Lebensgefährlicher Straßenverkehr: Wer Sicherheit für Radfahrer will, muss die Perspektive wechseln
Es würden weniger Radfahrer sterben, wenn Sicherheit aus ihrem Blickwinkel betrachtet würde – und nicht aus dem Auto heraus. Eine Kolumne.
Neulich habe ich einen Bekannten gefragt, warum er keinen Fahrradhelm trage, obwohl er auf das Auto verzichte und sich für die Rechte der Radfahrer einsetze. Er sagte: „Weil sich mit Helm das Gefühl verfestigt, dass Radfahren unsicher ist.“ Diese Antwort habe ich nicht erwartet. Ich dachte eher daran, dass ein Helm uncool aussieht und nichts bringt.
Ich dachte über Sicherheit im Straßenverkehr nach und erinnerte mich an meinen Vater, wie er fluchte, als 1976 in Deutschland die Gurtpflicht gesetzlich eingeführt wurde. Ich war sieben Jahre alt und verstand nicht, wieso es ihn und viele Bekannte so aufregte.
Ich erinnerte mich, wie wir uns 1985 auch auf der Rückbank anschnallen mussten. Da war ich 16, und diesmal verstand ich die Aufregung. Ich fühlte mich in meiner Freiheit eingeschränkt, selbst zu entscheiden, ob ich mich anschnallen wollte. Und es nervte mich, dass ich ständig dazu ermahnt wurde.
Der Gurt verwies auf die Gefährlichkeit
Meine Anschnall-Aversion war damals gar nicht so ungewöhnlich. Die Gurtpflicht löste in Deutschland eine rational unerklärliche Empörung aus. Weil die Verantwortlichen im Bundesverkehrsministerium sich das auch nicht erklären konnten, beauftragten sie eine Studie.
Das Ergebnis war verblüffend, die Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen fanden heraus, „dass der Sicherheitsgurt primär mit den Gefahren eines Unfalls und seinen Folgen assoziiert wird und erst sekundär mit seiner eigentlichen technischen Funktion, nämlich vor diesen Gefahren zu schützen“. Einerseits war klar, dass sie mit Gurt sicherer fahren, aber er demonstriert auch, dass man beim Autofahren ständig in Gefahr ist. Bis ich das Paradoxon verstanden habe, musste ich einige gedankliche Schleifen in meinem Kopf drehen.
Schlagartig wurde mir klar, dass sich lange Zeit nichts an der Sicherheit der Radfahrer ändern wird. Die politischen Verkehrsplaner wollen deren Leben retten, indem sie den Abbiegeassistenten für Lkw nicht gesetzlich vorschreiben, indem sie keine gesicherten Radwege bauen und es dabei bleibt, dass auf den Straßen das Recht des Stärkeren gilt.
Radfahrer und Fußgänger sollen sich weiter unsicher fühlen und für jeden Autofahrer, jeden Lkw-Fahrer, jeden Motorradfahrer, jeden Rollerfahrer und neuerdings auch jeden E-Scooter-Fahrer mitdenken müssen, um zu überleben.
Radfahrtote werden mehr, tote Autofahrer weniger
Ich sitze psychologisch in der Klemme. Einerseits möchte ich mir mein Recht als Radfahrerin auf der Straße nicht nehmen lassen, andrerseits verzichte ich bei jeder brenzligen Situation auf mein Recht. Und die Meldung, dass in Deutschland die Zahl der toten Radfahrer im ersten Halbjahr 2019 um elf Prozent gestiegen ist, nährt mein Unsicherheitsgefühl aufs Neue. Die Zahl der getöteten Autofahrer ging übrigens um fünf Prozent zurück.
Verstehen Sie mich bitte nicht falsch, Verkehrstote gegeneinander aufzurechnen, empfinde ich als pietätlos und ist nicht meine Absicht. Aber vielleicht können die Zahlen dazu beitragen, eine wichtige Schlussfolgerung zu ziehen: Offenbar sinkt die Zahl der toten Autofahrer, wenn Sicherheit aus dem Auto heraus beschlossen wird. Anschnallpflicht, Airbag, 30er-Zonen, Handyverbot am Steuer haben dafür gesorgt, dass weniger Autofahrer sterben.
Der Umkehrschluss wäre also, dass weniger Radfahrer sterben würden, wenn Sicherheit aus ihrem Blickwinkel betrachtet würde und nicht aus dem Auto heraus. Niemanden lassen die Toten kalt, weder vor noch in dem Auto. Deshalb kann es nur ein Ziel geben: ein Straßenverkehr, in dem niemand sterben muss, weil sich alle gleich sicher fühlen können.
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