Die Schrecken des Nationalsozialismus: Wer vergisst, der tötet ein zweites Mal
Roman Herzog hat 1996 den Gedenktag an die Opfer des Nationalsozialismus proklamiert. Seine Rede wühlt bis heute auf. Warum dieser Tag so wichtig ist.
Roman Herzog, der 2017 verstorbene frühere Bundespräsident, ist berühmt geworden durch seine sogenannte Ruckrede. In dieser „Berliner Rede“ vom 26. April 1997 forderte er das unter den finanziellen und psychologischen Lasten der Wiedervereinigung resignierende Deutschland auf, es solle sich durch einen Ruck von verkrusteten Strukturen befreien.
Seine wirkliche Ruckrede, die die Öffentlichkeit erschütterte und die bis heute aufwühlt, wenn man sie noch einmal nachliest, hielt Roman Herzog aber mehr als ein Jahr früher. Am 19. Januar 1996 begründete er im Deutschen Bundestag, weshalb er zwei Wochen zuvor, am 3. Januar, den 27. Januar zum Gedenktag an die Opfer des Nationalsozialismus proklamiert hatte.
Das ist die Rede, mit der Roman Herzog nicht nur in die deutschen Geschichtsbücher eingehen wird. Im Jahr 2005 erklärten die Vereinten Nationen das Befreiungsdatum zum Internationalen Tag des Gedenkens an die Opfer des Holocaust.
Am 27. Januar 1945 hatte die Rote Armee auf ihrem Vormarsch nach Berlin das Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau erreicht, ohne zu wissen, was sie in dem weiträumigen, von Stacheldraht eingezäunten, Komplex erwartete. Völlig verhungerte, verhärmte, zum Skelett abgemagerte Frauen, Männer und Kinder starrten die unbekannten Soldaten durch den Todeszaun voller Angst an.
Sie wussten ja nicht, nach Monaten und Jahren furchtbarer Qualen, was kommen würde – und die jungen Soldaten wussten nicht, dass sie gerade im Begriff waren, dem Inferno auf Erden ein Ende zu setzen, einer von den Nazis entfesselten, höllischen Vernichtungsmaschine die letzten Opfer zu entreißen.
„Kenntnis der Anfänge, die oft im Kleinen, im Banalen liegen können“
Die letzten Opfer – erst später erfuhr die Welt, dass allein in Auschwitz 1,1 Millionen Menschen umgebracht worden waren. Eine Million davon Juden aus ganz Europa, 70.000 Polen, 21.000 Roma, 14.000 sowjetische Kriegsgefangene, 10.000 Tschechen, Belarussen, letzte Überlebende aus ganz Osteuropa. Rund 7000 Gefangene waren noch am Leben. Ein russischer Kameramann sagte angesichts der Berge von Leichen, es sei das Schrecklichste, was er während des ganzen Krieges gesehen habe.
Roman Herzog hat vor 24 Jahren geradezu seherisch erkannt, und er sagte es auch in seiner Bundestagsrede, dass die entscheidende Aufgabe es heute sei, „eine Wiederholung – wo und in welcher Form auch immer – zu vermeiden. Dazu gehört beides. Die Kenntnis der Folgen von Rassismus und Totalitarismus und die Kenntnis der Anfänge, die oft im Kleinen, ja sogar im Banalen liegen können“.
Erinnern, zu welch perfider Niedertracht Menschen fähig sind
Die Wahl des Datums war für Roman Herzog ein unmissverständliches Signal. In Auschwitz hatten die Nationalsozialisten zu Ende geführt, was schon lange vor den Übergriffen auf jüdisches Eigentum und jüdische Mitbürger in der Pogromnacht des Jahres 1938 begonnen hatte, und was seit der Wannseekonferenz vom 20. Januar 1942 zur „Endlösung der Judenfrage“ bürokratisch festgelegt worden war.
Und in der Organisation auch des Massenmordes entwickelten die deutschen Dämonen des sogenannten Dritten Reiches eine diabolische Konsequenz. Daran zu erinnern, zu welch perfider Niedertracht Menschen fähig sind, ist dieser 27. Januar das eindrücklichste Datum. Es geht nicht darum, den Deutschen einen Schuldkomplex einzureden, wie von der politischen Rechten immer wieder suggeriert wird. Was zwischen 1933 und 1945 geschah, ist kein Vogelschiss, sondern der tiefste moralische Absturz einer Kulturnation, den es jemals gegeben hat.
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Und leider werden jene Kräfte wieder stark, die das alles zu relativieren suchen, mehr noch, die Zweifel säen, ob der – angeblich nur behauptete – Zivilisationsbruch jemals stattgefunden hat. In den deutschen Gedenkstätten, wo an die Schrecken des Nationalsozialismus erinnert wird, in den ehemaligen Konzentrationslagern, treten zunehmend vor allem jüngere Besucher in der Attitüde des zweifelnden, untadeligen Deutschen auf, die vornehmlich unbefangen, tatsächlich aber vor einem perfiden Hintergrund fragen, ob das denn alles wirklich stimme, das mit den Gaskammern.
Wir müssen denen zuhören, von denen nichts blieb als ihr Name
Das funktioniere ja schon rein technisch nicht, und müsse somit alles erlogen sein ... behaupten sie an den Orten, wo so viele Menschen, die den Anhängern der Nazi-Ideologie nicht passten – das waren auch politische Gefangene, Zeugen Jehovas, Sinti und Roma, Homosexuelle, Menschen mit Behinderungen und weitere Gruppen –, kaserniert, gefoltert und umgebracht worden sind.
Aber wir müssen den Hunderttausenden zuhören, von denen nichts blieb als ihr Name. Wir tun es, wenn wir die Stolpersteine betrachten, die in unseren Städten und Dörfern an Mitbürgerinnen und Mitbürger erinnern, die aus rassischen, religiösen, politischen und anderen Gründen umgebracht wurden.
Denn wer vergisst und die Erinnerung verweigert, der tötet ein zweites Mal – wirklich tot ist nur, wenn keiner mehr da ist, der sich an ihn erinnern kann und mag. Der 27. Januar ist der Tag, wenigstens dieser eine Tag, den wir der Erinnerung geben müssen – damit so etwas nie wieder geschieht.