin Theresa May, die vor dem Referendum durchblicken ließ, sie sei für den Verbleib in der EU. Doch hielt sie sich in der heißen Phase merklich zurück. Nun sagte sie: „Brexit bedeutet Brexit.“ Es dürfe keine Versuche geben, doch in der EU zu bleiben, keine Rückkehr durch die Hintertür und kein zweites Referendum. Neuwahlen schließt sie aus, den Austrittsantrag will sie nicht vor Jahresende stellen.
May präsentierte sich als Kandidatin, die das tief gespaltene Königreich wieder einigen kann. Sie sagte, die direkten Verhandlungen mit der EU sollten von einem erklärten Austrittsbefürworter geführt werden. In ihrer Bewerbungsrede stellte sich May als eine zweite Maggie Thatcher vor, der es allein um vernünftige Politik, nicht um Ideologie (eine Spitze gegen den EU-Hasser Gove, der als Bildungsminister den Geschichtsunterricht stramm national ausrichten wollte) oder Ruhm und Ehre geht (das ging gegen den Churchill-Verehrer Johnson). An die Diktion Thatchers, der Tochter eines "shopkeepers", erinnerte Mays Eigenbeschreibung als Kind eines Ortspfarrers und Enkelin eines Regimentsfeldwebels. Das sollte ihre pragmatische Bodenständigkeit ausdrücken.
Europa oder die weite Welt
May strebt an, dass Großbritannien weiterhin am gemeinsamen Markt der EU teilnehmen darf, sie schließt aber aus, dass damit die Fortsetzung der Niederlassungsfreiheit für EU-Bürger auf der Insel verbunden ist. Gove ist hier radikaler: Er will zwar auch keine komplette Trennung vom europäischen Markt, sieht aber große Chancen darin, die Wirtschaftskontakte zu den aufstrebenden Ländern in Asien oder Afrika auszubauen und Großbritannien insgesamt globaler aufzustellen. Zuwanderung aus der EU gehört nicht dazu.
Drei weiteren Kandidaten – dem noch jungen Arbeitsminister Stephen Crabb, dem erzkonservativen Ex-Verteidigungsminister Liam Fox und der eher unbekannten Energieministerin Andrea Leadsom – werden bei der Abstimmung in der Tory-Fraktion am kommenden Montag nur Außenseiterchancen zugemessen. Aus dem Fünferfeld wählen die Abgeordneten zwei Kandidaten, den Premier bestimmen die Mitglieder der Partei in einer Urwahl. Die Konservativen haben nur 150.000 Mitglieder. Zum Vergleich: Die CDU hat mehr als 450.000.
Auch bei Labour rumort es
Auch in der Labour Party rumort es weiter. Parteichef Jeremy Corbyn, der nach Ansicht vieler Abgeordneter sich zu wenig für den Verbleib in der EU stark gemacht hat und dem ein Großteil seines Schattenkabinetts davongelaufen ist, droht eine erneute Urabstimmung der Parteimitglieder. Die Labour-Abgeordnete Angela Eagle wollte noch am Donnerstag ihre Kandidatur um das Amt des Labour-Vorsitzenden bekanntgeben.